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KOMMENTAR/069: Winterspiele in Vancouver - Todeskampf als Erziehungsprogramm (SB)



Wenn Eiskunstlauf-Olympiasiegerin Katarina Witt, die deutsche Chef-Werberin für die Olympischen Winterspiele 2018 in München, bei den gegenwärtigen Spielen in Vancouver erklärt, "Wintersport ist in unserer DNA", dann sollte das stutzig machen. Denn hinter ihrem charmanten Lächeln liegt nicht nur eine simple PR-Botschaft der olympischen Wintersportindustrie sowie des Deutschen Bundestages, der Münchens Bewerbung zum "nationalen Anliegen" erklärt hat, verborgen. Der während der Winterspiele in sein leistungssportliches Extrem gesteigerte Massensport führt auch auf exemplarische Weise vor, welchen destruktiven Körperumgang "wir" in den Genen haben sollen, so als ob dies die Natur des Menschen sei. Spitzensportlern wird auch deshalb eine Vorbildfunktion zugesprochen, weil sie die leibliche Überantwortung an fremde Kräfte, Wirkungen und Funktionen so auf die Spitze treiben, daß sie für Hinz und Kunz der Risikogesellschaft zum normativen Ideal werden, das für den durch Erwerbsarbeit geschädigten Menschen Akzeptanz in der Alltäglichkeit schafft. Die todesmutige Bereitschaft, sich mit bedingungsloser Hingabe und totalem Körpereinsatz dem Sturz durch die vereisten Schluchten auszusetzen, erfährt in Gestalt sozialer und materieller Anerkennung lediglich ihre Fortsetzung: "Herminatoren" werden gefeiert, "Stehauffrauen" bejubelt, Verletzte werden verarztet, Todesopfer beweint - die Übergänge zwischen den Stadien des heroisch siegenden wie sich zugrunde richtenden Athleten sind fließend, meist vom Zufall geprägt und einem Kräftespiel überlassen, dem der zum fleischlichen Stoßdämpfer verwandelte Mensch nur Verschleißmaterial sein kann.

Kein Tag vergeht während der Spiele in Vancouver und Whistler, wo nicht von gestürzten, verletzten, verunfallten, weinenden, verängstigten, geschockten oder traumatisierten Athleten berichtet wird. Der junge georgische Rodler Nodar Kumaritaschwili bezahlte seinen Einsatz bereits mit dem Leben, andere sind so schwer verletzt, daß sie von Wettkampfmedizinern nicht mehr sporttauglich gemacht werden können. In der olympischen Kernsportart Ski alpin, der "Königsdisziplin", haben die Pistenbauer die Abfahrt so schnell gemacht, daß die Teilnehmerinnen zum Teil regelrecht "zerlegt" wurden. Die Schwedin Anja Pärson, die beim Zielsprung "Hot Air" knapp 120 km/h schnell war und etwa 60 Meter weit flog, ehe sie den enormen Kräften nicht mehr standhalten konnte und "spektakulär stürzte", wie es immer so schön heißt, war am ganzen Körper grün und blau geschlagen. "Das war verdammt knapp. Sie hätte dabei leicht zu Tode kommen können", sagte ihr Trainer, der auch ihr Vater ist, wodurch im tragischen Unglücksfall die Gewissensbisse praktischerweise in eins gefallen wären. Das Gejammer nach dem tödlichen Unfall indes gleicht dem von Soldatenmüttern, die ihre Söhne oder Töchter lieber in den Krieg schicken, um anschließend rechtschaffende Klagelieder anzustimmen, anstatt sich im vorhinein mit aller Entschiedenheit gegen ihren Einsatz zu stellen und für eine andere Gesellschaft zu kämpfen, die Menschen weder zum Kanonenfutter im Feld noch auf der Piste macht.

Andere, wie etwa Edith Miklos, die drei Fangzäune durchbrochen hatte und mit Verdacht auf Kreuzbandriß per Hubschrauber abtransportiert werden mußte, zogen sich schlimmere Verletzungen als Anja Pärson zu. "Deutschlands Goldhoffnung" Maria Riesch war vom "Sturzfestival" und den Begleitumständen bei der Spezialabfahrt so mitgenommen, daß sie nach einer "indiskutablen Leistung" (Cheftrainer Mathias Berthold) Achte wurde. Spiegel-online (18.2.10) bescheinigte der im Zielraum "gebeugt wie eine alte Frau" auf ihren Skistöckern lehnenden 25jährigen, daß sie oben anders gestartet sei "als man sie kennt und bewundert und respektiert - zurückhaltend statt aggressiv, vorsichtig statt kämpferisch".

Mit anderen Worten: Zurückhaltung und Vorsicht sind schädlich, wenn es um das Lob des Trainers, die Bewunderung und Erwartung des Publikums, das eigene Sozialprestige und nicht zuletzt um die Erfüllung der Medaillen-Zielvereinbarungen geht, die die olympischen Sportfachverbände zusammen mit dem DOSB und dem Bundesinnenministerium in geheimer Runde auskungeln. Wer seine Topplazierung nicht bringt, schadet nicht nur dem eigenen Marktwert, sondern auch dem Skiverband. Der Todesmut der zu menschlichen Kanonenkugeln geformten Pistensäue liegt somit nicht in der "DNA", sondern ist staatliches und gesellschaftliches Erziehungsprogramm.

Keine 24 Stunden nach ihrem "enttäuschenden" Abschneiden holte Maria Riesch Kombi-Gold für Deutschland und wurde von den Medien überschwenglich als "Stehauf-Athletin" (Spiegel) gefeiert. Mit auf dem Siegertreppchen stand auch die von schweren Prellungen und Blutergüssen gezeichnete Schwedin Anja Pärson, die "mit Wut und jeder Menge Schmerzmitteln", wie sie verriet, Bronze errang. Der Spiegel schrieb vom "Tag der Wiederauferstehung" - von den Toten etwa?

Die Ästhetisierung der Agonie, die sich in schwindelerregenden Tempo- und Rekordjagten sowie halsbrecherischen Superstunts aus allen Kameraperspektiven äußert, wird von den Medien in allen Spielarten negativer und positiver Affirmation betrieben. Das reicht von scheinheilig geifernder Empörung über die vielen Stürze in den olympischen Eiskanälen (Bildzeitung: "Wer stoppt endlich diesen Wahnsinn?") bis hin zu draufgängerischen Lifestyle-Inszenierungen aus erster Hand. So zitiert der Spiegel Snowboard-Olympiasieger Shaun White nach seinem "atemberaubenden Sprung, den niemand sonst beherrscht", mit den Worten: "Es hat mich fast das Leben gekostet, ihn zu lernen." Nachahmer zogen sich bereits schwerste Verletzungen zu. Whites amerikanischer Rivale Kevin Pearce erlitt vergangenen Dezember beim Versuch, den "Double McTwist 1260", eine dreieinhalbfache Drehung um die eigene Achse mit einem Doppelsalto, zu erlernen, schwerste Kopf- und Hirnverletzungen - ein Sportinvalide mehr, den der Olympiazirkus, der heilige Eide auf den Coubertinschen Grundsatz "citius, altius, fortius" schwört, zu beklagen hat.

Der Circus Maximus der Römer ist der Nachwelt nur deshalb in Erinnerung geblieben, weil die Sklaven und Kriegsgefangenen ihr Leben für die Schaulust der Massen, die mit den Augen der Herrschenden sehen, geben mußten. Offensichtlich spielen nun auch die modernen Gladiatoren des olympischen Wintersportzirkus' wieder mit höchstem Einsatz, während die herrschenden Funktionäre für die entsprechende Wahrnehmung bei den Massen sorgen. Der Bob- und Skeleton-Weltverband FIBT verhängte einen später wieder dementierten Maulkorb für Athleten und Trainer, damit sie die eklatanten Probleme auf der High-Speed-Unglücksbahn nicht zu deutlich in die Öffentlichkeit tragen. IOC-Präsident Jacques Rogge soll den olympischen Eiskanal nach dem tödlichen Unfall und den vielen Stürzen bereits zur "Chefsache" erklärt haben. "Pauschalurteile verbieten sich", sagte unterdessen sein Vize Thomas Bach. "Sicherheit zuerst, die Gesundheit der Athleten steht im Vordergrund." Auch von "hundertprozentiger Sicherheit", die nicht herzustellen sei, ist wieder die Rede, und von "Restrisiko". Wer sich von den Sporttribunen mit diesen wohlfeilen Worten abspeisen läßt, hat immer noch nicht verstanden, daß sich im Vergleich zum Panem et Circenses nur die herrschaftstechnologische Form verändert hat. Der äußere Zwang ist heute marktförmig organisiert, sportwissenschaftlich geschient, pädagogisch enthemmt und risikoprognostisch abgesichert. Den Rest besorgen Tüftler wie etwa die des Leipziger Ingenieurbüros Udo Gurgel (IBG), die wie bestellt die Olympiabahn von Whistler, die schnellste überhaupt auf der Welt, temposcharf gemacht haben, oder des Instituts für Forschung und Entwicklung von Sportgeräten (FES) in Berlin, die im Auftrag der Bundesregierung die maschinelle Einheit von Mensch und Material auf Hochleistung trimmen. "Solange die Zielstellung besteht, dass Deutschland im Medaillenspiegel unter die ersten drei kommen soll", sagte FES-Direktor Harald Schaale nach einem Bericht von taz.de (04.02.10), "so lange sind wir unabdingbar und haben auch kein Legitimationsproblem". Und da sage noch einer, Wintersport liege uns in der DNA. Rekordträchtige Medaillenschmieden und todessüchtige Sturzfahrten sind im Hochtechnologie-Standort Deutschland Staatsauftrag!

22. Februar 2010