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KOMMENTAR/217: Bis zum Startschuß an die Leine ... (SB)


Online-Überwachungssystem "ADAMS" soll mit GPS-Ortungssystem "EVES" ergänzt werden



Das Recht auf Privatsphäre, auf Räume, wo der Mensch frei von staatlicher oder behördlicher Überwachung und Bevormundung sein Leben bestreiten kann, scheint in Anbetracht der weltweiten Entwicklung kaum noch einen Pfifferling wert zu sein. Ungeachtet aller Datenskandale schreitet auch in Deutschland die digitale Durchleuchtung der Bürgerinnen und Bürger munter voran. Vor wenigen Monaten wurde publik, daß der Bundesnachrichtendienst (BND) eine "Strategische Initiative Technik" plant, um unter anderem soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter, aber auch Fotodienste, Internet-Foren oder Blogs in Echtzeit auszuspionieren. [1] Kaum anders die Bundeswehr, die die sozialen Medien ebenfalls ausforschen möchte. Zur Umsetzung der Massenbespitzelung hat das Verteidigungsministerium im Mai 2014 ein Forschungsprojekt mit einem Fraunhofer Institut in der Nähe von Bonn und dem US-Unternehmen IBM gestartet. [2]

"Bonn" und "Fraunhofer Institut" liefern uns die Stichworte für ein weiteres Überwachungsprojekt, das insofern Modellcharakter für die Gesellschaft hat, als es die Ausforschung und Kontrolle spezifischer Bevölkerungsgruppen zum Positiven wendet, ohne daß der Zwangscharakter der Maßnahmen noch groß in Erscheinung tritt. Die auf Schritt und Tritt kontrollierten Subjekte stellen nicht mehr die Einschränkung persönlicher Freiheiten als solche in Frage, sondern versuchen, sich innerhalb ihrer Bedrängnis kleine Freiräume zu erhalten oder Sicherheiten zu verschaffen, die sie vor der Willkür der als alternativlos akzeptierten Kontrollmaßnahmen schützen sollen. Den Rahmen für dieses Gesellschaftsexperiment liefert der repressive Leistungs- und Spitzensport, der Konkurrenz und Wettbewerb über alles stellt und den über Regeln und Sanktionen abgesicherten Funktionszwang zum höchsten Kulturwert erhoben hat.

Passend zum Monatsthema "Meldepflichten", das die Nationale Anti Doping Agentur (NADA) in Bonn auf ihrer Facebook-Seite ventiliert, hat der Tischtennisprofi Timo Boll in der "Sport Bild" einen Vorschlag wiederholt, den er bereits vor drei Jahren äußerte (siehe Schattenblick-Kommentar [3]). Erneut bekundete der Rekord-Europameister, daß er kein Problem damit habe, wenn Fahnder der NADA zu überprüfende Sportler per GPS orteten: "Mir geht es da gar nicht so um die Wahrung der Privatsphäre. Mit einem Smartphone ist jeder Standort ermittelbar. Eine solche GPS-Ortung wäre für mich die bessere Lösung." [4]

Hintergrund: Um die als potentielle Betrüger wahrgenommenen SportlerInnen vor sich selbst zu schützen, betreibt die Welt Anti-Doping Agentur (WADA) ein ausgedehntes Kontroll- und Überwachungsregime, das die verdächtigen Athleten je nach Testpool-Zugehörigkeit dazu zwingt, lückenlos und bis weit in die Zukunft hinein Rechenschaft über ihre Aufenthaltsorte abzulegen. Selbst im Urlaub müssen sich die Kaderathleten jederzeit den Kontrolleuren für Blut- oder Urinprobenentnahmen zur Verfügung stellen - bei Urinabgaben mit freiem Blick auf ihr Geschlechtsteil. Die menschlich entwürdigenden Zugriffe auf den Athletenkörper und die Einschränkungen der persönlichen Freiheiten sind durch internationale Codes, Regelwerke und die UNESCO-Konvention (Internationales Übereinkommen gegen Doping im Sport) pseudolegitimiert.

Die Aufenthaltskontrolle geschieht entweder über das IT-basierte Meldesystem ADAMS oder über das sogenannte Athleten-Meldeformular. Wenn ein Athlet seine Aufenthaltsorte nicht einreicht und/oder bei Kontrollen nicht dort angetroffen werden kann, wo er angibt zu sein, kann dies zu einem sogenannten Strike führen. Auch unvollständige oder falsche Angaben können einen Strike zur Folge haben. Drei Meldepflicht- und Kontrollversäumnisse innerhalb von 18 Monaten (ab 2015 innerhalb von 12 Monaten) können wie ein positiver Befund zu einer langwierigen Dopingsperre (einschließlich sozialer Stigmatisierung) führen.

In Deutschland sind knapp 2000 Athleten den strengen Meldepflichten (RTP und NTP) der NADA unterworfen. Sie müssen ständig Informationen zu Erreichbarkeit und Aufenthaltsort bei ADAMS hinterlegen. Dazu gehört für Athleten der höchsten Risikoklasse auch die tägliche Pflicht, sich während eines 60minütigen Zeitfensters an einem von ihnen bestimmten Ort für die Kontrolleure zur Verfügung zu halten. Der Ort für die tägliche Stunde Anwesenheits-Knast muß drei Monate im voraus gemeldet werden. Änderungen im persönlichen Zeitplan müssen von den Athleten permanent aktualisiert, die Namen von Hotels, Etablissements oder Wohnungen von Freunden, in denen übernachtet wird, korrekt angegeben werden. Auf diese Weise leben die Kontrollierten in ständiger Angst vor Versäumnissen oder Fehlern, was sie wiederum empfänglich macht für jede Art der Systemoptimierung, die ihnen die Drangsal erleichtert.

Um weiterhin den Glauben aufrechterhalten zu können, sie wären freie oder gewissensreine Menschen, sind die Athleten gezwungen, einen projektiven Brückenschlag zu vollführen, der die realen Restriktionen mit dem dadurch bewirkten "guten Zweck" heiligt. "Ich bin für einen fairen Sport. Dafür nehme ich in Kauf, ein gläserner Athlet zu sein", sagt Timo Boll. Das Bekenntnis zum "fairen Sport" wird damit zur Superlegitimation für alle Arten persönlicher Freiheitseinschränkung. Nicht einmal Fleisch habe der Tischtennisspieler bei seinem letzten China-Aufenthalt gewagt zu essen. "Aus Angst vor nicht erkennbaren Zusatzstoffen, die auf der Dopingliste stehen", wie die Sport Bild in ihrem Bericht mit der Überschrift "Man muss Angst haben" schreibt. Untertitel: "Tischtennis-Star Timo Boll kritisiert die Dauerüberwachung im Kampf gegen Doping: GPS-Ortung sei besser als stressiges Melde-System".

Tatsächlich kritisiert Boll gar nicht die "Dauerüberwachung", die er als "gläserner Athlet" sogar in Kauf zu nehmen bereit ist. Vielmehr soll das Überwachungssystem so beschaffen sein, daß es für die Athleten so wenig Streß, Angst oder Arbeit wie möglich macht. Sein Vorschlag läuft auf einen elektronischen Bewegungsmelder hinaus, den Athleten ständig bei sich tragen könnten; ein kleines Kontrollmodul, das die Verdächtigen so "sanft" an die Angel nimmt, daß sie den Druck der Überwachung kaum noch spüren; ein "freundliches" Überwachungsinstrument, dem sich der Mensch freiwillig - des höheren Ziels wegen und weil es den Kontrollalltag erleichtert - fügt. Damit rennt Boll bei der NADA offene Türen ein, die schon vor Jahren ankündigte, über Vorschläge dieser Art nachdenken zu wollen. So unterstützt die Bonner Agentur, die im Zuge der bald erfolgenden Sportlerkriminalisierung (siehe geplantes Anti-Doping-Gesetz) einen behördenähnlichen Status erhalten soll, um mit Gerichten und Staatsanwaltschaften einfacher Verdachtshinweise und Informationen austauschen zu können, das Projekt des Leichtathleten Jonas Plass, ein "freiwilliges Ortungssystem" für Dopingkontrollen in Deutschland zu etablieren. Wie die NADA berichtet, entwickeln Plass und sein Team der gekko mbH in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer-Institut das System EVES. "Es soll die Organisation und Durchführung von Trainingskontrollen erleichtern und das ADAMS-Abmeldesystem der WADA sinnvoll ergänzen." [5]

Anfang September wurde das "freiwillige Ortungssystem" bei der Athletenvollversammlung des DOSB in Berlin den Delegierten im Beisein von Jonas Plass und NADA-Vertretern vorgestellt. Die NADA unterstützt das Projekt des Leichtathleten und Unternehmers, es soll inzwischen auch in offiziellen Gremien des Sports weiter vorangetrieben werden. Zudem sind ausgewählte Kadersportler aufgefordert, eigene Vorschläge zur technischen Optimierung einzubringen. Keine zwei Tage nach Bolls Ansage in der Sport Bild veröffentlichte der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) auf seiner Website einen Bericht, der bar jeder kritischen Reflexion für das Projekt EVES warb. Plass wird als jemand beschrieben, der großes Verständnis für ein strenges Kontrollsystem zeigt ("Wir wollen ja gleiche Chancen für alle.") und EVES lediglich als Ergänzung zu ADAMS sieht. Schließlich setze die WADA mit ADAMS weltweit einheitliche Standards, die auf nationaler Ebene nicht untergraben werden könnten, heißt es in dem Bericht. Athleten könnten durch das kleine GPS-Gerät, das Kontrolleure "anfunken" können, wenn die Testpersonen nicht am hinterlegten Aufenthaltsort anzutreffen sind, "ein Stück Sicherheit und Bewegungsfreiheit gewinnen dadurch, dass die Wahrscheinlichkeit von verpassten Dopingkontrollen minimiert würde". [6]

Daß sich in einem Anti-Doping-System, das erkennbar totalitäre Züge aufweist, die Wahrscheinlichkeitsverbesserung auch gegen die Athleten wenden könnte, weil sie ja nun durch ADAMS plus EVES erst recht keine "Ausreden" oder "Schutzbehauptungen" für Unzulänglichkeiten oder Versäumnisse mehr anführen können, taucht in den Big-Brother-Träumen des Jungunternehmers Jonas Plass offenbar gar nicht auf. Macht sich nicht jeder automatisch verdächtig, der sein Ortungsgerät vergessen hat mitzunehmen? Tat er/sie dies vorsätzlich oder aus Versehen? Will man EVES nicht als elektronische Fußfessel ähnlich wie bei Sexualstraftätern konzipieren, sondern als "Schlüsselanhänger, Armband oder Amulett", wie Vorschläge lauten, dann könnte Athleten demnächst auch die Sorge umtreiben, den Tracker hoffentlich nicht verloren zu haben - zusätzlich zur omnipräsenten Angst, bei ADAMS geschludert zu haben. Daß überdies DatenschützerInnen beim EVES-Projekt mitarbeiten, sollte die Athleten ebensowenig beruhigen, denn auch am massiv in die Grundrechte eingreifenden Melde- und Überwachungssystem der WADA bzw. NADA sind DatenschützerInnen beteiligt und haben ihren Segen gegeben. Wie unschwer zu erkennen, wurde mit Dr. Lars Mortsiefer genau deshalb ein promovierter Datenschützer und Jurist in die NADA-Führung geholt, um Zweifel und Kritik am unterdessen schwarz-weiß getünchten Überwachungsmonstrum zu neutralisieren.

Der Traum von Jonas Plass, bis zur Marktreife ein weltweites System zu schaffen, bei dem Athlet und nächst verfügbarer Kontrolleur bei Bedarf ganz einfach zueinander finden können, ist der Fluchttraum aller Gefangenen nach Erleichterung in Bedrängung und Zwang. Ohne das grundsätzliche Gewaltverhältnis zwischen Kontrolleur und Kontrolliertem auflösen zu können, lockert sein Überwachungsmodul allenfalls ein wenig die Bewegungsfessel und zieht sie dennoch strammer, weil Freiwilligkeit und Akzeptanz zu festen Gliedern des Unterdrückungssystems geworden sind.

Fußnoten:

[1] http://www.sueddeutsche.de/digital/auslandsgeheimdienst-bnd-will-soziale-netzwerke-live-ausforschen-1.1979677. 20.05.2014.

[2] http://www.zeit.de/politik/deutschland/2014-06/ueberwachung-bundeswehr-facebook-twitter-social-media. 02.06.2014.

[3] http://www.schattenblick.de/infopool/sport/meinung/spmek136.html. 04.11.2011.
KOMMENTAR/136: GPS-Freiheitsfessel für Athleten - nur der Datenschutz macht (noch) Probleme (SB)

[4] Gessner, D. und Schmidt, N.: Man muss Angst haben, in: Sport Bild (2014), Nr. 39, S. 97.

[5] http://www.nada.de/de/nada/aktuelles/newsdetail/?tx_news_pi1[news]=611&tx_news_pi1[controller]=News&tx_news_pi1[action]=detail&cHash=f27d36aae4#.VChNv0QzE2p. 15.09.2014.

[6] https://www.leichtathletik.de/news/news/detail/lokalisierung-mit-eves-mehr-sicherheit-im-adams-system/. 26.09.2014.

3. Oktober 2014