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KOMMENTAR/128: Gläserne Fußballspieler - Liga total (SB)



Stellen Sie sich vor, Ihr Arbeitgeber würde über Ihrem Arbeitsplatz stationäre Kameras installieren, denen nichts entgeht: Jede Ihrer Aktionen wird peinlich genau aufgezeichnet, sämtliche Arbeitsabläufe, Verhaltensweisen, Pausen, Sozial-, Kunden- oder Geschäftskontakte quantitativ bestimmt. Anschließend laufen die Daten durch ein Computerprogramm, wo sie miteinander korreliert werden. Grundlage der Datenerhebung sowie der späteren Analyse ist ein arbeitswissenschaftlicher Definitionskatalog. Im Sinne des Arbeitgebers wird Ihr Bewegungs- und Arbeitspensum qualitativ bewertet. Anhand des individuellen Bewegungsprofils wird aufgezeigt, wo Sie überall säumig waren oder geschwächelt haben: Zu viele Pausen eingelegt, zu langsam bewegt, zu wenig Einsatz gezeigt, zu umständlich agiert, zu selten vorausschauend gehandelt, zu häufig zu spät gekommen, zu wenig Sozialkompetenz bewiesen, zu selten mannschaftsdienlich gespielt. Personenvergleiche werden vorgenommen. Ihnen wird das Profil Ihres Arbeitskollegen vorgehalten, der sich punktuell oder in der Summe besser, erfolgreicher, leistungsbereiter, effektiver, gewandter, ausdauernder, geschäftiger, kommunikativer usw. angestellt hat.

Sie glauben das nicht? Sie stellen die Kompetenz Ihrer wissenschaftlich geschulten Beobachter in Zweifel? Hier der Beweis als 3D-animiertes Bewegungsprofil. Kameratechnisch höchster Standard. Alles bestens dokumentiert, beweissicher digitalisiert, unbestechlich. In Superzeitlupe werden Ihnen detailgenau Ihre Unzulänglichkeiten und Makel vor Augen geführt. Dazu jede Menge Statistiken und Vergleichswerte von Berufskollegen, Ihren Konkurrenten! Die Beweislast ist erdrückend. Gleichzeitig werden Ihnen "BestViews" gezeigt, Standardsituationen und idealisierte Arbeitsmuster, wie Sie Fehler vermeiden und sich optimaler bewegen hätten können. Sie sind geplättet, eingeschüchtert, verzweifelt. Sie haben doch immer Ihr Bestes geben wollen!

Mächtig ins Schwitzen geraten, erscheint Ihnen der rettende Strohhalm. Voller Empörung rufen Sie: "Dort - da - der hat sich langsamer als ich bewegt!" Aufgebracht zeigen Sie auf den Bildschirm, wo die Laufwege Ihrer Nebenbuhler in plastischer Evidenz erscheinen. Mit ausgestrecktem Zeigefinger deuten Sie auf einen, der sich augenscheinlich vor seiner Arbeit drückt. Faulenzer, Bewegungsmuffel, Arbeitsverweigerer denken Sie, "Einzelauswertung!" fordern Sie. Ihr Gesicht beginnt sich aufzuhellen. Da steht es schwarz auf weiß: Der Kollege hat weniger Tagesgehleistung als Sie auf dem Score. Die durchschnittliche Bewegungsgeschwindigkeit liegt auch unter der Ihrigen. Außerdem: Viele Kundenkontakte, aber wenig zählbare Verkaufserfolge. Erleichterung macht sich breit. Ihre Selbstsicherheit kehrt zurück. Das Kamera-Tracking ist doch nicht so schlimm, denken Sie. Es beweist anhand objektiver Fakten, daß Sie keinesfalls der schlechteste sind. Gut, daß es nicht Sie getroffen hat. Ihnen leuchtet ein: Mit dieser Methodik werden Arbeitgeberentscheidungen nachvollziehbarer.

Heimgekehrt zu Ihrer Familie schauen Sie Ihrem Sohn über die Schulter. Er sitzt am Computer und guckt live im Internet Fußball. Ihre gemeinsame Leidenschaft. Spiegel Online ist schwer auf Zack. Zusammen mit den Boulevardblättern "Bild" und "Express" schöpft Der Spiegel aus dem riesigen Datenfundus der IMPIRE AG. Mit Beginn dieser Saison hat die Deutsche Fußball-Liga (DFL) erstmals offizielle Spieldaten zur Bundesliga eingeführt. Der Datenerfasser Impire hat den Auftrag zur Erhebung dieser Daten als auch zur exklusiven Vermarktung für Medien und Sportwetten erhalten [1]. Der Spiegel wirbt im Bild-Zeitungs-Jargon mit "Mehr Liveticker, mehr Statistiken, mehr mobil". Seit 5. August gibt es "einen ganz besonderen Service". Spiegel Online "präsentiert während der laufenden Partien ausführliche Live-Statistiken wie Pass- und Schussquoten, Ballbesitz oder die Zweikampfwerte zu jedem Bundesliga-Spieler - und das in Echtzeit!" [2]

Gemeinsam mit Impire bietet Der Spiegel eine in Deutschland bislang einzigartige Aufbereitung. Erstmals werden alle Spieler der 1. und 2. Bundesliga auch von zwei stationären Kameras verfolgt, die in allen 35 Stadien des Landes auf Höhe der Mittellinie unter dem Stadiondach montiert sind. "Dabei werden die Bewegungen aller eingesetzten Profis während der Partie elektronisch erfasst und später als Profil in einer 3D-Animation abgebildet. So wissen Sie ganz genau, ob sich Ihr Star während der 90 Minuten versteckt hat oder dem Stürmer die falschen Laufwege zum Verhängnis wurden", preist die Spiegel-Online-Redaktion ihr Angebot [2].

Zusammen mit Ihrem Sohn freuen Sie sich über die 3D-animierten Bewegungsprofile der Spieler, die "Heat-Maps" nach dem Schlußpfiff. Vor allem die Verstecke und falschen Laufwege der "Fußball-Millionäre" werden nun endlich transparent. "Die sollen mal was tun für ihr Geld", zischen Sie. "Grundlage der Datenerhebung sowie der späteren Analyse ist ein sportwissenschaftlicher Definitionskatalog", erklärt Impire [3]. Die Medien sind begeistert. Subjektive Eindrücke können nun mit objektiven Scouting- und Tracking-Daten unterfüttert werden. "Alles für eine Überwachung, die zum einen den Vereinen, zum anderen aber auch den Berichterstattern und den Fans ganz neue Einblicke ermöglicht: Wer läuft wohin und wie viel? Wer ist schnell und wer ist langsam unterwegs? Wer gewinnt und verliert die meisten Zweikämpfe? Wer passt am besten? Wer schießt am häufigsten?", schwärmt die taz [4]. "Es bleibt nichts verborgen", "Seit dieser Saison sind Fußballprofis gläsern", "Alles wird gemessen", "Trainerentscheidungen werden nachvollziehbarer", freut sich derselbe Autor in der Frankfurter Rundschau [5].

Sie und Ihr Sohn fühlen sich blendend animiert und unterhalten. "Dort - da - der hat sich langsamer als der andere bewegt!", rufen Sie mit freudiger Empörung. Ihr Zeigefinger weist auf den Übeltäter. Spiegel Online, Bild, Express und andere geben Ihnen Recht. Die Statistiken, Analysen und Grafiken des DFL-Datenerfassers beweisen es. Liga total - im Fernsehen, im Internet, in der Presse, am Arbeitsplatz, in den Köpfen der Menschen.

Anmerkungen:

[1] http://www.bundesliga-datenbank.de/

[2] www.spiegel.de. In eigener Sache. "SPIEGEL ONLINE geht in die Sport-Offensive". Von Mike Glindmeier. 04.08.2011.

[3] http://www.bundesliga-datenbank.de/de/products/

[4] www.taz.de. Laufwege, Zweikämpfe, Pässe. Der gläserne Bundesliga-Spieler. Von Frank Hellmann. 09.08.2011.

[5] www.fr-online.de. Neue Analyseformen in der Bundesliga. Es bleibt nichts verborgen. Autor: Frank Hellmann. 11.08.2011.

22. August 2011