Schattenblick →INFOPOOL →SPORT → MEINUNGEN

KOMMENTAR/178: Quotenlogik verschlingt den Sport (SB)




Das Internationale Olympische Komitee (IOC), das sich in einer kommerziellen Todesspirale befindet, überprüft die Gültigkeit sportlicher Leistungs- und Konkurrenzprinzipien mit marktwirtschaftlicher Zerstörungseffizienz. Indem das IOC-Exekutivkomitee mit dem Ringen eine der urtümlichsten Sportarten aus dem olympischen Kernprogramm wirft, könnte es nicht besser demonstrieren, was im kapitalistischen Wertesystem wahre Geltungsmacht besitzt: Nicht Tradition, kulturelle Verankerung oder das, womit sich Menschen gemeinhin identifizieren oder was ihnen in der Produktions- und Reproduktionssphäre an sozialen oder materiellen Gewißheiten versprochen wird, sondern das über allem stehende Primat ökonomischer Verwertbarkeit.

Ähnlich wie Konzernleitungen Tausende von Menschen auf die Straße setzen, weil sich die Ausbeutung ihrer Arbeit unter den sich zuspitzenden Weltmarktbedingungen und Gewinnerwartungen der Aktionäre nicht mehr rentiert, hat auch das unter Wachstumszwang stehende Monopolunternehmen Olympia die Rechnung aufgemacht. Um das in die Jahre gekommene Hochglanzprodukt auf dem heißumkämpften Sportmarkt für die Sponsoren, Medien und (jugendlichen) Konsumenten attraktiv zu halten, wurden alle 26 olympischen Sommersportarten einer genauen Analyse unterzogen. Anhand von insgesamt 39 Prüfkriterien - u.a. TV-Quoten, Zuschauerzahlen, Ticketverkäufe, weltweite Verbreitung, Frauenquote, Organisationskosten, Mitgliederzahlen und Attraktivität bei Jugendlichen - war die Programm-Kommission des IOC zu dem Ergebnis gekommen, daß Ringen die niedrigsten Werte aufwies. Das 15köpfige IOC-Exekutivkomitee mit Präsident Jacques Rogge an der Spitze nahm die Vergleichszahlen zum Anlaß, in geheimer Abstimmung den Weltringerverband FILA auf die Ausschlußliste für die Sommerspiele 2020 zu setzen. Dem Vernehmen nach standen auch Hockey, Moderner Fünfkampf, Kanu und Taekwondo kurz vor dem Aus. Zum Nachteil für die Ringer mag sich zusätzlich ausgewirkt haben, daß sie keinen Lobbyisten der eigenen Sportart im Exekutivkomitee sitzen haben wie auch in anderen einflußreichen Funktionärszirkeln unterrepräsentiert sind.

Theoretisch könnte Ringen, sofern es von der IOC-Exekutive bei ihrer Mai-Tagung in St. Petersburg auf die Liste der Sportarten gesetzt wird, die neu ins Olympiaprogramm aufgenommen werden sollen, wieder hineingewählt werden. Auf der IOC-Vollversammlung vom 7. bis 10. September in Buenos Aires soll die endgültige Entscheidung fallen. Direkte Markt-Konkurrenten sind Baseball/Softball, Klettern, Karate, Rollschuhsport, Squash, Wakeboarden (Mischform aus Wasserski und Wellenreiten) und Wushu (chinesischer Kampfsport).

So unterschiedliche Nationen wie Rußland, USA, Iran, Aserbaidschan, Georgien, Bulgarien, Türkei, Weißrußland oder Kuba, wo das Ringen Volkssport ist, wollen nun in einer gemeinsamen Kraftanstrengung versuchen, Lobbyarbeit in eigener Sache zu betreiben. Die FILA, die eine Krisengruppe gebildet hat, will mit Hilfe von Marketingagenturen eine Strategie erarbeiten, wie Ringen als Sportart weiterentwickelt werden kann, um auf den letzten Drücker doch noch Akzeptanz zu finden. Dieses Ansinnen verschleiert, daß Marketing lediglich ein werbewirtschaftliches Instrument darstellt, die Entuferungen des Vergleichs in noch sportentferntere Regionen zu verlagern. Da sich alle Marktteilnehmer dieses Instrumentariums bedienen, bleibt der Verdrängungswettbewerb grundsätzlich bestehen. Sollten die Ringerverbände mit Hilfe von Werbeagenturen, politischer Protektion, offenen oder versteckten Wirtschaftsdrohungen, inoffiziellen Absprachen, Geschenken oder anderen marktgängigen Finessen ihre Sache zum Erfolg führen, dann nur deshalb, weil andere dafür bluten müssen.

Genau dies könnte der eigentliche Zweck der Übung sein. Indem das IOC eine Ballastsportart ("Modernisierung") über Bord wirft, wird den anderen signalisiert, sie könnten die nächsten sein. Auf geradezu archetypische Weise wird so der allgemeine Anpassungs- und Konkurrenzdruck erhöht. Der kurzen Phase der Erleichterung, selbst nicht betroffen zu sein, dürfte sich nahtlos eine erhöhte Betriebsamkeit bei allen olympischen Sportverbänden und ihnen verpflichteter Regierungen anschließen. Alle versuchen, es sich nicht anmerken zu lassen, daß sie das Unglück des Nebenbuhlers bereits ins Auge gefaßt haben. "Fairer Wettbewerb" oder "gesunder Konkurrenzkampf" bieten sich als sprachliche Kaschierungsmittel für die auf Gegenseitigkeit beruhenden Vorteilsmanöver an.

Die Damen und Herren der Ringe, die keinen Ruf mehr zu verlieren haben, den sie nicht schon längst verloren hätten (siehe u.a. der Sponsorenvertrag mit dem US-amerikanischen Giftgasproduzenten Dow Chemical), wird auch die neuerliche Protestwelle gegen den Ausschluß des Ringens nicht schwächen, sondern stärken. Denn statt Kritik an der totalen Ökonomisierung des Sozialen kreiden die bürgerlichen Medien dem IOC lediglich "übertriebene" Kommerzialität an, während sie den Mattensportlern nahelegen, ihre Lobbyarbeit zu intensivieren und sich ansonsten dem Zeitgeist entsprechend moderner aufzustellen. Die beste Garantie dafür, daß das IOC bald den nächsten Streichkandidaten aussortieren wird.

23. Februar 2013