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KOMMENTAR/013: Präventionssport für ein "kostenverträgliches Kurzableben" (SB)



Vor dem Hintergrund der "Überalterung" der Gesellschaft leistet auch der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) kräftig Steigbügeldienste, sich dem Staat als Kostenbremser und Austreiber sozialstaatlicher Leistungen zu empfehlen. "Sportvereine leisten mit ihren Programmen zur gesundheitlichen Prävention und Rehabilitation einen bedeutenden Beitrag zur Förderung der Volksgesundheit und zur Entlastung des Sozialstaates", stand bereits vor gut zwei Jahren in einem Positionspapier des DOSB, der den Sport als Staatsziel im Grundgesetz verankern möchte, zu lesen [1]. Um dem Staat im Gesundheits- und Sozialbereich sparen und gleichzeitig das neoliberale Dogma von der Eigenverantwortung in der Bevölkerung durchsetzen zu helfen, erweisen die selbst vom staatlichen Geldmittelfluß abhängigen Sportfunktionäre dem Kostendrückerargument der desolaten Gesundheitspolitik ihre Reverenz: "Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sparen körperlich aktive Personen 500 Euro pro Jahr an Kosten für das Gesundheitssystem. Gutachten der Medizinischen Hochschule Hannover belegen, dass bis zu 40 % der Kosten im Gesundheitssystem verhaltensbedingt entstehen. Bewegungsmangel ist neben falscher Ernährung und Genussmittelmissbrauch einer der wichtigsten Faktoren. Volkwirtschaftler sprechen von bis zu 30 Mrd. Euro, die in Deutschland über Bewegungsprogramme eingespart werden." [ebd.]

Unter dem Menetekel des "demografischen Wandels" geraten zunehmend ältere Menschen, Menschen über 50 Jahren, als größte Kostentreiber ins Visier der Sozialstaatsentlaster. "Die von chronisch degenerativen Krankheiten geprägte Lebensphase verlängert sich dadurch kontinuierlich und stellt den größten kostentreibenden Faktor für alle Gesundheitssysteme der entwickelten Industriegesellschaften dar", hatte schon der Deutsche Sport-Bund (DSB), die Vorgängerorganisation des DOSB, einen der "mächtigsten und umfassenden Trends der nächsten Jahrzehnte" schwarz an die Wand gemalt. Europäische und amerikanische Regierungen seien gleichermaßen beunruhigt, hieß es in der DSB-Presse [2]. "Einig ist man sich weltweit, dass es nur eine Methode gibt, die beschwerdefreie Lebensspanne zu vergrößern und die Krankheitsphase zu verkürzen: Die flächendeckende Einführung präventiver Maßnahmen."

Im Klartext: Der Freizeit-, Breiten- und Gesundheitssport soll auf der Grundlage des Kostenarguments helfen, daß die Alten schön lange fit bleiben, möglichst gar nicht krank werden - und sollte doch die "Krankheitsphase" kommen, dann hoffentlich kurz, ehe die Klappe fällt. In Anlehnung an das berüchtigte Wort vom "sozialverträglichen Frühableben" des früheren Ärztepräsidenten Karsten Vilmar ließen sich die Bestrebungen im Präventionssport auch auf die kurze Formel eines "kostenverträglichen Kurzablebens" bringen.

Oder andersherum: Wer sich nicht genügend sportlichen Präventionsmaßnahmen unterzogen hat, der treibt nicht nur die Kosten in die Höhe, sondern hat auch selbst Schuld an seinen "Beschwerden" während seiner "Lebensspanne", die sich offenbar von der kostentreibenden "Krankheitsphase" abgrenzt, so als ob nur ein gesunder, unter den Verwertungsbedingungen des Kapitalismus produktiver und arbeitssamer Mensch beanspruchen könnte zu leben. Gerechnetes Leben wird damit über die Kostenachse zu bewertetem Leben. Oder zum bestraften Leben, denn schon schießen vom organisierten Sport geradezu herbeigesehnte Krankenkassen-Modelle ins Kraut, die über Bonussysteme Verhaltensänderungen in der Bevölkerung erwirken sollen. Wer also nicht spezielle Sportprogramme zur Erhaltung der Gesundheit - inzwischen auch des wünschenswerten Körpergewichts - absolviert hat, der wird entweder in vollem Umfang zur Kasse gebeten oder verwirkt, was der nächste Schritt wäre, Ansprüche auf eine vollumfängliche Gesundheitsfürsorge.

Was das Geld betrifft, so soll die "Problemgruppe" der Alten vor ihrer Krankheitsphase - die möglicherweise durch Fitneßprogramme nur später, also phasenverschoben einsetzt - aber noch tüchtig abgemolken werden. Denn laut einschlägigen Marktanalysen handelt es sich bei den heute rund 15 Millionen über 50jährigen um "Best Ager", also um eine für die Sport- und Freizeitindustrie lukrative Zielgruppe von hoher Konsumfreude. "Gleichzeitig legen diese Menschen viel Wert auf Qualität, gute, persönliche Beratung und guten Service und sind dafür bereit, höhere Preise zu bezahlen", reibt sich die Branche die Hände.

Wer Geld hat, der kann sich auch Gesundheitsprävention und ein "aktives Leben" bis zum bitteren Ende leisten. Kürzlich warb der Deutschlandfunk für das SCHNEE-Vital-Programm des Deutschen Skilehrerverbandes (DSLV), das speziell für die Bedürfnisse der über 55jährigen aufgelegt wurde und sogar Spezialkurse für Knie-, Hüft- und Rückengeschädigte im Angebot hat. Sensation der Sendung war eine 73jährige Großmutter, die zusammen mit ihrem Enkel das Kursangebot des "Generationen-Schwungs" wahrnahm und sich zum ersten Mal auf ein Snowboard wagte.

Nichts gegen Wagemut auch im hohen Alter und Renitenz gegen den schier erdrückenden Jugendwahn in der Gesellschaft. Bedenklich ist nur, daß hier über die kommerzielle Schiene und über die Befriedigung individueller Bewegungs- und Konsumfreuden einer Gesundheitspolitik Vorschub geleistet wird, die das vermeintlich gesunde Sporttreiben nicht nur zum Maßstab, sondern auch zum Sanktionsmittel aller erhebt. Die anspruchsvolle Zielgruppe der 50 plus-Generation ist im bürgerlichen Sinne meistenteils noch gutsituiert, auch was ihre Teilhabe an den Renten-, Kranken- und Sozialversicherungssystemen betrifft. Deshalb eignet sie sich besonders, den nachfolgenden Agenda 2010- und Hartz-IV-Generationen den Sozialstaatsabbau in Gestalt vitaler Sportlichkeit vorzuleben. Da Ausgangspunkt dieser Gesellschaftskampagne immer das Kostenargument war, kann sich der minderbemittelte Bevölkerungsanteil auf Zeiten einstellen, die im diametralen Verhältnis zur beanspruchten solidarischen Gemeinschaft stehen. Sollte die Maxime des bis ins hohe Alter sportlich aktiven Menschens nicht mehr unter Freiwilligkeit gestellt sein, sondern mit dem gesundheitspolitischen Kostendrückersystem verkoppelt werden, was derzeit mit aller Macht betrieben wird, dürften nicht nur die Senioren ein Problem haben, sondern alle Bürgerinnen und Bürger, denen künftig unter dem Gültigkeitspostulat statistischer Wahrscheinlichkeit die Schuld für Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Herzinfarkt, Schlaganfall), Krankheiten des Muskel-Skelett-Apparates (Rückenschmerzen, Verschleiß etc.) und sogar Krebserkrankungen (Dickdarm-, Brust- und Lungenkrebs) aus Gründen des Bewegungsmangels oder unterlassener präventiver Maßnahmen individuell angelastet werden kann. Der gesundheitspolitischen Hatz auf "zu dicke" Menschen folgt inzwischen bereits die auf "zu dünne", um schließlich die gesellschaftlich akzeptierte Mangel-Norm zu etablieren. Der eingangs erwähnten Formel vom "Genußmittelmißbrauch" wird absehbar die des "Nahrungsmittelmißbrauchs" folgen. Das liegt angesichts der weltweit immer knapper werdenden Nahrungsressourcen auf der Hand. Just hat beispielsweise der Chef der Berliner Ärztekammer, Günther Jonitz, eine Gesundheitsabgabe ("Big-Mac-Steuer") für Nahrungsmittel, die angeblich "krank machen, wie Alkohol, Tabak und Fastfood" gefordert - natürlich zur Finanzierung des Gesundheitssystems und zur Stärkung von Eigenverantwortung und Prävention.

Der sozial- und gesundheitsmedizinisch lavierte Verwaltungszugriff wird jede Form abweichenden Verhaltens nicht nur unter Kontrolle zu bringen suchen, sondern auf eine Weise sanktionieren, daß die mit Body-Mass-Index, Pulsuhr und Schrittzähler aufs Reproduktionsoptimum gebrachten Betroffenen tatsächlich glauben, sie täten etwas für ihre Gesundheit, obwohl sie sich nur auf den gerade aktuellen Stand gesellschaftlicher Bezichtigungsverhältnisse trainiert haben. Das kann durchaus spaß- und lustvoll geschehen, deshalb ist der Sport ja so wertvoll.

[1] Aus Positionspapier des DOSB-Präsidiums in seiner Sitzung am 16.10.2006 in Düsseldorf. [2] DSB-Presse Nr. 13, 25.03.2003, Seite 9-11

10. Januar 2009