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POLITIK/786: Was tun, wenn Brüssel an Menschen und Tieren vorbeiregiert? (PROVIEH)


PROVIEH MAGAZIN - Ausgabe 2/2016
Magazin des Vereins gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.

Was tun, wenn Brüssel an Menschen und Tieren vorbeiregiert?

Von Sabine Ohm


Die Eurobarometer-Umfragen der letzten Jahre belegen ein ums andere Mal, dass eine überwältigende Mehrheit der Menschen in der Europäischen Union (EU) gegen Klonen und Gentechnik in der Nahrungsmittelerzeugung ist. Trotzdem blockiert die EU-Kommission ein umfassendes Klonnutzungs- und -importverbot (siehe Heft 2/2014 und 2/2015). Außerdem lässt sie die Einfuhr immer neuer gentechnisch veränderter Futter- und Nahrungsmittel zu, deren Langzeitfolgen noch nicht erforscht sind. Die EU hat durch ein neues Gesetz sogar den Weg frei gemacht für den Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen (GVO), die gegen Schädlinge und/oder Pflanzenschutzmittel resistent sind. Dabei sind verheerende Auswirkungen zum Beispiel für die Artenvielfalt und durch die Entstehung unkontrollierbarer Superunkräuter längst bekannt.


Im Zeichen des Freihandels

Diese EU-Politik scheint vorauseilender Gehorsam gegenüber dem wichtigen Handelspartner USA zu sein, der nichts für unsere Art von Tier-, Umwelt- und Verbraucherschutz übrig hat. Die USA wollen künftig ihre Gen-, Klonund Hormonprodukte ungehindert und vor allem ungekennzeichnet in die EU exportieren, mit Hilfe des geplanten Wirtschafts- und Freihandelsabkommens zwischen der EU und den USA (TTIP). Schon vorher werden sie versuchen, über die Hintertür ihre Ziele zu erreichen durch das bereits abgeschlossene aber noch nicht ratifizierte Abkommen mit Kanada (CETA). Denn die meisten US-Konzerne haben Tochtergesellschaften in Kanada, über die sie ihre Klagen und "Schadenersatzforderungen" - zum Beispiel aufgrund von Verkaufseinbrüchen bei strengeren Etikettierungspflichten - geltend machen können.

CETA und TTIP würden eine enorme Aushöhlung unserer Standards und die Aushebelung unserer Demokratie und Gerichtsbarkeit mit sich bringen (PROVIEH berichtete). Dies geht eindeutiger denn je aus den Ende April 2016 von Greenpeace Niederlande veröffentlichten, bisher streng geheim gehaltenen TTIP-Verhandlungspositionen hervor. Die EU betreibt ganz offensichtlich - mit Unterstützung der deutschen Bundesregierung - hinter verschlossenen Türen den Ausverkauf unserer Werte und Verfassungsrechte zugunsten der Industrielobbyinteressen. Nur ein Beispiel von vielen: Union und SPD haben die im Koalitionsvertrag vereinbarte Kennzeichnung von Lebensmitteln aus Tieren, die mit GVO gefüttert wurden, stillschweigend beerdigt, um TTIP nicht zu gefährden.

Ethik oder Tierschutzerwägungen lassen Kanadier und Amerikaner auch nicht gelten. Dort gibt es noch nicht einmal Tierschutzgesetze. Sie pochen stattdessen auf "wissenschaftliche Beweise", schlampen in ihren eigenen Zulassungsverfahren aber offenbar in erschreckender Weise. Für die Zulassungsstudie von RoundUp-Ready wurde diese Gen-Sojasorte im Auftrag von Patentinhaber Monsanto im Gewächshaus angebaut - ohne jede Behandlung mit dem Unkrautvernichtungsmittel Glyphosat. Die RoundUp-Ready Soja wurde aber extra durch gentechnische Veränderung gegen das glyphosathaltige Totalherbizid Round-Up (ebenfalls von Monsanto) resistent gemacht. Der kurze Fütterungsversuch mit der ungespritzten Gensoja an Mäusen ergab keine Probleme. Bei Wiederholung mit praxisüblichem Glyphosateinsatz an einer französischen Universität bekamen die Mäuse allerdings verschiedene Organschäden und Fruchtbarkeitsstörungen. Glyphosat wurde 2015 zudem von der Weltgesundheitsorganisation als wahrscheinlich krebserregend eingestuft und Wissenschaftler wiesen Erbgutschädigung durch Glyphosat nach. All dies änderte in den USA aber nichts an der Zulassung von Glyphosat (Round-Up) sowie der dazugehörigen Gen-Soja (Round-Up Ready). Die EU-Kommission wollte die uneingeschränkte Vermarktungsgenehmigung für Glyphosat gleich um 15 Jahre verlängern, sah sich aufgrund massiver Proteste aus der Zivilgesellschaft (vor allem in Deutschland) aber gezwungen, die Entscheidung mehrfach zu verschieben.

Ganz Europa würde durch CETA und TTIP dem Diktat der Konzerninteressen unterworfen, also Gewinnmaximierungsbestrebungen, liberalisierten Märkten und Wirtschaftsmacht ohne lästige gesetzliche Einschränkungen wie Umwelt-, Verbraucher- oder Tierschutz.


Mehr Tierwohl gefordert

Aber gerade das Tierwohl ist den Menschen in Deutschland (siehe Infobox) und der gesamten EU ein wichtiges Anliegen. Die jüngste Eurobarometer-Umfrage zu diesem Thema von Ende 2015 mit über 1.500 Befragten allein in Deutschland ergab, dass mit 94 Prozent eine überwältigende Mehrheit das Tierwohl in der "Nutz"tierhaltung wichtig findet. 82 Prozent der Europäer wollen außerdem mehr Tierwohl für landwirtschaftliche "Nutz"tiere in ihrem Land - das sind fünf Prozent mehr als in der vorigen Umfrage (2006).

Ebenfalls 82 Prozent fordern, dass Importware die gleichen EU-Tierwohlstandards einhalten muss wie heimische Erzeugnisse - eine Forderung, die auch PROVIEH seit langem an die Politik stellt. Über die Hälfte der Befragten möchte, dass die EU selbst die Garantie für die Einhaltung der Standards durch Zertifizierung im EU-Ausland ("Drittländern") übernimmt. Mit den gerade mal fünf Inspektoren, die für die Überprüfung der Einhaltung von Tierwohl-Standards in der gesamten EU zuständig sind, wird dies allerdings niemals möglich sein. Die höchst dürftige Ausstattung der EU-Kontrolleure behindert seit vielen Jahren die wirksame Durchsetzung der Tierwohlvorschriften in der EU. Deutschland könnte und müsste sich als größter Nettozahler der EU (mit erheblichem Stimmrecht) für eine umfangreiche Aufstockung des Personals und des Budgets für mehr und bessere Kontrollen einsetzen sowie schärfere Sanktionen bei verstößen einfordern.


Untätigkeit der Kommission

Die EU-Kommission will sich nach eigenen Angaben in dieser Legislaturperiode einzig auf den Vollzug bestehender Gesetze konzentrieren, also weder neue Vorschriften erlassen, noch bestehende verschärfen - trotz der Ende 2014 von den Landwirtschaftsministern Deutschlands, Dänemarks und der Niederlande formulierten Forderung nach Verbesserungen. Darunter fällt auch die Reform der völlig unzulänglichen EU-Transportverordnung von 2005. Sie regelt die Bedingungen für die jährlich etwa eine Milliarde Geflügel und 83 Millionen (teilweise mehrtägig) transportierten Säugetiere Die Lebendtierexporte aus der EU haben sich in den vergangenen zehn Jahren verdoppelt. Ungeachtet der vielen dokumentierten Tierschutzverstöße will die EU aber nicht einmal über die Beschränkung der maximalen Transportzeit auf acht Stunden diskutieren - trotz der von PROVIEH unterstützten Petition mit über 1,1 Millionen Unterzeichnern aus sieben EU Ländern (vgl. Heft 3/2012). Aber auch hier muss die Bundesregierung nicht auf EU-Entscheidungen warten. Deutschland kann die Transportzeit für alle inländischen und ins Ausland führenden Transporte auf acht Stunden begrenzen. Dänemark tat dies für Schlachtschweine bereits vor Jahren.


Es gibt Handlungsspielraum in Deutschland

Sechs von zehn Eurobarometer-Umfrageteilnehmern würden Preisaufschläge zwischen fünf und 20 Prozent für höheres Tierwohl in Kauf nehmen. Allein, es fehlt am nötigen Angebot und ausreichender Transparenz. Knapp die Hälfte der Befragten moniert mangelnde Wahlmöglichkeiten, neun Prozent mehr als 2006. PROVIEH fordert deshalb schon lange eine verpflichtende umfassende Herkunftslandund Haltungskennzeichnung aller tierischen Erzeugnisse analog zur Eierkennzeichnung (0, 1, 2 oder 3) sowie mehr Förderung für tiergerechtere Haltungsformen.

Die privatwirtschaftliche Initiative Tierwohl (ITW), die PROVIEH ursprünglich mitkonzipierte, ist - wie die Praxis gezeigt hat - der Aufgabe offensichtlich nicht gewachsen, den Umstieg auf tierfreundliche Haltungsverfahren in größerem Umfang zu finanzieren (siehe Bericht in diesem Heft). Daher müsste aus Sicht von PROVIEH das Tierwohl viel mehr staatlich gefördert werden. Die General-Direktion Landwirtschaft der Kommission hat immerhin den Weg für die Förderung dieses Kupierverzichts und andere Tierwohlmaßnahmen geebnet. Um diese Möglichkeiten zu nutzen, müsste Deutschland aber viel mehr Agrargelder als bisher dafür bereitstellen, also von den Flächenprämien in die 2. Säule umschichten. Mittelfristig schlägt PROVIEH die Einführung einer Tierwohlabgabe auf Fleisch vor. Unsere Vorschläge werden inzwischen in höchsten politischen Kreisen diskutiert.


Erfolgsmodell Ausstieg aus der Ferkelkastration

Wenn Deutschland in Sachen Tierschutz vorangeht, könnte Europa bald folgen, weil sonst der "einheitliche EU-Binnenmarkt" darunter leiden könnte. Bestes Beispiel hierfür ist die Abschaffung der betäubungslosen Ferkelkastration: Dank der starken Kampagne von PROVIEH ab 2008 und dem darauf folgenden Vormarsch der Jungebermast in Deutschland wurde 2010 die Brüsseler Erklärung zum Verzicht auf die betäubungslose Ferkelkastration von fast allen wichtigen Branchenteilnehmern in der EU unterzeichnet. Die deutsche Gesetzesänderung mit dem Verbot ab 2019 und die freiwilligen Verzichtserklärungen schon ab 2017 seitens einiger großer Supermarktketten in Deutschland (wie REWE, ALDI und Kaufland) werden ein Übriges dazu beitragen, dass die betäubungslose Kastration in Europa bald Geschichte sein wird. Auf diesen Erfolg sind wir stolz, und er spornt uns zu weiteren Taten an.

In vielen Bereichen gehört Deutschland zu den größten Erzeugern und/oder Konsumenten tierischer Erzeugnisse. Wir haben also Vorbildcharakter und enorme Marktmacht, die wir nutzen können, statt auf Vorgaben aus Brüssel zu warten.

Unsere Devise bleibt daher "Klasse statt Masse" voranzubringen, durch die konsequente Umsetzung der höheren gesellschaftlichen Anforderungen an das Tierwohl in der "Nutz"tierhaltung. Dazu werden wir unsere Aufklärungs-, Kampagnen- und Überzeugungsarbeit auf allen Ebenen vorantreiben. Unsere Arbeit ist möglich dank unserer Mitglieder und Förderer, denen wir nicht genug für ihr Vertrauen und ihre Unterstützung danken können.


INFOBOX

Bei einer 2015 im Auftrag des Bundesverbands der Verbraucherzentrale durchgeführten repräsentativen Umfrage in Deutschland stuften 55 Prozent der 1.000 Befragten "landwirtschaftliche Nutztiere artgerecht halten" für sich als persönlich sehr wichtig ein. Knapp zwei Drittel finden den Umgang mit landwirtschaftlichen Nutztieren hierzulande "nicht gut genug" und verlangen nach strengeren Gesetzen - bezeichnenderweise insbesondere auch diejenigen Befragten, die Landwirte und deren Arbeitsweise aus direkt-persönlichen Kontakten kennen.

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Quelle:
PROVIEH MAGAZIN - Ausgabe 2/2016, Seite 38-41
Herausgeber: PROVIEH - Verein gegen
tierquälerische Massentierhaltung e.V.
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PROVIEH erscheint viermal jährlich.


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. August 2016

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