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KOMMENTAR/040: Leichtathletik-WM in Berlin - dem Volk einen Bären aufbinden (SB)



Wer glaubt, daß die Mitterechtsparteien, die laut Umfragen bezüglich des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan etwa Zweidrittel der Bevölkerung gegen sich haben, nur dann den Volkszorn fürchten müssen, wenn sich die Bundeswehr, weiträumig gesichert von Polizei und Feldjägern, vor dem Berliner Reichstagsgebäude aufpflanzt und öffentliche Gelöbnisfeiern im Namen von "Frieden, Recht und Freiheit" zelebriert, der sei eines Besseren belehrt. Auch anläßlich der Leichtathletik-Weltmeisterschaft (15. bis 23. August) soll die Friedhofsruhe im Reichstag nicht gestört werden.

War zunächst geplant, die Marathon-Strecke unmittelbar am Haupteingang des Reichstags entlang zu führen, so wurde diesem Ansinnen wegen "Sicherheitsbedenken" der Experten eine Absage erteilt. Sehr zum Verdruß der Potentaten im Bundestags-Sportausschuß, die sich die Gelegenheit nicht entgegen lassen wollten, auf sportlich unverfängliche Art und Weise Volksnähe zu demonstrieren. "Das ist wirklich eine ganz ärgerliche Entscheidung", sagte Ausschuß-Vorsitzender Peter Danckert (SPD), der sich bereits im vergangenen September dafür stark gemacht hatte, daß die beiden WM-Marathonläufe (22. und 23. August) auf dem 10 km langen Rundkurs mit Start und Ziel am Brandenburger Tor unmittelbar am Reichstag entlanggehen.

Nun haben Sportpolitiker wie Danckert mit Generalverdächtigungen zwar selbst dafür gesorgt, daß kreuzbrave Spitzenathleten nur mehr als "potentielle Doping-Betrüger" mit "krimineller Energie" wahrgenommen werden. Doch daß von den Läufern eine ernsthafte Gefahr für die Parlamentarier ausgehen könnte, würde wohl niemand behaupten. Die Gefahr geht vielmehr vom Volke selbst aus, das sich auch von dem nach den Olympischen Sommerspielen und der Fußball-WM drittgrößten Sportereignis der Welt weder in den patriotischen Freudentaumel noch entlang der Strecke in Partystimmung versetzen lassen will. Ein Volk also, das den Zweck der WM-Veranstaltung durchschaut hat und die Gunst der Stunde nutzen könnte, den Politikern die drängenden Probleme dieser Stadt und des Staates so nahe zu bringen, daß keine vergatterten Sportfeste dies verhindern könnten. So hieß es 23 Tage vor dem WM-Start, daß sich die Polizei im Gegensatz zur Fußball-WM 2006 nicht auf gewaltbereite Fans einstellen müsse, allerdings sei man vor "politisch motivierten Straftätern" (www.morgenpost.de, 23.7.09) gewarnt. "Sie haben mit dieser Veranstaltung und der entsprechenden Öffentlichkeitswirksamkeit eine Plattform für medienwirksame Aktionen", ließ der Berliner Senat wissen und versicherte, daß die Veranstalter und die beteiligten Behörden umfangreiche Sicherheits- und Einsatzkonzepte erarbeitet hätten.

Mit der Warnung vor "politisch motivierten Straftätern" werden Protestierende oder Demonstranten, ohne daß sie auch nur gegen irgendein Gesetz verstoßen hätten, im vorhinein kriminalisiert. Mit dieser Formel wird nicht nur das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung zu beschneiden versucht, sondern im Grunde jede "politische Motivation" in den Ruch einer strafbaren Handlung gestellt. Politisch unmotivierte Bürgerinnen und Bürger, die beim Feiern über die Stränge schlagen und beispielsweise Sach- oder Personenbeschädigungen anrichten oder, wie vom Senat prognostiziert, "veranstaltungstypische Straftaten" wie Diebstahl, Raub oder Betrug begehen, sind nicht so gefährlich wie "politisch motivierte", vor denen der rot-rote Senat ausdrücklich warnt. Zugleich wird letzteren als Frevel angelastet, daß sie die Veranstaltung als Plattform für öffentlichkeits- und medienwirksame Aktionen nutzen könnten, was wiederum im Kontext der vorweggenommenen Kriminalisierung heißt, daß Demonstranten auf strafwidrige Weise Öffentlichkeit suchten.

Diese Verlautbarungspolitik kann nur als gezielte Einschüchterungsmaßnahme begriffen werden, als Versuch, sich gegen jede Form von Kritik - natürlich auch an der teuren Sportluxusveranstaltung selbst - abzuschotten. Und in der Tat, je mehr die Berliner darüber nachdenken, was für ein Kuckucksei ihnen da ins Nest gelegt wurde, desto saurer könnten sie auf die Politiker werden.

Das gilt insbesondere für den verarmten Bevölkerungsteil, der von der WM praktisch ausgeschlossen wird. Selbst die Athleten haben bereits beklagt, daß die Eintrittskarten viel zu teuer seien. So kostet die billigste Dauerkarte für alle neun Tage 350 Euro. Das kann sich kaum einer der 240.000 Arbeitslosen sowie 573.000 Hartz-IV-Empfänger, immerhin nahezu jeder fünfte Berliner, leisten. Die preiswerteste Einzelkarte kostet 13 Euro (Vormittagsticket), ansonsten sind zwischen 30, 45, 75 und 135 Euro zu berappen.

Von der teuren Großveranstaltung, von der ein hoher Werbeeffekt für Berlin erwartet wird, sollen angeblich alle profitieren. Diesen Eindruck versucht jedenfalls Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit zu vermitteln. "Wir diskutieren nicht über Defizite, wir liegen gut im Kurs", sagte der dauergrienende SPD-Politiker im WDR-Fernsehen (sport-inside, 22.6.09). Sorgen müsse sich keiner machen. "Wir können uns das leisten, und das Geld kommt ja auch wieder doppelt, dreifach zurück."

Mag das Maskottchen der WM auch ein tapsiger Braunbär namens "Berlino" sein, einen Bären sollten sich die Bürgerinnen und Bürger dennoch nicht aufbinden lassen. Das Organisationskomitee (BOC) plant mit einem Etat von 44 Millionen Euro. 14,85 Millionen soll der bislang schleppend verlaufende Karten-Verkauf einbringen. 7,1 Millionen sollen aus Marketing-Erlösen von Sponsoren, die sich bislang eher dünn machten, sowie aus dem Verkauf der Hospitality-Pakete kommen. Weitere 2,05 Millionen sind sonstige Einnahmen, z.B. durch den Souvenirverkauf.

Knapp die Hälfte des WM-Etats, nämlich 20 Millionen Euro, steuert das Land Berlin bei. Außerdem stellt es zusätzlich 13,3 Millionen für die Herrichtung des Stadions sowie die Infrastruktur zur Verfügung. Hinzu kommt noch ein nicht näher bezifferter siebenstelliger Betrag für das Sicherheitskonzept. All dies sind Haushaltsausgaben, die das mit rund 60 Milliarden Euro verschuldete Land Berlin seinen Bewohnern in anderen Sozialbereichen per Rotstiftpolitik in Rechnung stellt, etwa indem die Stadt reihenweise Schwimmhallen dichtmacht, den Breitensport am Hungerhaken hält, Schulsportanlagen, die dringend der Renovierung bedürfen, verkommen läßt, Kulturprojekte streicht und vieles mehr.

Dem WDR-Bericht zufolge befinden sich vor allem Turnhallen in Berliner Grundschulen in einem miserablen Zustand: Sanitärräume erinnern an Zustände wie in der Dritten Welt, Kinder treiben Sport um Wassereimer herum, weil das Dach undicht ist, Schulen warten seit langem auf Gelder zur Sanierung. Der Vorsitzende des Eltern-Landesausschusses in Berlin, Andre Schindler, monierte in der Sendung, daß in den letzten Jahren nicht investiert worden sei: "Wir haben zerfallene Gebäude, zerfallene Sportstätten. Wir sind aber durchaus bereit, nach dem Motto 'Brot und Spiele braucht die Stadt' - und der Regierende Bürgermeister steht sehr, sehr gern für Spiele -, eben die WM hierher zu holen."

Eine WM, die Berlin noch teurer zu stehen kommen könnte, als die 20 Millionen Euro plus mindestens 14,3 Mio. für Infrastruktur und Sicherheit, die bereits jetzt veranschlagt sind. Sollte die wohlwollende Etat-Rechnung der WM-Organisatoren nicht aufgehen, wird das Land Berlin weitere Millionen nachschießen. Der Deutsche Leichtathletik-Verband (DLV) als alleiniger Gesellschafter des WM-Organisationskomitees haftet nämlich nur mit dem Stammkapital von 26.000 Euro. Danach wäre die Insolvenz angesagt. Anschließend stelle sich die Frage, so DLV-Präsident Clemens Prokop im WDR-Fernsehen, "wie stehen dann Deutscher Leichtathletik-Verband und das Land Berlin in diesem Fall zur Verfügung, um die Folgen abzuwenden". Was nicht wirklich eine Frage ist, denn der Berliner Senat hatte bereits im Februar signalisiert, ein mögliches Defizit der Leichtathletik-WM "unter bestimmten Bedingungen" übernehmen zu wollen.

Wer wirklich von der WM profitiert, das sind über den unmittelbaren ökonomischen Nutznießerkreis hinaus die öffentlich-rechtlichen Sender ARD und ZDF, die mit Hilfe der Leichtathletik-WM die neue Fernsehära der HDTV-Geräte (High Definition Television) einläuten wollen, und nicht zuletzt Politiker, die sich im Glanz dieser internationalen Heile-Welt-Veranstaltung sonnen und zugleich Kritikern, etwa "politisch motivierten" Elternsprechern, Arbeitsloseninitiativen oder Kriegsgegnern, den "Straftäter"-Stempel auf den Mund drücken können. Es reicht ja, wenn die "DDR-Doping-Opfer" wie angekündigt die Leichtathletik-WM als öffentlichkeitswirksame Plattform nutzen, um Anti-DDR-Kampagnen und den Überwachungsstaat begünstigende Dopinghysterien zu schüren - die sind nicht "politisch motiviert", sondern politisch erwünscht und werden möglicherweise sogar mit einer Opferrente vergolten.

Bleibt noch zu erwähnen, daß auch die Pharmaindustrie ihren Reibach machen wird - nicht wegen der paar Dopingsünder und der noch viel geschäftstüchtigeren Anti-Doping-Industrie, sondern weil die Menschenmassen bei der WM die Ansteckungsgefahr mit der Schweinegrippe erhöhen. Die Berliner Krankenhäuser haben bereits die Laborkapazitäten erhöht. Beim WM-OK soll es zudem einen in Abstimmung mit der Gesundheitsverwaltung, Amtsärzten und medizinischen Kommission des Weltverbandes IAAF vereinbarten Stufenplan geben, der allerdings vor der Öffentlichkeit geheimgehalten wird. Viren als "Straftäter" zu brandmarken, würde beim Zuschauervieh nur zu unkontrollierten Panikausbrüchen und "irrationalen Verhaltensweisen", wie der Veranstaltung fernzubleiben, führen!

26. Juli 2009