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KOMMENTAR/235: Die orwellsche Pedale ... (SB)


WADA forciert Verdachtskultur: Verfolgung, Kontrolle und Abschreckung bis in die Nacht- und Schlafenszeit


Am Beispiel des Anti-Doping-Regimes läßt sich trefflich studieren, auf welcher Grundlage "Leistung" und "Wettbewerb" stehen und welche Verbiegungen die jeweiligen Fachschaften vollführen müssen, um das geschichtlich einzigartige Repressionssystem des globalen Spitzensports zu rechtfertigen sowie weltpolizeilich zu armieren. Neuester Schlager aus dem Waffenschrank der Dopingmenschenjäger: Abschreckungs-Kontrollen zwischen 23.00 und 6.00 Uhr.

Die World Anti-Doping Agency (WADA) - eine institutionelle Ausgeburt vornehmlich von Sportfunktionären, Wirtschaftsjuristen, Sportmedizinern und Politikern zum Schutz des Hochtechnologieprodukts und Wirtschaftsfaktors Spitzensport - hat ein gigantisches Netz paternalistischer Kontrolle und Überwachung gesponnen, dessen sanktionsbewehrte Zugriffsoptionen sie stetig zu erweitern trachtet. Da die Medien den WADA-Funktionären in der Regel aus der Hand fressen, wird in der Öffentlichkeit kaum Kritisches über die "Weltpolizei des Spitzensports" (NZZ) berichtet. Und mit "kritisch" ist bestimmt nicht gemeint, die "Lücken und Schlupflöcher" im Antidopingkampf zu skandalisieren, damit die WADA noch schärfere "Präventionsmaßnahmen" ergreifen kann. Weil die WADA ständig Gelder in den Wissenschaftsbetrieb pumpt - eigenen Angaben zufolge hat sie seit 2001 mehr als 60 Mio. US-Dollar in Wissenschaft und sozialwissenschaftliche Forschung investiert [1] -, sowie "partnerschaftliche Kooperationen" mit den Analyselabors und Kontrollunternehmen pflegt, gibt es auch so gut wie keine Wissenschaftskritik, die eine fundierte Gegenposition zu der Expertokratie des "sauberen Sports" bezieht und die Verabsolutierung vermeintlicher Sach- und Naturzwänge wirksam in Frage stellt.

Mit Beginn des Jahres ist ein neuer Welt-Anti-Doping-Code [2] in Kraft getreten, der die Freiheits- und Persönlichkeitsrechte der Athleten teilweise noch stärker einschränkt, als es schon beim WADA-Code 2009 der Fall war. So wurden die Berufsverbote bei Erstvergehen auf vier Jahre verdoppelt, zudem können jetzt Athletenbetreuer (z.B. Trainer, Manager, Ärzte, Berater, Mittelsmänner, Freunde) mit einem juristisch umstrittenen Bannfluch von mindestens sechs Jahren belegt werden, wenn sie in beruflicher oder sportlicher Funktion zum Athleten stehen. Nach der neuen "prohibited association rule" (Verbotener Umgang) müssen Athleten selbst dann einen Bogen um (ex-)dopingbelastete Personen machen, wenn diese gar nicht dem Anti-Doping-Reglement unterworfen sind. Wer dagegen aufbegehrt, bekommt die volle Beweislast aufgebürdet und muß der WADA erklären, warum der soziale Umgang nicht in beruflicher oder sportlicher Funktion erfolgt. Wer sich über diese "Voodoo"-Reglementierung der WADA hinwegsetzt, wird bestraft.

Wie man die "Umgangsverbote" gegen die Interessen der möglicherweise familiär oder freundschaftlich verbundenen Beteiligten durchsetzen, kontrollieren oder auf ihren willkürlich angenommenen, aber sanktionsfähigen Gefahrengehalt überprüfen will, bleibt schleierhaft. Werden demnächst auch Telefone abgehört und E-Mails von der Polizei mitgelesen, weil der Verdacht einer verbotenen Kommunikationshandlung besteht? Ganz offensichtlich zielt das globale Pilotprojekt darauf ab, innovative Formen sozialer Kontaktsperren zu erproben und verbandsrechtlich zu etablieren. Sollte dieses Sonderwillkürrecht des Sports auch in anderen Gesellschaftsbereichen Schule machen, könnte vom "sauberen Bürger" irgendwann verlangt werden, daß er über viele Jahre hinweg den Umgang mit Menschen meidet, die einmal mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind - wegen der "kriminellen Ansteckungsgefahr". Die polizeinahe Sozialforschung wird schon die passenden Begriffe finden ...

Im orwellschen Antidopingkampf jedenfalls scheint alles möglich. Die anlaßlosen Kontrollen haben die gläsernen, bis in den Genitalbereich verdächtigten Athleten bereits geschluckt. Ebenso die körperverletzenden Eingriffe durch Blutprobenentnahmen. Die dreimonatigen Vorausmeldungen ihrer Aufenthaltsorte (whereabouts) sowie den täglich 60minütigen Anwesenheitszwang für ortsbestimmte Kontrollen werden von den Athleten ebenfalls als "notwendiges Übel" hingenommen. An der Ausstattung von Kadersportlern mit GPS-Ortungsgeräten, die ähnlich wie die (freiwilligen) Fußfesseln bei rückfallgefährdeten Sexualstraftätern funktionieren, wird derzeit intensiv geforscht. Die elektronischen Freiheitsfesseln sind als "Ergänzung" zum Onlineüberwachungssystem "ADAMS" der WADA gedacht.

Öffentlichkeitswirksame Menschenversuche mit Mikrodosierungen von Doping an französischen Sportlern haben sich unterdessen als Wasser auf die Mühlen der Anti-Doping-Agenturen erwiesen, die Forderung nach nächtlichen Kontrollen zu forcieren und ihre Legitimität zu unterstreichen. In dem neuen WADA-Code wurde noch einmal bestätigt, daß registrierte Spitzenathleten rund um die Uhr, also auch zwischen 23.00 und 6.00 Uhr, getestet werden können, falls ein "ernster und konkreter Verdacht" vorliegt - was auch immer das heißen mag. Ob darunter schon schwankende Blutwerte fallen, die auch auf Krankheiten oder medizinisch nicht klar zu deutende Körperreaktionen bei sich in Grenzbereichen physischer und psychischer Verausgabung bewegenden Athleten zurückgehen können, bleibt ein Geheimnis der Anti-Doping-Kriminologie, die sich unter dem Euphemismus "Investigation and intelligence" ein weites Feld der Selbstermächtigung abgesteckt hat.

Die unmittelbaren Folgen der nächtlichen Ruhestörungen wie Minderung der Regenerationszeit sowie Schlafentzug bei Athleten oder mitaufgeweckten Familienmitgliedern werden von einschlägigen Sportforensikern entweder ignoriert oder mit Hinweis auf den höheren Zweck gerechtfertigt. Der Kölner Dopinganalytiker Prof. Wilhelm Schänzer hat die Option der Nachtkontrolle als Form erhöhter "Abschreckung" gutgeheißen, ähnliche Aussagen gibt es auch vom Nürnberger Biochemiker Prof. Fritz Sörgel sowie vom Führungspersonal der deutschen NADA. Daß man in Deutschland zur Zeit noch nicht flächendeckend kontrollieren will, sondern nur bei vermeintlich auffälligen Sportlern, ist allein dem Umstand geschuldet, daß die Verdachtspolizei nicht mit der Tür ins Haus bzw. ins Schlafzimmer fallen will. Deshalb übt sie sich noch etwas in Zurückhaltung, obwohl die "Folter"-Instrumente längst in Anschlag gebracht wurden. Salami-Taktik, Freiwilligenbeteiligung und Verhältnismäßigkeitsrhetorik sorgen Zug um Zug dafür, daß die privaten Rückzugsräume von Athleten immer weiter eingeschränkt werden. Den Rest besorgen die leistungsfokussierten Sportler selbst, die alles hinzunehmen bereit sind, wenn ihnen die Regelhüter nur weiterhin gestatten, nach sportlichen Höchstleistungen, staatlichen Medaillenzielen und sozioökonomisch besonders lohnenden Rekorden zu streben.

Internationale Testballons wurden bereits gestartet. Im Vorfeld der kürzlichen Tour de France der Radprofis soll die Anti-Doping-Kommission CADF - eine Einrichtung des Weltradsportverbandes UCI - ausgewählte Fahrer auch zu nächtlicher Stunde aufgesucht haben. "Das ist Teil unseres Waffenarsenals im Kampf gegen Doping", bestätigte UCI-Präsident Brian Cookson, dessen Funktionärsrolle offenbar darin besteht, für die neue Kriminalisierungspolitik der Sportorganisationen weitere Breschen der Akzeptanz zu schlagen. Ohne daß es von den Medien kritisch reflektiert wurde, warb Cookson kürzlich beim olympischen Branchendienst "inside the games" dafür, dopende Sportler wie in Deutschland strafrechtlich zu verfolgen. Sowohl die WADA als auch das IOC haben entsprechende Forderungen bislang immer von sich gewiesen - zumindest offiziell. Die Institutionen halten sich vornehm zurück, weil sie wissen, daß die Verschärfungsspirale sowieso für sie arbeitet. Besser, der sportliche Hochleister fordert selbst, per Gesetz härter rangenommen und effektiver reglementiert zu werden, als daß sich seine Wächter und Wärter die Hände schmutzig machen müssen. Cookson indes ging sogar noch weiter. Er verlangte die Zusammenarbeit mit Zoll, Polizei und Staatsanwaltschaften nicht nur auf die Verfolgung von Doping zu beschränken. Es gehe auch darum, "Geldwäsche, Diebstahl, Drogenschmuggel und Steuerhinterziehung" gemeinsam zu bekämpfen. [3] Hier manifestiert sich, was den gesamten Hochleistungssport antreibt: Nur wer sich in diesem Heuchelgewerbe an die Spitze der Repression setzt, erhält die Silberlinge der Glaubwürdigkeit und darf darauf hoffen, seinen Platz im Kriminalsport der neuen Ordnung einnehmen zu können.

Während der Tour de France soll es indessen nur bei Androhungen geblieben sein, Nachttests auch zwischen 23.00 und 6.00 Uhr durchzuführen. Begleittext der Deutschen Presse-Agentur: "Mediziner hatten vor dieser Lücke im System gewarnt." Und: "Da die Regelung ein Eingriff in die Persönlichkeitsrechte ist, muss dies erst in der Gesetzgebung verankert werden." [4] Die angeblich linken Journalismus verkörpernde Tageszeitung "Neues Deutschland", die im auflagensteigernden Profisport mit den Wölfen heult, tadelte: "Ein sinnvolles Mittel im Antidopingkampf kann somit ausgerechnet im Gastgeberland des wichtigsten Radrennens der Welt nicht eingesetzt werden." Außerdem zitiert das Blatt Bruno Genevois, Chef der französischen Antidopingagentur AFLD, der ebenfalls bedauerte, daß Nachtkontrollen gegenwärtig nicht erlaubt sind: "Aber man sollte nicht dogmatisch sein. Es gibt ja nicht nur Tests. Wir können mit der Gendarmerie zusammenarbeiten und dem Zoll, wenn wir Informationen über verdächtiges Tun haben." [5]

Das läuft entweder auf eine "undogmatische" Arbeitsteilung zwischen Dopingkontrolleuren und staatlichen Ermittlungsbehörden hinaus oder auf eine Anpassung der Gesetze. Daß Politiker zu allen Schandtaten bereit sind, wenn höhere Zwecke oder Erfordernisse als der unbedingte Schutz bürgerlicher Freiheitsrechte reklamiert werden, zeigt das Vorgehen der Regierungskoalition. Mit der gleichen Hemdsärmeligkeit, mit der sich Innenminister Thomas de Maizière und Justizminister Heiko Maas (und ihre Hofjuristen) beim geplanten Anti-Doping-Gesetz über verfassungs- und datenschutzrechtliche Einwände sowie sozialwissenschaftliche Kontrafakten hinwegsetzen, verteidigen sie auch die umstrittene Vorratsdatenspeicherung, die die anlaßlose Erfassung und Speicherung aller Telefon- und Internetverbindungsdaten beinhaltet und den Generalverdacht gegen unbescholtene Bürger schürt.

Um Kontrollen von Spitzenathleten bis in die Nachtstunden hinein salonfähig zu machen, nutzen die Doping-Agenturen die freiheitsraubende Enge des Kontrollsystems sowie die Versuche der Athleten, sich durch Anpassungsverhalten Luft zu verschaffen, aus. Der britische WADA-Präsident Sir Craig Reedie erklärte kürzlich zu den erlaubten Nachttests, daß sie im Bedarfsfall auch dann angewendet werden sollten, "um Doping unter solchen Athleten aufzuspüren, die nicht bei Tagestests erfaßt werden können". [6]

Viele Topathleten sind es offenbar leid, eine Stunde am Tag mit sinnlosem Warten auf den Kontrolleur verbringen zu müssen. Deshalb haben sie die Zwangsstunde (freiwillig) in die Nachtzeit verlegt. Sie wägen das größere Übel mit dem kleineren ab und hoffen darauf, gar nicht oder nur selten während der Schlafenszeit von Kontrolleuren aufgeweckt zu werden. So kann man natürlich die allgemeine Akzeptanz von Nachtkontrollen auch herstellen. Weil die populistische Forderung nach einem "sauberen Sport" ein Faß ohne Boden darstellt, kann die nächste Steigerung eigentlich nur bedeuten, Wettkampfbedingungen für Spitzenathleten zu schaffen, die auf 365-Tage-Gefängnisse oder Quarantäne hinauslaufen.

Um der allgegenwärtigen Verdachtsberichterstattung, die die Dopingproblematik im Sinne des Hochleistungssports im wesentlichen auf normativ-kriminalistische Fragestellungen und Antwortschemata reduziert, Tribut zu zollen, haben der aktuelle Tour de France-Sieger Christopher Froome sowie einige seiner Berufskollegen vorgeschlagen, Nachtkontrollen einzuführen. Neueste Dopingskandale in Rußland und Kenia (siehe die ARD-Dokumentation "Geheimsache Doping, im Schattenreich der Leichtathletik"), an die sich reflexhafte Forderungen nach härterem staatlichen Durchgreifen und weltweit einheitlichen Doping-Kontrollen (auch in der Nacht) knüpfen, werden dazu führen, daß autoritäre oder ärmere Länder "nachrüsten" und möglicherweise sogar in eine repressive Vorreiterrolle bei der rigorosen Säuberung, Ausspähung und Verkriminalisierung des Sports kommen. Dann wäre das erfüllt, worauf der eliminatorische Anti-Doping-Kampf, dessen eigentliche Funktion in der herrschaftsförmigen Zerfleischung und Verfügbarmachung des dauerverdächtigen Leistungssubjekts besteht, seit jeher zusteuert.

Fußnoten:

[1] https://www.wada-ama.org/en/media/news/2015-04/pcc-and-wada-form-anti-doping-research-partnership. 21.04.2015.

[2] https://wada-main-prod.s3.amazonaws.com/resources/files/2015-wadc-final-de.pdf

[3] http://www.insidethegames.biz/articles/1027077/exclusive-cycling-chief-cookson-supports-calls-for-doping-to-be-criminalised. 02.05.2015.

[4] http://www.sueddeutsche.de/news/sport/radsport-erste-naechtliche-dopingkontrollen-vor-der-tour-de-france-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-150705-99-03591. 05.07.2015.

[5] http://www.neues-deutschland.de/artikel/977266.ein-pieks-zur-nacht.html. 09.07.2015.

[6] http://www.independent.co.uk/sport/general/athletics/the-craig-reedie-column-our-rules-are-strong-enough-to-catch-cheats-and-stop-doping-10376607.html. 08.07.2015.

4. August 2015


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