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KOMMENTAR/066: Hannover 96 feuert Trainer - Fußballzirkus geht weiter über Leichen (SB)



Wenn sich honorige Sportfunktionäre, Fanforscher und Politiker scheinheilig darüber empören, daß Fußballfans zu immer rabiateren Formen der Unmutsäußerung greifen wie Haßtiraden, Halsabschneidergesten oder gar Morddrohungen gegen Spieler, Trainer oder Funktionäre, dann sollte man auf ihre Lehrmeister in den Vereins- und Verbandsetagen schauen, die das Da-müssen-Köpfe-rollen-Geschäft im auf Leistung und Erfolg getrimmten Profisport permanent vorleben. Weil die Mannschaft von Hannover 96 seit der tragischen Selbsttötung ihres Torwarts und Kapitäns Robert Enke sieben Spiele ohne Sieg blieb und auf Tabellenplatz 16 abrutschte, mußte ein Sündenbock her, damit - so der fest verankerte Glaube im zivilreligiösen Sport - aus der rituellen Opferhandlung neue Kollektivkräfte geschöpft werden können. Den hatten die Vereinsbosse in Trainer Andreas Bergmann schnell gefunden. Nach nur 153 Tagen Amtszeit rollte sein Kopf, weil er Agenturberichten und Fanmeinungen zufolge "zu weich und zu verständnisvoll" gegenüber den Profis gewesen sei. Mit anderen Worten: Er war nicht hart genug zur 96er-Mannschaft, der nach dem Suizid von Enke sogar eine Traumatisierung attestiert wurde. Auch von Persönlichkeitsveränderungen als Folge der Verarbeitungsreaktion war da die Rede. Neuer Leithammel des Teams, das "ohne Mut und Mumm" (Kicker-TV/Spiegel-TV) sei, ist jetzt Ex-Schalke-Trainer Mirko Slomka.

Bekanntlich hatte es nach dem Enke-Tod, der in einer live im Fernsehen übertragenen Aufbahrung und andächtigen Reden in einem Fußballstadion gipfelte, in Liga, Verband und Medien ungeheuer gemenschelt. Statt wie gewohnt einfach nur zu funktionieren und (gesunde) Härte gegen sich und den Gegner zu zeigen, wie es Leistungssportlern seit jeher eingetrichtert wird, waren die trauernden Fußballprofis unfreiwilligerweise zum Innehalten, Nachdenken und kritischen Selbstreflektieren über die eigene instrumentale Rolle im Fußballgeschäft angehalten worden. Sogar die Massenblätter, die als Teil der kommerziellen Verwertungskette selbst Produzenten des beklagten Leids sind, prangerten das System an und nannten Schuldadressen. "Die Funktionalisierung und Entmündigung des Menschen im Fußballspieler wird gefördert vom Deutschen Fußball-Bund und der Deutschen Fußball Liga, die den Profivereinen Musterverträge vorgeben, welche aus Spielern Marionetten machen", hieß es in der FAZ (online, 16.11.09). Selbst "Der Spiegel" ging in sich und drechselte: "Die mutmaßlich unmenschliche Gnadenlosigkeit der zerbrechenden Industriegesellschaft im Kapitalismus haben wir umgedreht, indem wir aus der Höhe des Gehaltes eines Spielers oder Trainers das Recht ableiten, ihn ohne größere Kenntnis von Zusammenhängen wie ein Stück Dreck zu behandeln." (Spiegel online, 22.11.09)

Hohepriester des humanitär bemäntelten Leistungsdarwinismus wie DFB-Chef Theo Zwanziger forderten ohne rot zu werden "ein Stück mehr Menschlichkeit, ein Stück mehr Zivilcourage, ein Stück mehr Bekenntnis zur Würde des Menschen", unterließen es aber tunlichst, beispielsweise einen Kündigungsschutz für Spieler und Trainer einzuführen, die Auf- und Abstiegsregelung außer Kraft zu setzen oder gar die Entkommerzialisierung des Sports und seine Befreiung aus dem Joch fremdnütziger Zwecke zu verlangen. Das setzte allerdings eine gesellschaftliche Emanzipationsbewegung voraus, die die Funktionseliten des sportindustriellen und -politischen Komplexes erst recht nicht haben wollen. Statt dessen gründeten DFB, Ligaverband und Hannover 96 die Robert-Enke-Stiftung zur "Förderung von Maßnahmen und Initiativen, die der Aufklärung, Erforschung und Behandlung der Krankheit Depression dienen", wie es offiziell heißt. Man will offenbar auch die Depressiven, insbesondere unter Sportlern, dazu bringen, daß sie mit den Härten des Profitums irgendwie klarkommen. Da unterscheiden sich die Sportskanonen nicht von den Soldaten, die man hinterher auch lieber wegen ihren schweren Traumata therapieren will, anstatt sie gar nicht erst in völkerrechtswidrige Angriffskriege zu schicken. Der ökonomischen Ratio des Fußballgeschäftes folgend, wäre es sicherlich am effektivsten, wenn man sowohl die psychisch labilen als auch physisch angeschlagenen Spieler noch als vollwertige Mitglieder in den leistungssportlichen Produktionsprozeß einspeisen könnte. Wozu gibt es denn Sportpsychologie, -medizin und - wissenschaft, wenn nicht als für-, vor- und nachsorgliche Zurichter des Menschenmaterials?

Das der Peitsche entwöhnte Spielermaterial von Hannover 96 fand indessen nicht in die Erfolgsspur zurück. Nach dem Trauerevent um Enke gingen die Klubverantwortlichen mit der Zeit immer harscher dazu über, der Mannschaft den Weg in die leistungssportliche "Normalität" zu weisen, will heißen, sie wieder zu entmenschlichen - denn nur so macht die kurzzeitig aufschäumende Kritik am "Theater der Grausamkeit" und der "Unmenschlichkeit des Sports" (Gunter Gebauer) überhaupt Sinn. Gedenkminute und Trauerflor wurden abgeschafft, Enkes riesengroßes Trikot wird in der Bundesliga-Rückrunde nicht mehr im Stadion hängen, die vormals mit Erinnerungsstücken an den Torhüter gespickten Auslagen des Fanshops wurden gesäubert. Die Wahrnehmung aller soll wieder auf den Fußball-Alltag, der für Hannover inzwischen Abstiegskampf pur bedeutet, fokussiert werden. Nur vorn am Haupteingang des Stadions sind noch zwei Fahnen in Gedenken an Enke zu sehen, dazu ein paar Erinnerungszeilen, außerdem soll ein Tribünenteil Enkes Namen tragen, Stadtpolitiker planen überdies einen Platz nach ihm zu benennen.

Der symbolpolitischen Entsorgung Enkes folgte die professionelle Inpflichtnahme der Mannschaft auf dem Fuße. Schon blies der Manager der 96er, Jörg Schmadtke, der "Betriebssportgruppe" wieder gehörig den Marsch. Nach einer Testspiel-Niederlage bei Union Berlin kritisierte er das instabile Nervenkostüm und die Zweikampfschwäche der Spieler, forderte ein kollektives Auftreten der Mannschaft und drohte den Profis mit Rauswurf: "Wer nicht mitzieht, der muß aussortiert werden."

Wäre man versucht, auch nur eine Sekunde lang die Worte von DFB-Präsident Zwanziger ernst zu nehmen, der anläßlich der Trauerfeier im 96er Stadion in einer pathetischen Rede die Zuschauer dazu aufgefordert hatte, "aufzustehen gegen Böses" und das "Kartell der Tabuisierer und Verschweiger einer Gesellschaft, die insoweit nicht menschlich sein kann, zu brechen", dann müßte eigentlich die WM-Arena in Hannover als bauliche Insigne alles Verwerflichen im Profisport dem Erdboden gleichgemacht werden. Denn dort wird nun wieder der Verdinglichung menschlicher Vitalkräfte ent- und der Tabuisierung ausbeuterischer Funktionen im Profisport mit aller Härte zugesprochen.

Noch vor der einhellig als "blamabel" verurteilten Niederlage beim Tabellenletzten Hertha BSC hatte der angeblich zu weiche und schwache Trainer Bergmann selbst den verbalen Rohrstock rausgeholt. "Es müssen Maßnahmen ergriffen werden, ohne übertrieben Rücksicht zu nehmen. Das erfordert das Geschäft. Es ist ein Job. Da hängen Arbeitsplätze dran und es gibt eben diese Brutalität. Wir leben in einer Leistungsgesellschaft und müssen irgendwann auch wieder funktionieren. Auch die Mannschaft muss wieder funktionieren", zitierte FAZ online (12.1.10) den Trainer. Niemand wagte einen Tabubruch und widersprach öffentlich seinen nicht nur hart klingenden, sondern auch brutal umzusetzenden Worten. Eine Fußballnation, die die herrschaftsförmigen Werte des Sports dermaßen verinnerlicht hat, steht auch nicht auf und bricht den Klassenkompromiß, etwa weil immer mehr Menschen im wachsenden Maße zu Niedriglohn, Ein-Euro-Jobs, unbezahlter Mehr- und dauerhafter Leiharbeit, Hartz IV sowie der Akzeptanz von Verdachts- und Bagatellkündigungen, heimlicher Bespitzelung am Arbeitsplatz oder zu Arbeit trotz Krankheit genötigt werden. Das wissen Leute wie CDU-Politiker Zwanziger, deshalb können sie auch gefahrlos den Tabubruch predigen, an die vermeintlich wahren Werte des Sports appellieren und sich anschließend dafür auch noch von Politik-Freunden und Sozialwissenschaftlern Honig ums Maul schmieren lassen.

Das über Leichen gehende Verwertungssystem des Profisports funktioniert so gut, daß sich die erfolgsverpflichteten Trainer mit ihren leistungspuristischen Reden selbst den Strick um den Hals legen. Nach der Beurlaubung von Andreas Bergmann kommentierte FAZ-online "Keine Entlassung wie jede andere" - Irrtum, eine Entlassung wie jede andere im kapitalistischen Ausbeutersystem!

25. Januar 2010