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POLITIK/548: Protektionismus statt Tierschutz (PROVIEH)


PROVIEH Heft 4 - Dezember 2009
Magazin des Vereins gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.

Protektionismus statt Tierschutz
Wie Deutschland die Abschaffung der Ferkelkastration in Dänemark stoppte

Von Stefan Johnigk


Männliche Schweine unkastriert aufzuziehen ist besser für die Bauern und weniger schmerzhaft für die Schweine. Das sehen nicht nur Nutztierschützer wie wir von PROVIEH so. Dänische Schweinefleischerzeuger waren bereits vor 20 Jahren zu dieser Erkenntnis gelangt. Ende der 80er Jahre verzichteten sie auf die schmerzhafte Prozedur, männlichen Ferkeln vor der Mast die Hoden herauszuschneiden.

Sie mästeten fortan unkastriert und das mit Erfolg. Das Fleisch der unkastrierten jungen männlichen Schweine (Jungeber) erwies sich als deutlich fettärmer und muskulöser als Kastratenfleisch. Die deutschen Handelspartner honorierten das. So stieg der gesamte Absatz von dänischem Schweinefleisch in Deutschland seit Beginn des Kastrationsverzichts im Jahr 1989 von 90.000 Tonnen auf 250.000 Tonnen in 1993.

Die dänischen Schweineproduzenten waren sich bewusst, mit dem Verzicht auf die Kastration Neuland zu betreten. Sie wollten auf keinen Fall Reklamationen von ihren deutschen Kunden erhalten. Daher testeten sie ihr Schweinefleisch freiwillig und mit ziemlichem Aufwand auf mögliche Geruchsauffälligkeiten, um eine einwandfreie Qualität sicher zu stellen. Fleisch mit so genanntem Ebergeruch wurde verarbeitet, wobei der Geruch rückstandsfrei verflog und es bestens für den Verzehr geeignet wurde. Unauffälliges Fleisch wurde frisch vermarktet und kam als Kotelett, Filet oder Schnitzel in den Handel.

Einkäufer aus Deutschland besuchten die dänischen Schlachthöfe, um sich persönlich zu vergewissern, wie wirksam die Geruchstests waren und ob alle Vorschriften des EU-Gemeinschaftsrechts eingehalten wurden. Kein Abnehmer aus dem deutschen Lebensmitteleinzelhandel äußerte Vorbehalte gegenüber dem Jungeberfleisch aus Dänemark. Auch die Kunden in der deutschen Fleischverarbeitungsindustrie hatten keinerlei Bedenken. Das magere Fleisch lag voll im Trend. Alle freuten sich über die hervorragende Qualität, die aus einer so einfachen Tierschutzmaßnahme wie dem Kastrationsverzicht resultierte.

Anders die deutschen Behörden. Sie witterten im wirtschaftlichen Erfolg der dänischen Tierschutzmaßnahme eine Gefahr für die deutsche Schweineindustrie. Nun wäre es nahe liegend gewesen, das Erfolgsrezept der nördlichen Nachbarn einfach zu kopieren und in Deutschland für eine Abschaffung der Kastration zu sorgen. Auch die Niederländer zeigten sich an der Übernahme des dänischen Verfahrens hochgradig interessiert. Doch die deutschen Beamten unter Bundeslandwirtschaftsminister Kiechle setzten auf Protektionismus. Sie beschlossen, der Vermarktung von dänischem Fleisch unkastrierter männlicher Schweine fortan "jedes erdenkliche Hindernis in den Weg" zu legen.


Feldzug für Ferkelkastration

Ein regelrechter Feldzug gegen das Fleisch unkastrierter männlicher Schweine aus Dänemark wurde eingeleitet. Schon im Herbst 1992 stellten die deutschen Behörden ihr "Maßnahmenpaket" vor. Zur Geheimwaffe im Handelskrieg avancierte ein modifizierter immunologischer Enzymtest nach Prof. Claus. Damit können selbst geringste Konzentrationen des Sexualpheromons Androstenon im Fleisch bestimmt werden. Dieser an sich harmlose Duftstoff, der auch bei Männern vorkommt, wird von einigen Menschen als unangenehm empfunden. Viele andere wiederum können ihn nicht einmal wahrnehmen.

Je älter ein geschlechtsreifes unkastriertes männliches Schwein wird, umso stärker reichert sich dieser Männlichkeitsgeruch in seinem Fettgewebe an, und zwar unabhängig vom Körpergewicht. Wird das Fett über 60° C erhitzt, zum Beispiel beim Braten, entweicht das Androstenon in einem Schwall. Alte Zuchteber enthalten viel Androstenon und können sehr maskulin stinken. Unkastrierte Mastschweine dagegen werden so jung geschlachtet, dass sie in den seltensten Fällen bereits nach Eber riechen. Daher unterscheidet man im EU-Verständnis auch das "Eberfleisch" alter Zuchttiere ganz klar vom Fleisch unkastrierter männlicher Mastschweine, den Jungebern.


Geheimwaffe Pheromontest

Die deutschen Behörden hatten mit dem Androstenon-Nachweis eine wirksame Waffe gefunden, um dänisches Jungeberfleisch gegenüber deutschem Kastratenfleisch zu diskriminieren. Denn die Dänen konzentrierten ihre Geruchsproben am Schlachthof nicht auf Androstenon, sondern auf das Skatol. Das ist eine andere Geruchskomponente des so genannten "Ebergeruchs", die auch bei Sauen vorkommt. Skatol entsteht bei der Verdauung der Aminosäure Tryptophan, einem Eiweißbaustein. Mästet man Schweine intensiv mit einweißreichem Kraftfutter, kann sich das Skatol im Fettgewebe anreichern und beim Erhitzen des Fleisches frei werden. Fleischesser kennen seinen charakteristischen Geruch vom Toilettenbesuch am Tag nach einem ausgiebigen Grillfest. Skatol ist ein Hauptbestandteil im Güllegestank und wird von allen Menschen als eklig empfunden.


Geruchserkennung am Schlachthof

Der dänische Test auf Skatol war erfolgreich. Schon 1992 nahm der deutsche Handel über 40.000 Tonnen derart getestetes Schweinefleisch ab, ohne dass es auch nur die geringste qualitative Beanstandung gab. Das stank den deutschen Protektionisten. Sie ignorierten die dänischen Geruchstests und legten per Beschluss einen Androstenongehalt von 0,5 Fett als Grenzwert fest. Wieso dieser Grenzwert gewählt wurde und kein anderer, entzieht sich der wissenschaftlichen Logik. Ein signifikanter Zusammenhang mit dem tatsächlichen Geruchsempfinden der Verbraucher wurde nicht überprüft und weitere aktive Substanzen des "Ebergeruchs" wurden außer Acht gelassen. Um aber nachzuweisen, ob das Fleisch von unkastrierten männlichen Tieren stammte, eignete sich der Test vorzüglich.

Ab sofort galt selbst Fleisch mit einwandfreier Geruchsqualität im dänisch-deutschen Schweinehandel als anrüchig. Dänische Fleischlieferungen wurden bei deutschen Abnehmern beschlagnahmt und auf Androstenon beprobt. Per Definition des Bundesministers für Gesundheit galt Frischfleisch mit einem Andronstenongehalt oberhalb des deutschen Grenzwertes "als mit einem starken Geschlechtsgeruch belastet". Nach Auffassung der Bundesregierung war es damit für den menschlichen Verzehr untauglich. Tonnenweise einwandfreies, hochwertiges Fleisch wurde an der Grenze zurückgewiesen.

Wer nun daran dachte, das von den Kontrolleuren zurückgewiesene Frischfleisch dann eben zu Wurst zu verarbeiten und das Androstenon damit zu entfernen, kennt die deutschen Behörden schlecht. Einmal beanstandetes Fleisch weiter zu verarbeiten und wieder zu verkaufen gilt als Straftat. Jungeberfleisch wurde wie Gammelfleisch behandelt, um den deutschen Markt für fettes Kastratenfleisch zu schützen.


Die Angst vor der Presse siegt

Der Appetit des deutschen Handels auf dänisches Jungeberfleisch verging den deutschen Behörden trotz der Pheromonkontrollen offenbar nicht schnell genug. 1993/94 drohten sie den Dänen schriftlich, mit einer Medienkampagne die deutsche Öffentlichkeit "über die dänischen Praktiken" und das angeblich stinkende dänische "Eberfleisch" aufzuklären. Die Angst vor Schlagzeilen wie "XYZ vertreibt tonnenweise genussuntaugliches Schweinefleisch" in Kombination mit den Kontrollen wirkte. Aus Sorge um seinen Ruf verlangte der deutsche Lebensmitteleinzelhandel nach und nach von seinen dänischen Lieferanten, dass künftig kein Fleisch von unkastrierten männlichen Tieren in den Lieferungen enthalten sein dürfe. Die Dänen exportieren fast 30 % ihrer Schweinefleischproduktion nach Deutschland. Um diesen Markt nicht zu verlieren, gaben die Schweineproduzenten nach und griffen wieder zum Skalpell. Das dänische Experiment "Jungebermast" war an deutscher Starrsinnigkeit gescheitert. Millionen Ferkel mussten wieder schmerzvoll ihre Hoden lassen.

Doch die deutschen Behörden hatten im Eifer ihres Handelskrieges ganz vergessen, die EU-Frischfleischrichtlinie aus dem Jahr 1991 zu beachten. Diese besagt nämlich, dass Fleisch unkastrierter männlicher Schweine nicht als genussuntauglich verworfen werden darf, wenn es einem geeigneten Geruchstest im Ursprungsland unterzogen wurde. Die Dänen aber testeten erfolgreich auf Geruch. Die zusätzlichen Pheromonkontrollen der Deutschen kamen in ihrer Wirkung einem Importverbot gleich und waren unrechtmäßig. Die EU-Kommission klagte. Am 12.11.1998 stellte der Europäische Gerichtshof fest, dass die Bundesregierung gegen geltende EU-Verträge verstoßen hat (Rs. C-102/96).

Die deutsche Sturheit hat nicht nur dem Tierschutz geschadet. Der Branchenverband der dänischen Schlachthofgesellschaften und Schweinehalter (Danske Slagterier) verklagte die deutsche Bundesregierung auf Schadensersatz in dreistelliger Millionenhöhe. Nach einem langen Weg durch verschiedene gerichtliche Instanzen ist mittlerweile unstrittig, dass den Dänen tatsächlich ein Schaden durch den Protektionismus der Bundesregierung entstanden ist. Wie hoch dieser ist, soll nun ab dem 26.11.09 vor dem Oberlandesgericht in Köln geklärt werden. Letztlich wird der Steuerzahler für die Schadensersatzansprüche aufkommen müssen. Diese Mittel werden an anderer Stelle bitter in der Steuerkasse fehlen, nicht nur bei Ausgaben für den Tierschutz.


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Quelle:
PROVIEH Heft 4, Dezember, 2009, Seite 19-19
Herausgeber: PROVIEH - Verein gegen tierquälerische Massentierhaltung e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 15. Januar 2010