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POLITIK/529: Tierschutzpolitik in Hessen (tierrechte)


tierrechte Nr. 49, August 2009
Menschen für Tierrechte - Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.

Tierschutzpolitik in Hessen - Interview mit der Landestierschutzbeauftragten


Dr. Madeleine Martin ist Landestierschutzbeauftragte im Hessischen Ministerium für Umwelt, Energie, Landwirtschaft und Verbraucherschutz. Ihr Ziel sind grundsätzliche Verbesserungen im Tierschutz, gesellschaftliche Veränderungen und politische Weichenstellungen. tierrechte sprach mit der Tierärztin, die die Tätigkeit im Ministerium mit großem persönlichen Engagement ausübt.


TIERRECHTE: Frau Dr. Martin, Sie sind Landestierschutzbeauftragte im hessischen Landwirtschaftsministerium. In diesem Ministerium werden Entscheidungen getroffen, die den Tierschutz in Hessen betreffen. Für etliche Bereiche wie z. B. die Änderung des Tierschutzgesetzes ist jedoch der Bund zuständig. Welche Gebiete können auf Landesebene gestaltet werden?

MADELEINE MARTIN: Direkt auf Landesebene können nur die Gebiete geregelt werden, die weder der Bund noch die EU geregelt haben. Es kann z. B. der Paragraf 2 des Tierschutzgesetzes, der eine artgerechte Haltung vorschreibt, in den Fällen, in denen es noch keine Konkretisierung vom Bund gibt, aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse umgesetzt werden. Auf diesem Wege wurden in Hessen z.B. die Anbindehaltung von Pferden oder auch der sogenannte Kuhtrainer [*] untersagt. Der Paragraf 11b des Tierschutzgesetzes über Qualzucht wurde über einen Erlass so geklärt, dass die zuständigen Behörden ihn praktisch vollziehen können. Es wurden konkrete Merkmale aufgelistet und die Zucht mit Tieren, die diese Merkmale zeigen, verboten. Dazu gehören z.B. Haubenenten, bei denen die Federhaube auf dem Kopf häufig mit Schädeldeformationen gekoppelt ist.

Leider sind die Spielräume, direkte Verbesserungen im Tierschutz auf Landesebene einzuführen, sehr klein. Deshalb kommt dem Vollzug bzw. der Durchsetzung von Bundesvorschriften eine besondere Bedeutung zu. Leider ist genau dieser Bereich u. a. durch die unzureichende personelle Ausstattung, aber auch durch die Kommunalisierung der Veterinärämter in Hessen, schlechter geworden.

TIERRECHTE: Welche Möglichkeiten gibt es außerdem, auf welche Weise kann z. B. ein Bundesland die Politik auf Bundesebene mitgestalten?

MADELEINE MARTIN: Natürlich kann ein Bundesland über den Bundesrat versuchen, Tierschutzvorschriften zu verbessern. Das hat Hessen auf meine Initiative in verschiedenen Bereichen auch probiert und so z. B. ein Verbot bestimmter Wildtiere im Zirkus, ein Verbot der Pelztierhaltung in Käfigen, die Änderung des Schächtparagrafen oder ein klares, EU-weites Verbot der Patentierung von Tieren angestrebt.

In diesen Verfahren sind aber letztlich die Hürden hoch: Man muss eine Mehrheit im Bundesrat finden UND den Gesetzgeber überzeugen, den Bundesratsbeschluss auch umzusetzen. Im Falle der Pelztiere, der Zirkustiere und des Schächtens erhielt Hessen jedes Mal eine Mehrheit im Bundesrat, aber der Gesetzgeber setzte den Beschluss nicht richtig um, wie bei den Pelztieren, oder bis heute gar nicht, wie bei den Zirkustieren und beim Schächten. Im Falle der Patentierung scheiterte unser Anliegen bereits in den Bundesratsausschüssen. Der Antrag wurde auf unbestimmte Zeit vertagt.

TIERRECHTE: Wie nehmen Sie das Interesse der Politiker an Tierschutzthemen wahr?

MADELEINE MARTIN: Offen gestanden ist das Interesse vieler Politiker am Tierschutz äußerst gering. Es finden sich aber -Gott sei Dank - dann doch wieder Einzelne, die Tierschutz als gesellschaftspolitisches Thema ernst nehmen.

TIERRECHTE: Welche Rolle spielen Tierschutzverbände in der Tierschutzpolitik? Welche Aktionen sind sinnvoll, welche nicht?

MADELEINE MARTIN: So wie es nicht die Politiker gibt, gibt es auch nicht die Tierschutzorganisationen. Sachkundig arbeitende Verbände werden ernst genommen. An der Größe liegt es nicht. Die Frage, welche Aktionen sinnvoll sind, lässt sich leider nicht pauschal beantworten, sondern ist von Fall zu Fall und von Thema zu Thema verschieden. Immer ist aber wichtig, dass Politiker merken, dass die Menschen hinter einer Sache stehen und dass ein gewisser Druck erzeugt wird.

TIERRECHTE: Wie ist nach Ihrer Erfahrung das Interesse der Bevölkerung an Tierschutzthemen? Sind Ihnen Themen präsent, die viel Beachtung hervorrufen?

MADELEINE MARTIN: Das Interesse an Tierschutzthemen ist in der Bevölkerung sehr groß. Das Thema Tiertransporte ist präsent, die Legehennenhaltung - hier führte ja tatsächlich die Kaufentscheidung der Bürger zum Umdenken der Firmen -, aber auch Qualzucht oder Schächten sind Themen, die Bürger und Bürgerinnen bewegen.

TIERRECHTE: Was wäre nötig, damit aus dem Interesse und der Anteilnahme der Menschen an den Tieren Handlungskonsequenzen im täglichen Leben, z. B. beim Einkaufen, folgen und welchen Beitrag kann die Politik hierzu leisten?

MADELEINE MARTIN: Um das tägliche Handeln bzw. die Kaufentscheidung zu beeinflussen, bedarf es erstens ständiger Aufklärung, am besten in zeitgerechter Form, also auch als Werbespots in Radio, TV und Kino. Und zweitens ist größere Ehrlichkeit in der Politik nötig. Wer heute behauptet, unsere gängige Tierhaltung in Intensivsystemen wäre unumgänglich, um Lebensmittel günstig produzieren zu können, nimmt nicht die gesundheitlichen Folgekosten, die z. B. durch den unverantwortlich hohen Fleischverbrauch entstehen, mit in die Rechnung. Das muss sich ändern!

TIERRECHTE: Welche Ziele möchten Sie gern für die Tiere erreichen?

MADELEINE MARTIN: Zunächst würde ich mich freuen, wenn die Initiativen bzw. Bundesratsbeschlüsse zum Verbot bestimmter Wildtiere im Zirkus und zum Schächten endlich vom Gesetzgeber aufgegriffen würden.

Kurzfristig wünsche ich mir auch ein Verbot der sexuellen Handlungen an Tieren.

EU-weit wünsche ich mir wenigstens eine zeitliche Beschränkung der Tiertransporte auf acht Stunden.

Eher mittel- oder langfristig sehe ich ein Verbot von Tierversuchen bzw. den Ersatz durch Alternativen. Hierin sind so viele Ebenen involviert, dass man wirklich nur im Schneckentempo vorankommt.


Die Fragen stellte Marion Selig.


[*] Kuhtrainer: Unter Strom stehender Metallbügel, der bei Rindern in der Anbindehaltung eingesetzt wird. Er wird wenige Zentimeter über dem höchsten Punkt des Rückens angebracht und versetzt der Kuh einen Stromschlag, wenn sie zum Abkoten den Rücken wölbt. Dadurch soll sie einige Schritte nach hinten treten und den Kot in den Kotgraben auf der Stallgasse absetzen, um damit die Sauberhaltung des Stalles zu vereinfachen. Die Tiere kommen jedoch auch mit dem Kuhtrainer in Kontakt, wenn sie sich z. B. lecken wollen. Die ohnehin tierquälerische Anbindehaltung wird dadurch zusätzlich verschlimmert und die Kühe unterdrücken ständig natürliche Bewegungen und Verhaltensweisen.


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Quelle:
tierrechte - Nr. 49/August 2009, S. 6-7
Infodienst der Menschen für Tierrechte -
Bundesverband der Tierversuchsgegner e.V.
Roermonder Straße 4a, 52072 Aachen
Telefon: 0241/15 72 14, Fax: 0241/15 56 42
E-Mail: info@tierrechte.de
Internet: www.tierrechte.de

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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. September 2009