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KOMMENTAR/242: Ein Wolf im Schafspelz ... (SB)


Sport und Arbeit: Mehr Flexibilität, mehr Disziplin, mehr Selbstausbeutung


Der "digitalen Selbstvermessung" im Sport- und Freizeitbereich folgt die "digitale Arbeitsüberwachung" auf dem Fuße. Regierung, Wirtschaft, Gewerkschaften und Wissenschaftler wollen unter dem Kampagnenbegriff "Industrie 4.0" (Institut zur Zukunft der Arbeit) die "vernetzte Produktion" voranbringen. Insbesondere von Arbeitgeberseite werden die "Chancen" und "Potentiale" des "digitalen Wandels" in der Arbeitswelt gepriesen. Crowd-, Cloud- oder Clickworking gelten als zukunftsweisend, "liquide" oder "flexible" Arbeitsmodelle, die auf regelmäßige Arbeitszeiten und feste Bezahlung verzichten, als innovativ. Arbeitsplätze in der eigenen Wohnung werden als Win-Win-Situationen beworben: Die Unternehmen sparen Betriebskosten und Verwaltungsaufwände, können weiter rationalisieren und automatisieren, während den Teleworkern eigenverantwortliches und selbständiges Handeln in Aussicht gestellt wird, versüßt mit dem Zuckerbrot, Beruf und Familie besser vereinen zu können.

Die Digitalisierung schaffe neue Möglichkeiten für "orts- und zeitsouveränes Arbeiten", verspricht auch Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles. "Mögliche Risiken" dieser Entwicklung wie Arbeitsverdichtung, ständige Verfügbarkeit gegenüber dem Arbeitgeber sowie die totale Ausbeutung stets lokalisierbarer und perfekt gegeneinander ausspielbarer Jobkonkurrenten auf dem global erfaßten Arbeitsmarkt sind bereits Bestandteil von Aushandlungsprozessen zwischen den "Sozialpartnern". Damit ständige Erreichbarkeit nicht zu psychischen Belastungen führe, so Andrea Nahles in einem DGB-Interview, "erörtern wir im Dialogprozess Arbeiten 4.0 mit Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und betrieblicher Praxis Chancen und Herausforderungen der digitalen Arbeitswelt und loten aus, wie neue Flexibilitätskompromisse zwischen Unternehmen und Beschäftigten aussehen und gestaltet werden könnten". [1]

An Flexibilisierungsoffensiven, die den Weg für die bereits feststehenden Kompromisse ebnen, mangelt es nicht. Arbeitgeberpräsident Ingo Kramer plädierte vor kurzem für die Abschaffung des Achtstundentags. "Der starre Acht-Stunden-Tag passt nicht mehr ins digitale Zeitalter, wir wollen mehr Beweglichkeit", sagte Kramer gegenüber der Zeitung "Rheinische Post". Seinen Vorstellungen zufolge könnten die Arbeitnehmer ihrem Unternehmen an einem Tag zwölf Stunden zur Verfügung stehen und am nächsten Tag nur vier. Der Arbeitgeberfunktionär versicherte, daß es dabei nicht um eine Ausweitung der Wochenarbeitszeit gehe. Zugleich wies er Kritik zurück, daß Unternehmen die Digitalisierung nutzen würden, um von ihren Beschäftigten auch in der Freizeit Erreichbarkeit und Mehrarbeit einzufordern. Es liege in der Verantwortung jedes einzelnen, Mobilgeräte auch auszuschalten. "Selbstdisziplin ist ganz wichtig", so Kramer. [2]

In Anbetracht des Arbeitgebervorstoßes sagte Bernd Riexinger, der Parteivorsitzende Der Linken, gegenüber AFP, prinzipiell sei nichts dagegen einzuwenden, Beschäftigten mehr Vertrauen zu schenken, statt mit der Stechuhr auf Quantität statt Qualität zu setzen. "Die Anforderungen der Arbeitgeber klingen aber häufig wie die Aufnahmebedingungen einer Sporthochschule: beweglich, flexibel, risikofreudig." [3]

Die Qualifizierung der fremdbestimmten Arbeit ist zweifelsohne die disziplinierte Selbstoptimierung, welche die äußeren Zwänge nur noch schattenhaft in Erscheinung treten läßt. Im Sport sind die Forderungen der Arbeitswelt nach einem leistungsstarken, flexiblen und anpassungsfähigen Körper, der sich bereitwillig den Maßgaben und Spielregeln eines als "fair" bezeichneten Wettbewerbs unterwirft, bereits weitgehend erfüllt. An die Stelle einer kritischen Auseinandersetzung mit den Wettbewerbsbedingungen und ihren gesellschaftlichen Voraussetzungen tritt im Sport der sozialdynamisierte Überbietungswettbewerb, der sich an quantitativen Markpunkten wie Toren, Zeiten, Höhen, Weiten, Plazierungen oder Statistik orientiert und im massenmedialen Strom heroischer Erzählungen eine stete Rückkoppelung erfährt. Scheitert der zur Selbstdisziplinierung erzogene Körper an den vermeintlich selbstgewählten Leistungsnormen, setzen die Mechanismen der Krisenregulation ein: Versagende Körper werden verdrängt oder unter Bewährung gestellt, beschädigte repariert, renitente ausdelegiert, unkontrollierte verdächtigt, deviante bestraft, verbrauchte ausgemustert oder für neue Aufgaben umfunktioniert. Das läuft schon seit vielen Generationen so, unabhängig von der jeweiligen Gesellschaftsordnung und dem Stand industrieller Produktion.

Mit der Digitalisierung von Arbeit und Freizeit können sämliche Lebensfunktionen und Verhaltensweisen gegeneinander verrechnet werden, was in einer neoliberalen Wettbewerbsgesellschaft, die letzte "Kreativitätsreserven" aus den Individuuen zu schöpfen sucht, um Standort- und Produktivitätsvorteile sicherzustellen, nur die totale Verfügbarmachung der Humanressource bedeuten kann. Selbstdisziplin und -kontrolle, auf spielerische Weise im Sport- und Freizeitbereich millionenfach eingeübt, können nun für die "Arbeit 4.0" nutzbar gemacht werden. Was dem technikgläubigen Maschinenmenschen durch seine körperliche Anpassung an die Werkbänke und Bürosessel, an die Turngeräte und Hanteln genommen wurde, wird ihm nun als App gesteigerter Selbstoptimierung in die vermeintlich eigenen Hände zurückgegeben.

Selbstdisziplin sei "ganz wichtig", sagt auch der Arbeitgeberpräsident. Plötzlich zählt das Individuum wieder. Der einzelne darf "Verantwortung" übernehmen, er braucht doch nur sein Mobilgerät auszuschalten. Alles eine Frage der Disziplin - nicht etwa der Arbeitsbedingungen und -diktate, die sich unter den Vorgaben mikroelektronischer Produktivkraftentwicklung immer mehr zuspitzen. "Flexibilitätskompromisse" sind im Zeitalter der "digitalen Revolution" gefragt, und zwar bis weit in die Sphäre hinein, die der Mensch noch als seine Privatheit oder Freizeit (von Arbeit freie Zeit) begreift, obwohl "Fit for Work"-Programme von Gesundheitssport und Aktivurlaub bis hin zu Bodydrill und Enhancement längst seinen Alltag bestimmen. Selbst die Pause oder der Schlaf können noch auf höhere Effizienzwerte getrimmt werden - kontrolliert und überwacht durch digitale Aktivitätsmesser oder Gesundheits-Apps. Der Allgemeinplatz "mehr Bewegung" ist zum ultimativen Credo der Arbeits- und Sportmedizin geworden, Lifestyle-Industrie und Sportartikelhersteller bringen ständig neue Fitneßarmbänder und Weareables auf den Markt, die zur Steigerung und kaloriengenauen Abrechnung der Alltagsaktivitäten auffordern.

Wo sich "Work-Life-Balance"-Maßnahmen als unternehmerische Erfolgsrezepte herausgestellt haben, den Arbeitenden zu suggerieren, es gäbe so etwas wie ein "Gleichgewicht" oder einen "Ausgleich der Interessen", sprich einen "Flexibilitätskompromiß", und digitales "Lifelogging" für immer mehr Menschen zur selbstauferlegten Pflichtroutine wird, ist die freiwillige Selbstvermessung am Arbeitsplatz nicht mehr weit. Internationale Unternehmen, Verhaltensökonomen und Forschungseinrichtungen testen bereits Anwendungen für "Quantified Employee", begleitet von angeblich repräsentativen Umfragen, wonach die Bereitschaft der Beschäftigten hoch sei, sich Smart Watches, Fitneßbänder oder Brillen zuzulegen, um sich unter dem prüfenden Blick der Arbeitgeber zu verbessern. 76 Prozent wären bereit, Wearables zu tragen, die Produktivität und Arbeitsleistung messen, wenn sie dafür Bonuszahlungen, mehr Urlaub, eine flexiblere Arbeitszeit oder eine verkürzte Arbeitswoche erhielten, so das Ergebnis einer ins Netz gestellten Umfrage unter 2.009 Beschäftigten der USA. 80 Prozent der Befragten wären sogar motiviert, vom Arbeitgeber gestellte Wearables zu nutzen und ihn mit ihren Health & Wellness-Daten zu versorgen, wenn sie dafür mehr monitäre Leistungen erhielten, darunter Bonuszahlungen, reduzierte Versicherungsprämien oder ermäßigte Sportangebote. [4]

Es dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein, wann Arbeitgeber ihre Beschäftigten anhand biometrischer Daten in Echtzeit überwachen. Versuchsballons wurden längst gestartet. Der wegen seiner schlechten Arbeitsbedingungen in der Kritik stehende Großversandhändler Amazon hat in Großbritannien bereits damit begonnen, seine MitarbeiterInnen per GPS zu überwachen. Milliardenschwere IT-Konzerne machen unterdessen massiv Werbung für die digitale Vermessung von Arbeit und Freizeit. "Experten sind überzeugt, dass sich Wearables am Arbeitsplatz durchsetzen, denn sie erhöhen die Sicherheit, Produktivität und Zusammenarbeit", vermeldet das deutsche Software-Unternehmen SAP. [5]

Der Konzern ist auch im Sportsponsoring tätig und nutzt den Leistungssport als Experimentier- und Entwicklungsfeld für die digitale Durchleuchtung zum Beispiel des Fußballspiels. So werden die Spiele und Profis von Bayern München und der TSG Hoffenheim mit Hilfe von SAP-Datenverfahren haarklein analysiert. "Neben Spielanalysen werden auch Leistungsparameter und Verletzungshistorie der Spieler erhoben und ausgewertet", berichtete heise-online. Trainer bekämen Live-Daten auf das Tablet gespielt und können ihren Schützlingen noch während des Spiels die Analysen ihrer gröbsten Schnitzer und Stärken vorlegen. [6]

"Quantified Fußball" wird bei den meisten passiven oder aktiven Sportenthusiasten nicht mehr als ein müdes Gähnen hervorrufen, schließlich seien Trainer doch dazu da, so wie weitverbreitete Auffassung, den Spielern Beine zu machen. Was im Sport an "Flexibilisierungsmaßnahmen" wie selbstverständlich hingenommen wird, wird seinen Weg auch bei der "Quantified Employee" finden. Die "Trainer" heißen dann aber nicht Pep Guardiola oder Huub Stevens, sondern Andrea Nahles, Ingo Kramer und so fort.

Fußnoten:

[1] http://www.dgb.de/themen/++co++9f0f5156-771e-11e5-8401-52540023ef1a. 20.10.2015

[2] http://www.rp-online.de/wirtschaft/unternehmen/ingo-kramer-wir-muessen-nicht-24-stunden-online-sein-aid-1.5642443. 18.12.2015.

[3] http://www.zeit.de/news/2015-12/19/deutschland-linke-sieht-forderung-nach-flexibleren-arbeitszeiten-kritisch-19102806. 19.12.2015.

[4] https://www.cornerstoneondemand.com/sites/default/files/research/csod_rs_quantified_employee.pdf

[5] http://news.sap.com/germany/2015/03/06/die-vorreiter-wearables-am-arbeitsplatz/. 06.03.2015.

[6] http://www.heise.de/newsticker/meldung/Quantified-Fussball-IT-Riesen-vermessen-den-Sport-2778537.html?view=print. 13.08.2015.

24. Januar 2016


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