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KOMMENTAR/015: WADA-Code 2009 stellt Spitzensportler unter Hausarrest (SB)



Hätte der englische Schriftsteller George Orwell geahnt, daß der Doping-Legalismus einmal zur zentralen Bezichtigungsachse des repressiven Leistungs- und Spitzensports avancieren würde, dann hätte er sein 1945 erschienenes Werk "The Sporting Spirits", in dem er über den "wirklichen Sport" eiferte, er sei verbunden mit "Haß, Eifersucht, Prahlerei, Mißachtung aller Regeln und sadistischem Vergnügen an der Betrachtung von Gewalt - mit anderen Worten: Krieg ohne Schüsse", noch um einige Kapitel für rigide Sozialkontrolle erweitern können, die ausdrücklich auf regelkonformem Boden stattfindet. Längst hat sich nämlich der "saubere Sport" für a l l e Athleten als Schlinge um den eigenen Hals erwiesen, die sich um so fester zuzieht, je mehr die Betroffenen den Verfügnissen des Leistungssportsystems, das von Leuten gemacht und vorangetrieben wird, die selbst nicht von den mit dem Anti-Doping-Kampf einhergehenden massiven Einschränkungen der Grundrechte betroffen sind, genügen wollen.

Daß die Sportfunktionäre im Detail nicht einmal selbst wissen, was für ein Schikanesystem sie ihren Schutzbefohlenen aufbürden und welche juristischen Komplikationen sich daraus ergeben, bezeugt die teilweise im Eiltempo vollzogene Implementierung des seit dem 1. Januar 2009 gültigen Anti-Doping-Codes der Nationalen Anti-Doping Agentur (NADA), der 76 Seiten umfaßt und auf der Grundlage des 136seitigen Codes der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) erstellt wurde, in die Satzungen der 33 olympischen Sportverbände in Deutschland. Erst zwei Tage vor Jahresschluß waren beispielsweise dem Bob- und Schlittenverband (BSD) letzte, und dann immer noch unvollständige Anhänge des NADA-Codes zugeleitet worden, davon 50 Prozent in englischer Sprache, wie BSD-Präsident Andreas Trautvetter monierte, der DOSB und NADA deshalb ein schlechtes Zeugnis ausstellte. Trotzdem nahm das BSD-Präsidium per E-mail-Abstimmung diese Teile des NADA-Codes in seine Satzung auf. "Aber durchsehen, was da alles zu machen ist, auf was ich alles achten muß als verantwortlicher Präsident eines Spitzenverbandes - da gebe ich keine ehrliche Antwort, daß ich das Regelwerk durchschaue. Dann würde ich lügen", so der langjährige thüringische Minister im Deutschlandfunk (1.1.09).

Was vom Verbandspräsidium blanko abgesegnet wurde, stellt im ganzen gesehen ein Machwerk sondergleichen dar. Allein dem Umstand, daß die Medien von Bild über SZ und taz bis hin zum Deutschlandfunk fest in das Anti-Doping-Regime eingebettet sind, da sie ausschließlich als Scharfmacher und Antreiber des repressiven Anti-Doping-Kampfes agieren, ist es geschuldet, daß den Athleten so gut wie keine Gelegenheit in der Öffentlichkeit gegeben wird, um ihre massiven und elementaren Probleme mit dem neuen NADA-Code (respektive WADA-Code) vorurteils- und verdachtsfrei artikulieren, geschweige denn diskutieren zu können. Der Sport-Medien-Komplex hat die Widersprüche des Anti-Doping-Kampfes bis zur Verleugnung, daß auch ein alternativer Umgang mit dem Problem der erlaubten und unerlaubten Leistungsmanipulation im Sport möglich sein könnte, regelrecht tabuisiert. Zum gesellschaftlichen Skandal wird nicht etwa erklärt, daß im Doping-Bezichtigungsgefüge keine Anpassungsleistung der Athleten hinreichen könnte, um sich vom Verdacht der "unsauberen Leistung" freizuhalten, selbst wenn sich die Athleten wie Laborratten vollständig der sozialen und medizinalen Kontrolle unterwerfen würden. Im Gegenteil. Skandalisiert wird, daß sie sich nicht "intelligent" und oft genug haben kontrollieren lassen.

Es gehört zu den fundamentalen Irrtümern von Spitzensportlern, daß sie sich durch immer weitreichendere Einlassungen auf Kontroll- und Meldeauflagen, Überwachungsmaßnahmen sowie der Transparenzmachung ihrer biologischen Kennziffern von Schuld, Vorwürfen und Verdächtigungen aller Art freihandeln könnten. Was sich allerdings qualifiziert, sind zum einen die Verfügungsgewalt in Händen der Big-Brother-Agenturen NADA und WADA sowie ihrer Zuträgerdisziplinen, zum anderen die Selbstverständlichkeit, mit der die Athleten entmündigt, entrechtet und kriminalisiert werden. Die Institutionalisierung des Anti-Doping-Kampfes hat die dem Leistungssport und der Leistungsgesellschaft systemimmanente Doping-Problematik auf ein Gleis gesetzt, das inzwischen ganzen Berufsständen sowie Wirtschafts- und Wissenschaftsbereichen als Vehikel ihrer Existenzberechtigung dient.

Längst hat die Verabsolutierung des repressiven Anti-Doping-Kampfes ein Stadium erreicht, daß Athleten keine Meinungsäußerung mehr in der Öffentlichkeit abgeben können, ohne sich im vorauseilenden Gehorsam von jeglichem Tun, das sie auch nur entfernt mit Dopingpraktiken in Verbindung bringen könnte, ausdrücklich zu distanzieren. Wer frank und frei seine Meinung sagt, zumal wenn sie sich nicht in dopingpolitischen Opportunismen erschöpft, wird von der Anti-Doping-Journaille abgestraft und gerät automatisch ins Verdachts- und Kontrollfenster der Dopingjäger.

Es nimmt deshalb nicht Wunder, daß letzte verzweifelte Bemühungen von Vertretern der europäischen Sportlergewerkschaft "EU Athletes", die die Interessen von etwa 25.000 Athleten aus 30 verschiedenen Sportlergewerkschaften repräsentiert, zumindest einen kläglichen Restbestand von Athletenrechten zu bewahren, in der deutschen Medienlandschaft nahezu totgeschwiegen werden. So hatte lediglich der Deutschlandfunk in einem alibihaften Kurzbeitrag (13.12.08) davon berichtet, daß sich jetzt die Europäische Kommission und der Europäische Rat mit dem Regelwerk des neuen Welt-Anti-Doping-Codes beschäftigen müssen. Die niederländische Europaparlamentsabgeordnete Emine Bozkurt (Europäische Sozialistische Partei) hat gemeinsam mit der Sportlergewerkschaft EU Athletes eine Überprüfung des WADA-Kodex gefordert, da er gegen elementare Grundrechte und Arbeitsgesetze verstoße [1].

"Wenn man im Namen des Sports die Bürgerrechte opfern will, wo will man die Linie ziehen?", fragte die Niederländerin im DLF. "Natürlich muß etwas gegen die Betrüger unternommen werden, und es gibt Sportarten, die sind dopingverseuchter als andere. Eine kleine Gruppe von Athleten betrügt. Aber sollen alle unter ihrem Benehmen leiden?"

Damit stellt Emine Bozkurt den Doping-Legalismus nicht grundsätzlich in Frage, der aus fundamentalkritischer Sicht ein gesellschaftliches Täuschungsmanöver darstellt, um einerseits von den destruktiven Folgen des Leistungssports abzulenken (siehe die vielen Halb- und Vollinvaliden, die der Spitzensport ganz legal produziert), und andererseits die Athletenschaft permanent in weiße und schwarze Schafe spalten und in Erweiterung des sportlichen Konkurrenzprinzips gegeneinander aufbringen zu können (wer Kollegen denunziert, wird im WADA-Code sogar durch Strafnachlaß belohnt), so daß sie besser beherrschbar sind und zur Funktion gebracht werden können.

Auch wenn man davon ausgehen muß, daß die Initiative der EU Athletes lediglich neue, EU-weit harmonisierte Standards der Rechtswillkür in Dopingfragen festlegen wird, schließlich wurde die vermeintlich unabhängige WADA auf maßgeblichen Druck und mit finanzieller Hilfe durch die EU-Sportminister geschaffen (man erinnere sich an die Initiativen des früheren Innenministers Otto Schily), so legt die Gewerkschaftsinitiative der Athleten doch einen Teilbereich der vielfältigen Widersprüche des Doping-Legalismus' offen, die in der Sportberichterstattung normalerweise unter der Decke gehalten werden, um die Athleten nicht auch noch mit der Nase darauf zu stoßen, welchen Preis der Unfreiheit sie für ihren vermeintlichen "Schutz vor Leistungsbetrug" zu bezahlen haben.

Bozkurt kritisiert sowohl die unangemeldeten Trainingskontrollen, die teilweise mitten in der Nacht erfolgen, als auch die Meldepflicht, welche ein klarer Verstoß gegen geltende Bürgerrechte der EU, u.a. des Schutzes der Privatsphäre und der Arbeitszeitbestimmungen, sowie gegen den Datenschutz sei.

Der Deutschlandfunk wollte offenbar die Pferde nicht scheu machen und verzichtete darauf, die genaue Wortwahl der EU Athletes, mit der sie die Aufenthaltsmeldepflicht von Spitzensportlern kritisieren, nämlich "Hausarrest, eine Stunde am Tag, 365 Tage im Jahr", wiederzugeben. Leider steht auch das "Statement on Anti-Doping and WADA Code" der EU Athletes nur in einer englischsprachigen Version im Internet [2,3] zur Verfügung, so daß hiesigen Sportlern der leichte Zugang unnötigerweise erschwert wird.

Zu Recht fragte der Präsident des EU Athletes, Yves Kummer - ein Niederländer, der auch in der Vereinigung von Basketballspielern in Deutschland (SP.IN) mitwirkt - im Deutschlandfunk: "Was wird der nächste Schritt sein, wenn man jetzt die Verletzung grundsätzlicher Menschenrechte erlaubt. Werden die Sportler in ihren Häusern 24 Stunden lang mit Webcams beobachtet oder werden sie mit GPS-Systemen am Körper oder den Schuhen kontrolliert?"

Sportler werden in Verletzung der Privat- und Intimssphäre dazu gezwungen, vor den Augen der Kontrolleure zu urinieren, damit sie die Proben nicht manipulieren können. Teilweise schon im Morgengrauen werden sie zusammen mit ihrer ganzen Familie - ältere Athleten haben kleine Kinder - aus dem Bett geklingelt und müssen die Hosen runterlassen. Ein Fall wurde berichtet, wo ein Athlet einen Banktermin abbrechen mußte, weil die Kontrolleure kamen. Da er im Beisein seines zweijährigen Kindes nicht urinieren mochte und es auch nicht alleine lassen konnte, mußte er unter ständiger Aufsicht des Kontrolleurs nach Hause fahren, um dort die Testprozedur abzuleisten.

Athleten, die kurzfristige Terminänderungen wahrnehmen müssen, z.B. aus beruflichen oder organisatorischen Gründen, und wegen der Zeitknappheit ihren aktuellen Aufenthaltsort nicht rechtzeitig über Internet ummelden können, riskieren entweder einen "Missed Test" (Athlet wird nicht innerhalb des von ihm angegebenen Zeitfensters für eine Dopingkontrolle angetroffen) oder müssen den wichtigen Termin aufgeben. Wer innerhalb von 18 Monaten drei solcher Meldepflichtverstöße begeht, wird gesperrt. Wer seine "Whereabouts" nicht korrekt abgegeben hat, sprich die ein Vierteljahr im voraus vorgenommene Ankündigung, wo er sich wann auf 90 Minuten genau aufhalten wird, wird ebenfalls verwarnt. Mußte bisher der Verband den Athleten nachweisen, daß sie sich nicht richtig verhalten hatten, so wird die Beweislast mit dem neuen WADA-Code umgekehrt. Ab sofort müssen die Athleten ihre Unschuld nachweisen, was wie schon bei der seit langem praktizierten Beweislastumkehr bei positiven Befunden äußerst schwerfällt.

Yves Kummer berichtete zudem von zwei Amateur-Rugbyspielern, denen man bei Doping-Kontrollen Marihuanakonsum nachgewiesen hatte. Sie werden jetzt mit vollen Namen auf der Website des Rugbyweltverbandes als Doping-Sünder angeprangert. "Wenn die jetzt Arbeit suchen und ihre potentiellen Arbeitgeber googeln sie, wird man diese Einträge finden. Für einen Amateur, der zweimal die Woche trainiert, ist es schon eine harte Bestrafung, wenn er bei der Jobsuche befürchten muß, deshalb keine Arbeit zu finden", so Kummer.

Die Liste der Zumutungen und Einschränkungen von Grundrechten bei Athleten im Banner des "sauberen Sports" ließe sich beliebig fortführen. Doch es gibt keine Gegenöffentlichkeit, die dem Willkür- und Schikanesystem der Dopingkämpfung wirksam die Stirn bieten könnte. Im Gegenteil, schon fordert die Deutsche Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention (DGSP), daß man doch die B-Probe bei Dopingkontrollen abschaffen sollte - weil die Funktionäre es so schwer hätten, "gute Urteile zu sprechen". Wann merken die Athleten endlich, daß sie von den Saubermännern und -frauen des organisierten Sports durch den Kakao gezogen werden?

[1] www.europarl.europa.eu - Parliamentary questions, 18 December 2008 [2] www.euathletes - EU Athletes Statement on Anti-Doping and WADA Code [3] www.spinbb.net - Vereinigung von Basketballspielern in Deutschland

24. Januar 2009