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KOMMENTAR/087: Olympische Jugendspiele - Werteerziehung statt Aufbruch (SB)



Der Hochleistungssport hat zahlreiche Legitimationsproduzenten. Zu den bekanntesten zählt sicherlich der Sportwissenschaftler, Sportsoziologe und Spitzenfunktionär Helmut Digel, kürzlich emeritierter Professor an der Universität Tübingen. Der 66jährige Vizepräsident des Internationalen Leichtathletik-Verbandes (IAAF), dort für Marketing und Fernsehen verantwortlich, verteilt nicht nur Ehrendoktorwürden seines Instituts an IOC-Präsident Jacques Rogge oder an Ex-Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU). Er leistet den kommerziellen wie (sport)politischen Nutznießern des Hochleistungssports auch sonst allerhand wertvolle Dienste.

Rogges Vorzeigeprojekt, die in diesem Jahr erstmals in Singapur (14. bis 26. August) stattfindenden Olympischen Jugendspiele, hatte Digel anfangs noch als namhafter Kritiker in Frage gestellt (FAZ, 14.07.07, "Olympische Jugendspiele - Eine kleine, aber gefährliche Kopie"). Zum Entsetzen des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) hatte sich auch der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) zunächst noch gegen die Pläne von Jugendspielen gewandt. Nachdem Jacques Rogge aber den kürzlich auch als "Vordenker, Querdenker, Chefdenker" apostrophierten Digel, von 1993 bis 2000 Präsident des DLV, in die Arbeitsgruppe einlud, die das Programm der Jugendspiele vorbereitete, konvertierte der Tübinger Professor flugs zum akademischen Wegbereiter der Spiele für die 14- bis 18jährigen. Vor dem Sportausschuß des Deutschen Bundestages erklärte Digel, er sei nunmehr bereit, "konstruktiv bei der Ausgestaltung mitzuarbeiten". Seine früheren Bedenken habe er zurückgestellt: "Es werden schöne Olympische Jugendspiele werden, und sie werden auch sehr erfolgreich sein."

Obwohl hinlänglich dokumentiert ist, daß das IOC neben dem Fußball-Weltverband FIFA zu den großen "Global Playern" des Sport-Business zählt, das nicht nur kommerzielle Leistungs- und Verwertungszwänge, sondern auch ihre sogenannten Schattenseiten produziert und sozial reproduziert, behauptet Helmut Digel, daß das IOC mit der Ausrichtung der Olympischen Jugendspiele "keine ökonomischen Interessen" verfolge. "Es geht also bei diesen Spielen nicht um jenen Sachverhalt, der heute im wesentlichen den internationalen Sport prägt: Fernsehrechte, Einschaltquoten, Marketing, Sponsoring, Maximierung von Gewinn, Preisgelder, Werbeverträge, Unterhaltung und Showbusiness" [1].

Wie kann ein Sportsoziologe, sofern er sich nicht auf eine vollkommen weltfremde und die scharfen analytischen Instrumente seines Berufsstandes mißachtende Position zurückzieht, so etwas behaupten? Es bedarf sicherlich nicht der von Digel geforderten "Akademisierung des Sportjournalismus", um erkennen und nachweisen zu können, welchen primären Zielen zum Beispiel die "uneigennützigen" Entwicklungsprojekte des Fußball-Weltverbandes in afrikanischen, asiatischen oder karibischen Ländern dienen. Da darf man natürlich nicht die Fußball-Pädagogen fragen, die armen Kindern von adidas gesponserte Kunstlederbälle oder Trikots schenken, Gemeinschaftsgefühle spenden und ihnen hehre sportliche Werte und Tugenden vermitteln. Auch die FIFA-Funktionäre würden niemals öffentlich zugeben, daß es hierbei vornehmlich um verdeckte Stimmenkäufe und Machtpositionen innerhalb der FIFA-Günstlingswirtschaft geht. Genausowenig würde das IOC, das große Probleme hat, die Ipod-Generation für den sich zunehmend an den eigenen Widersprüchen auffressenden olympischen Sport als athletische Leistungsträger oder Konsumenten zu begeistern und zu mobilisieren [2], die Jugendspiele als perfektes PR- und Marketinginstrument bezeichnen, auf dem sich die ganze Klaviatur olympischer Wertevermittlung hoch- und runterspielen läßt (Einbeziehung digitaler Medien, Kultur- und Bildungsprogramme, Karriere- und Gesundheitsberatung, Anti-Doping-Prävention, teilweise gemischt nationale und geschlechtliche Wettkämpfe, nicht-olympische Sportarten etc.), um die Teenies für eben jenen ideellen Olympismus empfänglich zu machen, an dem schon die Altvorderen kläglich gescheitert sind.

Wären die Jugendspiele tatsächlich ein radikaler Gegenerzieher zu dem, was der internationale Sport der Erwachsenen nach Worten Digels "im wesentlichen" repräsentiert, dann müßten die Kinder und Jugendlichen eigentlich zu Nolympia-Aktivisten werden, die sich mit aller Entschiedenheit gegen die kommerzielle Ausbeutung des Sports - insbesondere durch das IOC - richten. Auch das sportliche Leistungs- und Konkurrenzprinzip, das die Kinder- und Jugendlichen in starke und schwache Wettkämpfer auseinanderdividiert und mit unterschiedlicher sozialer und materieller Anerkennung gegeneinander aufwiegt, wäre konsequent zu unterbinden - damit die Teilnehmer nicht den Weg ihrer Eltern und Großeltern in die kapitalistische Ellbogengesellschaft gehen. Wenn die Verfechter der Jugendspiele schon eine gehörige Portion Idealismus einräumen, warum dann nicht in eine Richtung, die eine grundlegende Abkehr von der leistungssportlichen Körperversklavung möglich macht? Haben die "Herren der Ringe" etwa auch die Visionen für sich gepachtet?

Laut DOSB-Presse habe der Vorsitzende der Deutschen Sportjugend (DSJ), Ingo Weiss, betont, oberstes Ziel sei es, "dass die Jugendlichen nicht verheizt werden". Da diese Gefahr im Erwachsenensport offensichtlich vorgelebte Realität ist - ansonsten bräuchte man sie ja nicht für die Olympischen Jugendspiele auszuschließen versuchen -, liefen die Jugendspiele also auf ein zwölftägiges Trainingscamp zur Schulung von Abwehrstrategien gegen verletzende und anmaßende Übergriffe von Trainern und Funktionären hinaus. Ob Helmut Digel eine solche Graswurzel-Bewegung gemeint hat, als er via DOSB-Presse [3] schrieb, daß es angesichts "der großen Probleme des Sports dieser Welt, die sich gerade auch im Wettkampfsport der Erwachsenen zeigen, angesichts von Betrug, Gewalt, Korruption und Manipulation" dringender denn je sei, "daß für die zukünftigen Generationen des Sports neue Leitbilder und nachahmenswerte Beispiele geschaffen werden, an denen man sich dort zu orientieren hat, wo der tägliche Sport stattfindet"? Wohl kaum. Die bürgerlichen Apologeten des Leistungssports mit ihren zur Allgemeingültigkeit erklärten Leitbildern, die die Vernutzung der "Ressource Athlet" (Digel) auf ethisch reine Weise betreiben wollen, sind ja gerade das Problem, als dessen Lösung sie sich ausgeben.

Konsequenterweise müßte bei der olympischen Erziehung zu "Freundschaft, Respekt, Fairplay" und - neue Wortschöpfung im alles- und nichtssagenden Wertekodex des IOC - "Exzellenz" auch den Kritikern des kommerziellen Olympismus vorbehaltlos und respektvoll begegnet werden. Ob die Sachwalter der olympischen Idee den Jugendlichen eine solche Begegnung einräumen werden?

Vor wenigen Tagen haben Bürgerinnen und Bürger in Oberammergau den Startschuß für eine Initiative gegeben, die einen Bürgerentscheid gegen die Beteiligung des Ortes an der Münchner Olympia-Bewerbung für 2018 erreichen möchte. Am 22. Juni war München mit seinem Konzept offiziell vom IOC zur Kandidatenstadt gekürt worden. Es ist nicht bekannt, ob die IOC-Funktionäre auch Mitglieder des Netzwerkes "Nolympia 2018" zu den Workshops im Rahmen des "Culture Education Programs" (CEP) während der Jugendspiele in Singapur eingeladen haben. Auch wäre es sicherlich sehr lehrreich für jugendliche Spitzensportler, sich von Vertretern des "Olympic Resistance Networks" (ORN) einmal berichten zu lassen, welch leidliche Erfahrungen die Bürger Kanadas bei den vergangenen Winterspielen in Vancouver mit Blick auf die olympischen Kollateralschäden wie Abbau von Bürgerrechten, Umweltzerstörung, Kostenexplosion, Umverteilung von Steuergeldern, Greenwashing-Betrug etc. machen mußten.

Inzwischen ist auch publik geworden, daß entgegen ersten Absichten der Programmgestalter, Nationalchauvinismen vorzubeugen und bei Siegerehrungen nur die olympische Hymne spielen und die olympische Flagge hissen zu lassen, nun doch bei jeder Medaillenzeremonie die Nationalhymne des Siegers ertönen wird. "In dieser Sache wurde ich klar und deutlich besiegt", räumte IOC-Präsident Jacques Rogge, der Hauptinitiator der Jugendspiele, kürzlich ein. Am Ende also doch wieder Medaillenzählereien und nationalistische Gefühlsduseleien bei den Jugendspielen?

Anmerkungen:

[1] DOSB-Presse. Hintergrund und Dokumentation VII. Nr. 11/11.03.2008 Gedanken und Empfehlungen von Prof. Dr. Helmut Digel

[2] SCHATTENBLICK > SPORT > MEINUNGEN > KOMMENTAR/052: Olympia digital - Kinder als Ware, Zielgruppe und Bezichtigungsobjekt

[3] DOSB-Presse Nr. 20/18. Mai 2010. Die Olympischen Jugendspiele sind eine große Chance. Von Prof. Helmut Digel

28. Juni 2010