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KOMMENTAR/286: Sportversklavung ... (SB)



"Nach Regeln darf man weh tun, nach Regeln wird man misshandelt"
(Theodor W. Adorno / Max Horkheimer - Dialektik der Aufklärung)


Während in Frankreich die Bischöfe erstmals die institutionelle Verantwortung der Kirche für Missbrauchsfälle anerkennen und von einer "systemischen Dimension", bedingt durch die Abläufe, Mentalitäten und die Praxis in der katholischen Kirche, sprechen, findet eine solche, an den systemischen Grundfesten rührende Auseinandersetzung im internationalen Sport, wo fast täglich weitere Missbrauchsskandale publik werden, so gut wie nicht statt. Im Sport, insbesondere im Profi- und Spitzensport, geht es dabei nicht nur um sexualisierte Gewalt von Trainern und Trainerinnen, Funktionären oder anderen Autoritäten, die ihre Macht gegenüber ihren meist minderjährigen Schutzbefohlenen brutal ausnutzen, sondern auch um physische und psychische Gewalt im Trainingsalltag und Wettkampf. Hin und wieder wird auch im Sport von "systemischer Gewalt" gesprochen, etwa wenn Kinder oder Jugendliche mit harter oder schikanöser Hand zum (gefahr-)vollen Körpereinsatz, zur Überwindung physischer und mentaler Hemmschwellen oder zum Erdulden schmerzhafter Körperexpositionen getrieben werden, um die angestrebten Leistungssteigerungen sowie Anpassungsprozesse des menschlichen Körpers an die sportspezifischen Normvorgaben zu erzielen. So haben etwa in Großbritannien kürzlich 37 ehemalige Turnerinnen, darunter drei Olympiateilnehmerinnen, den Dachverband verklagt, weil sie sich "systemischer physischer und psychischer Gewalt" ausgesetzt sahen. Der Chef von British Gymnastics, Mike Darcey, räumte sogar ein, die Turnerinnen und den Sport "im Stich gelassen" zu haben, und erklärte, dass sich künftig die Kultur des Trainings ändern müsse. [1]

Der Vorwurf der "systemischen Gewalt" im Trainings- und Wettkampfbetrieb ist eigentlich so alt wie der Hochleistungssport selbst. Denn gerade dort, wo die "Quälixe" in der Trainerzunft wohlgelitten sind, wo Trainingsfolter und Wettkampfqualen Usus sind, wo die Sportwissenschaft nach Wegen sucht, auch noch das letzte Leistungsquentchen aus den Probanden herauszukitzeln, damit die ex- und intrinsischen Medaillenforderungen erfüllt werden, herrscht gnadenloser, sich subtil bis brachial äußernder Leistungsdruck. Zwar wird der Kultur des stoischen Aushaltens und Erduldens von Schmerz und Überforderung durch sportpsychologische Therapieverfahren und pädagogische Konzeptionen etwas der Zahn geschliffen, doch in weiten Teilen des Hochleistungssports sind nach wie vor bedingungslose Hingabe und totaler Körpereinsatz angesagt. Dass sich unter diesen physischen und psychosozialen Spannungs- und Wechselverhältnissen bei den SpitzensportlerInnen enorme Gefühls- und Erlebniswelten - quasi als Belohnung - auftun, sollte nicht verwundern.

In Deutschland hatten in November und Dezember 2020 ehemalige Turnerinnen, darunter Ex-Weltmeisterin Pauline Schäfer-Betz, schwere Vorwürfe gegen Gabriele Frehse erhoben. Die bis dahin erfolgreiche Trainerin am Bundesstützpunkt in Chemnitz soll ihre Elevinnen im Training erniedrigt und gedemütigt, Medikamente ohne ärztliche Verordnung verabreicht und keinen Widerspruch zugelassen haben. Frehse hatte die Vorwürfe, über die das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" berichtete, mehrfach bestritten. Sicher auch in Reaktion auf ihre Erfahrungen haben Pauline Schäfer-Betz und ihr Freund Andreas Bretschneider, der durch ein Hochrisikoelement am Reck (Kovacs-Salto mit Doppelschraube) Berühmtheit erlangte, ein Projekt in Angriff genommen (Grip & Grow Gymnastics), das Spitzenturnen auf achtsame und respektvolle Weise ermöglichen soll. "Angst, Hunger, Druck und Tränen haben bei uns keinen Platz. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, mit veralteten Turntraditionen und autoritären Trainingsregimen zu brechen." [2]

Auch Turnerinnen und Turner in anderen Ländern wie den USA, Australien, den Niederlanden, Neuseeland, der Schweiz oder DDR haben über ihre eigenen traumatischen Erfahrungen berichtet. In den USA waren sogar Hinweise auf schwerste Missbrauchsfälle im Frauenturnen von Beamten der Ermittlungsbehörde FBI heruntergespielt worden, was dem US-Turnarzt Larry Nassar ermöglichte, mehr als ein Jahr lang seine Missbrauchsserie an Spitzenturnerinnen fortzusetzen, wie ein Bericht des Büros des Generalinspekteurs des US-Justizministeriums aufzeigt. [3] Und es macht vor allem deutlich, dass die vielen Formen und Ausprägungen körperlichen Missbrauchs "von oben" gedeckt wurden und werden, damit weder das gesellschaftliche Subsystem des Sports, der als Heilsbringer und Sinnstifter höchster Potenz mit geradezu religiöser Inbrunst angebetet wird, noch seine Funktionseliten Schaden nehmen. Wäre ja auch schlimm, wenn dem Volk das "Urvertrauen", wie es immer so schön heißt, in die Institutionen, Traditionen und Regelinstanzen abhanden käme und sich der Leitspruch der Turner "Von der Wiege bis zur Urne - turne, turne, turne" als Muff aus tausend Jahren herausstellte. Oder zeitgemäßer gesprochen, wie es nach den Olympischen Spielen in Tokio von "Bild" bis "junge Welt" nahezu alle Medien als Menetekel an die Wand malen: Noch einmal so ein historischer Tiefstand bei der Medaillenausbeute, und (Sport-)Deutschland ist dem Untergang geweiht!

Nationale Turnverbände sind nach jahrzehntelangem systematischen Missbrauch inzwischen dazu übergegangen, einen "Kulturwandel" zu propagieren und wollen mit Präventivkonzepten oder Sensibilisierungskampagnen gewaltsamen Misshandlungen vorbeugen. Doch wie soll gegen Erniedrigungen, Bodyshaming, Psychoterror, Hungerappelle, Körpermaschinisierung, schmerzhafte Leibesübungen, Leistungs- und Konkurrenzdruck - die den meisten Sportarten in unterschiedlichem Ausmaß geradezu wesenseigen sind - vorgegangen werden? Etwa durch die "10 Goldenen Regeln", wie sie der Internationale Turnerbund (FIG) in Reaktion auf die Missbrauchsskandale veröffentlichte, mit dem Ziel, ein "sicheres und respektvolles Umfeld" zu gewährleisten?

Eine der Goldenen Regeln lautet z.B. "Meine Gesundheit ist wichtiger als Medaillen". Laut FIG lasse sich ein Umdenken der Menschen nicht über Nacht mit einem Zauberstab erreichen. "Es wird Zeit und Mühe kosten, bis die alten, schädlichen Trainingsmethoden der Vergangenheit nicht mehr als integraler Bestandteil des Spitzensports angesehen werden." [4]

Schön gesprochen, zumal hier völlig ausgespart wird, ob im Kunstturnen oder auch in der Rhythmischen Sportgymnastik nicht der körperliche Missbrauch bereits dort anfängt, wo Kinder oder Jugendliche gar keine andere Wahl haben als unter dem national wie international hochgesteckten Normendruck ihre Leistungen progressiv zu steigern, wollen sie nicht frühzeitig als "Luschen" oder unsichere Medaillenkandidaten des Potenzialanalysesystems (PotAS) abgestempelt und aussortiert werden. Wie soll die Gesundheit in einem System Vorrang haben, in dem nur Medaillen und Potenziale zählen? Nicht nur in Deutschland verfolgt das gesamte, von Staat, Politik und Sportbürokratie vorgegebene Spitzensportsystem das ausdrückliche Ziel, die Medaillenerträge zu steigern. Wer nichts bringt, wird herabgestuft oder fliegt aus der staatlichen Sportförderung. In einigen Ländern werden ganze Sportarten kurzerhand auf den Hungerast gesetzt, weil sie in den Augen der Medaillenkommissare nicht genug bringen.

Dass der Druck von oben kommt, lässt sich beispielhaft auch daran erkennen, dass der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC), Thomas Bach, sich gegenüber einer französischen Delegation "besorgt" über das Abschneiden Frankreichs bei den Olympischen Spielen 2020 in Tokio äußerte, da sich das Land auf die Ausrichtung der nächsten Spiele 2024 in Paris vorbereitet. In einem internen Dokument der Nationalen Sportagentur (ANS), das der Agence France-Presse vorliegt, heißt es, Bach habe den französischen Verantwortlichen in Tokio 2020 gesagt, dass das Land mehr Medaillen holen müsse, um erfolgreiche Spiele zu gewährleisten. [5]

Und der Druck auf die Athleten (sowie Funktionäre, Trainer und Sportwissenschaftler) wird noch steigen, denn auch in Deutschland bekommen wieder die alten Haudegen des "humanen Spitzensports" Oberwasser, die in geschönter Sprache ein effektiveres System der Talente- und Medaillenproduktion fordern - etwa in Form einer aus dem Dachverband ausgegliederten "Leistungssport GmbH Deutschland" oder "Sportdeutschland AG". Die totale Ökonomisierung des Spitzensports lässt grüßen! Schon schwadronieren wieder einschlägige Experten von flächendeckender Talentesichtung, von einer engeren Verzahnung von Schulen und Vereinen, von einer Belebung der allgemeinen Leistungsorientierung, von einem höheren Anteil an Sportschulen und einer regelmäßigen Leistungsdiagnostik, "um den Fähigkeitsstand der Kinder beurteilen zu können". [6] Wie es scheint, wünschen sich so manche Funktionsträger den erfolgreichen DDR-Hochleistungssport wieder herbei, nur unter kapitalistischen Bedingungen gesteigerter Konkurrenz und Ausbeutung.

Laut der Sportsoziologin Prof. Carmen Borggrefe von der Universität Stuttgart lautet die zentrale Frage: "Wie kann man den Spitzensport als gesellschaftlichen Bereich erhalten, unter den Bedingungen, die wir in Deutschland haben?" Dazu müsse man die Systemprobleme des Spitzensports angehen. [7]

Doch was verstehen Sportsoziologen unter "Systemproblemen" - den Normalbetrieb des verschleißträchtigen Spitzensports sicherzustellen und seine von vielen Bürgern längst in Frage gestellte Legitimation zu retten? Solange auch in der Sportwissenschaft der Körper als "Ressource", "Material" oder "Objekt" betrachtet wird, der in einer befristeten Phase biologischer Ausbeutbarkeit nach allen Regeln der Kunst "optimiert" werden soll, bleibt der Athlet/Spieler ein Sklave fremder Interessen. Ein emanzipatorischer Alternativsport müsste erst noch erfunden werden, und das sollte man nicht den spitzensportnahen Expertenzirkeln überlassen, die die niemals ernsthaft gestellte Frage, welchen Sport die Gesellschaft möchte, wieder in die alten Fahrwasser lenken.

Fußnoten:

[1] https://www.theguardian.com/sport/2021/aug/18/british-gymnastics-deeply-sorry-and-must-do-better-to-prevent-abuse. 18.08.2021.

[2] https://www.sueddeutsche.de/sport/turnen-pauline-schaefer-betz-training-kritik-1.5442223. 17.10.2021.

[3] https://www.sportschau.de/turnen/dpa-us-turnerinnen-erheben-schwere-vorwuerfe-gegen-fbi-story100.html. 15.09.2021.

[4] https://www.gymnastics.sport/site/news/displaynews.php?idNews=3338. 17.10.2021.

[5] https://www.insidethegames.biz/index.php/articles/1114235/bach-paris-2024-olympics-france-tokyo. 15.10.2021.

[6] https://www.deutschlandfunk.de/norbert-stein-sportfoerderung-nachwuchs-100.html. 13.11.2021.

[7] https://www.deutschlandfunk.de/sportsoziologin-carmen-borggrefe-zum-sport-regierungswechsel-100.html. 28.11.2021.



1. Dezember 2021

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 170 vom 4. Dezember 2021


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