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KOMMENTAR/256: Wo gehobelt wird ... (SB)



Die programmatisch angelegte Mißtrauenskultur im Spitzensport gedeiht und sprießt. Es reicht nicht mehr, allen hochklassigen Kaderathletinnen und -athleten mit nahezu unumschränkten Wettkampf-, Trainings- und Alltagskontrollen zu unterstellen, sie würden dopen, sobald die "Big Brother"-Agenturen sie nicht mehr bis auf den Boden ihrer biologischen Existenz durchleuchten würden. Im Namen des "sauberen Sports" sollen nun auch alle Athleten unter Generalverdacht gestellt werden, die bislang noch an so etwas Antiquiertes wie "Unschuldsvermutung" glaubten - ein grundlegendes Rechtsstaatsprinzip, das westliche Spitzenfunktionäre und Medienvertreter in der "Doping-Causa Rußland" durch ihre pauschale Forderung, den russischen Sport kollektiv in Haftung zu nehmen und alle Athleten von internationalen Großereignissen auszusperren, bereits weitreichend in den Staub der Geschichte getreten hatten.

So hat sich der Rat des Europäischen Leichtathletikverbandes EAA für eine neue Rekordliste auf europäischer Ebene ausgesprochen, da vielen der alten Rekorde nachgesagt wird, sie seien "dopingverseucht". Der heftig umstrittene Vorschlag, der als "Revolution" verkauft und von einer siebenköpfigen Projektgruppe unter Beteiligung des deutschen Leichtathletik-Präsidenten Dr. Clemens Prokop erarbeitet wurde, sieht vor, daß ab dem 1. Januar 2018 komplett neue Rekordlisten in der europäischen Leichtathletik angelegt werden. Falls der Weltverband IAAF dem Reformantrag im Herbst zustimmt, würden aufgrund der Neubewertung die Mehrzahl der aktuellen Weltrekorde gestrichen. Da IAAF-Funktionäre wegen diverser Korruptionsvergehen in den eigenen Reihen selbst schwer unter Druck stehen, könnten sie versucht sein, mit dem Verkauf alter Rekord-Ladenhüter von sich abzulenken und neue Illusionen vom "sauberen Sport" beim geneigten Publikum wie auch bei einigen Anti-Doping-Kreuzzüglern zu wecken. Denn, so die vorgebliche Sorge der Sportverkäufer: "Besteht der Verdacht, dass ein Rekord nicht fair zustande gekommen ist, oder dass die Bedingungen nicht korrekt gewesen sind, entsteht Skepsis beim Betrachter, schlimmstenfalls reagiert er mit Nichtbeachtung." Dabei sei doch ein Rekordversuch "die Attraktion, um Stadien in der ganzen Welt zu füllen". [1]

Daß es auch andere, viel naheliegendere Gründe als dopingverdächtige Rekorde geben könnte, warum die Leichtathletik-Stadien immer leerer werden, wird von den Europa-Funktionären, die der Glaube eint, "dass jegliche Regelverletzung aufgedeckt und einer gerechten Strafe zugeführt wird", als Fragestellung gar nicht erst angeschnitten. Alles wird auf die Monothematik "Rekorde - Doping - Glaubwürdigkeit" verengt und kausal miteinander verknüpft. Deutlich wird daher vor allem eins: Im modernen Spitzensport bestimmt nicht mehr die herausragende Leistung, sondern der diffuse Verdacht, daß die anerkannte Höchstleistung irregulär zustande kam, die Marketingstrategie der Funktionseliten in den Dachverbänden. Für diese Weißwäschestrategie dürfen auch Köpfe von Unschuldigen rollen. Viele ehemalige Topathleten, denen nie ein Dopingvergehen nachgewiesen wurde und die als "ehrliche" und "faire" Sportsleute gelten, würden der neuen Säuberungswelle zum Opfer fallen. Was auch immer sie an Aufwand, Zeit und Lebenssubstanz in den Sport investiert haben, um am Ziel ihres Strebens den Europa- oder Weltrekord zu gewinnen, würde mit einem Schlag zunichte gemacht und mit dem Kainsmal des Dopingverdachtes belegt werden.

Das würden Oberfunktionäre wie der IAAF-Präsident Sebastian Coe durchaus begrüßen. "Es wird Sportler geben, aktuelle Rekordhalter, die das Gefühl haben, dass wir dadurch, dass wir die Geschichte neu kalibrieren, ihnen etwas wegnehmen", sagte der geschäftstüchtige Brite, einst selbst Halter von acht Weltrekorden. "Aber ich glaube, dass dies ein Schritt in die richtige Richtung ist und dass wir die Chance haben, auf diesem Gebiet Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen." [2]

Die Diktion von Baron Coe gleicht der der Projektgruppe, deren Intention ebenfalls ist, die "Glaubwürdigkeit von Europa-(und Welt-)rekorden wiederherzustellen und das Vertrauen der Öffentlichkeit wiederzugewinnen". Glaubwürdigkeit durch öffentlich statuierte Regelhärte ist die Münze, mit denen juristische Hardliner wie Clemens Prokop und Kollegen seit jeher hausieren gehen. Ihr aggressiv vertretener Legalitätsglaube insinuiert, daß man die Widersprüche des von künstlichen Hilfsmitteln aller Art durchdrungenen Hochleistungsssports durch ein hartes Handling von Regeln, Recht und Ordnung vor den Augen der Skeptiker unsichtbar machen könnte.

Marktschreierische Medien wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) wetzen bereits das Messer für den scharfen Schnitt und rufen: "Macht es! Endlich!" Einmal mehr eilt der autoritätshörige Meutejournalismus den Scharfrichtern des Sportgewerbes mit den Worten zur Hilfe: "Da kann es keine Einzelfallprüfung geben, nicht einmal für Usain Bolt, die Schuld oder Unschuld des Einzelnen beweisen soll. Da bedarf es eines scharfen Schnitts, der eben weil er brutal so viele Rekordhalter auf einmal ins Gestern befördert, als nicht belastend für den Einzelfall verstanden werden darf." [2]

Was kümmert's die FAZ, wenn es Athletinnen und Athleten doch belastet, zu potentiellen Dopingsündern gestempelt zu werden, nachdem ihre Rekorde zwangsweise in den "Ruhestand" versetzt wurden? Dieses "Verstehen" sollte man sich auf der Zunge zergehen lassen: Weil "so viele" Rekordhalter ins Jenseits befördert werden, wird für den Einzelnen der Schaden an Ansehen und Würde erträglicher ...

Der eigentliche Trick der juristischen Haarspalterei besteht darin, daß Rekordhalter nicht direkt des Betruges bezichtigt werden - die "Radikaloperation" wurde von der Projektgruppe verworfen, weil es dann nach eigenem Bekunden notwendig gewesen wäre, entsprechende Beweise vorzulegen (über die man gar nicht verfügt) -, sondern daß man die in der Vergangenheit angeblich unfairen "Bedingungen" verantwortlich macht. Das ist eine sehr eingeschränkte Sichtweise auf den Wettbewerb, denn weltweit einheitliche Dopingkontrollen, sofern sie jemals für eine kleine Zahl von Eliteathleten hergestellt werden könnten, sagen überhaupt nichts darüber aus, welche legalen oder illegalen Hilfsmitteln darüber hinaus noch verwendet wurden oder werden, um den "echten" oder "objektiven" Vergleich, von dem die Sportverbände in ihrer Idealwelt fantasieren, zu inszenieren.

An den "Bedingungen" hängt sich vieles auf, auch die Aberkennung von Rekorden durch den Verband. "Von den Dachverbänden vorgenommene Änderungen der Bedingungen für die Anerkennung von Rekorden haben zur Folge, dass frühere Rekorde, die nicht die neuen Bedingungen erfüllen, nicht länger anerkannt werden", heißt es lapidar im Reformpapier. Obwohl die Dachverbände in der Jetztzeit die Bedingungen ändern, werden Athleten aus der Vorzeit praktisch dafür bestraft, daß sie den heutigen Bedingungen der Rekordanerkennung nicht entsprachen - eine Absurdität sondergleichen. Wie sollten Athleten damals wissen, welche neuen Bedingungen zur Bezeugung ihres Leumunds in der Zukunft für sie gelten würden? Wie "glaubwürdig" ist denn das? Und warum sollten heutige Rekordhalter glauben, daß sich die Funktionäre in der Zukunft nicht wieder andere Bedingungen einfallen lassen, die ihnen ihre "sauberen" Rekorde streitig machen?

Die "Macht eines jeden Rekords hängt von seiner Glaubwürdigkeit ab", schwört die Reformgruppe, als ob die "Macht" von den Interessen und Personen zu trennen wäre, die nicht etwa im politisch und wirtschaftlich befeuerten Rekord- und Sensationsstreben der kommerziellen Leichtathletik das Problem sehen, sondern in der mangelhaften Repressionspraxis, mit der Athleten unverwandt zu neuen Bestmarken getrieben werden sollen. Härtere Strafen, schärfere Kontrollen und strengere Inpflichtnahmen waren schon immer die Herrschaftsmittel, um "Glaubwürdigkeit" zu exekutieren. So soll die Anerkennung zukünftiger Rekorde an einschneidende Bedingungen geknüpft werden: Europa- und Weltrekorde der Aktiven können nur "bei einer beschränkten Auswahl von Wettkämpfen des höchsten Standards erzielt werden, bei denen die IAAF oder die Kontinentalverbände volles Vertrauen in die Wettkampfoffiziellen sowie die Zeit- und Weitenmessung haben kann", lautet ein Vorschlag der Projektgruppe. Heißt mit anderen Worten: Weltrekorde bei unbedeutenden Meetings zählen nicht mehr, Athleten gehen trotz Rekorden leer aus. Die sogenannte Chancengleichheit unter Spitzenathleten würde noch weiter eingeschränkt. Daß es der Projektgruppe so wichtig war, den Aspekt der "Zeit- und Weitenmessung" herauszustellen, kann ja nur bedeuten, daß die gegenwärtige Meßpraxis wie auch die Wettkampfoffiziellen Anlaß zu tiefstem Mißtrauen geben. Wird hier bereits ein neues Faß der Verdachtshuberei aufgemacht?

Zudem müssen Athleten im Vorfeld eine Mindestanzahl an Trainingskontrollen absolviert haben; die Dopingproben beim entsprechenden Wettbewerb sollen zehn Jahre für Nachtests eingefroren werden. Ob 10, 100 oder 1000 Kontrollen im Jahr nötig sind, um "Glaubwürdigkeit" herzustellen, ist im Grunde vollkommen beliebig, denn es gibt sowieso keine "lückenlosen" Kontrollen, es sei denn, man würde Athleten mit Hilfe von Echtzeitüberwachungen jedwede Bewegungsfreiheit rauben und den Verfolgungsdruck mit "intelligentem" Klingelterror auch auf die Nachtstunden ausdehnen.

Alle Rekordhalter sind überdies verpflichtet, ihre "sportliche Integrität" nach der Anerkennung eines Rekordes aufrechtzuerhalten. Im Falle einer Sanktionierung aufgrund eines schwerwiegenden Regelverstoßes (z. B. wegen eines nachfolgenden Dopingverstoßes) wird die Anerkennung der Rekorde entzogen, selbst wenn nicht nachgewiesen werden kann, daß der Regelverstoß die Rekordleistung beeinflußt hat, schlägt die Projektgruppe vor.

Daß diese Form der beweisunabhängigen Rechtswillkür von einem Leichtathletik-Funktionär wie Clemens Prokop unterstützt wird, immerhin "Direktor des Amtsgerichts Regensburg und Herausgeber von Sport und Recht", wie es im Bericht der Projektgruppe heißt, wirft ein Schlaglicht darauf, mit welchen Verbiegungen sich Rechtsvertreter um die Achse ihrer eigenen Projektionen drehen, wenn sie sich auf Doping als justitiable Erklärungsmatrix für die Übel des Sports versteift haben. Die rechtschaffenden Funktionäre wähnen sich so fest im Sattel, daß sie keinen Hehl mehr daraus machen, wie ungerecht die Regelmaßnahmen im Verdachtssport sind. "Es ist richtig, dass es im Einzelfall zu Ungerechtigkeiten führen kann", erklärte Prokop. "Ich glaube, letzten Endes kann man nur an die Solidarität der betroffenen Athleten appellieren und sie um Verständnis bitten, dass eine Neuregelung der Rekorde nur funktionieren kann, wenn einige Athleten letztendlich vielleicht ungerecht behandelt werden." [3]

Ob zu den Verstößen gegen die "sportliche Integrität" - eine Lauterkeit vorgaukelnde Redefigur, die in Sport, Politik und Recht immer häufiger gebraucht wird, um vom Gegenteil abzulenken - auch Meldepflicht- und/oder Kontrollversäumnisse zählen, die praktisch mit Dopingvergehen gleichgesetzt werden, ist nicht bekannt. Aber was nicht ist, kann ja nach dem nächsten größeren Dopingskandal noch werden ...

Fußnoten:

[1] http://www.european-athletics.org/mm/Document/Generic/General/01/28/11/47/GERProjectTeamReportoncredibilityofERs_Neutral.pdf. April 2017.

[2] http://www.faz.net/aktuell/sport/sportpolitik/leichtathletik-reform-soll-doping-rekorde-tilgen-14997370.html. 03.05.2017.

[3] https://www.zdf.de/sport/reformplaene-fuer-rekorde-in-leichtathletik-100.html. 02.05.2017.

22. Mai 2017


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