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MELDUNG/2201: Ein Joker in der Hinterhand (SB)



Dillian Whyte führt die neue WBC-Rangliste im Schwergewicht an

Der Verband WBC hat seine Rangliste im Schwergewicht neu sortiert und Dillian Whyte wie erwartet auf Nummer eins gesetzt. Der 29 Jahre alte Brite, für den 22 Siege und eine Niederlage gegen seinen Landsmann Anthony Joshua zu Buche stehen, hatte am 28. Oktober im Principality Stadium in Cardiff die Oberhand gegen den Finnen Robert Helenius behalten. Sein Promoter Eddie Hearn zeigt sich nach wie vor bestrebt, ihm einen Titelkampf gegen WBC-Champion Deontay Wilder zu verschaffen. Der US-Amerikaner verlangt jedoch nicht nur erheblich mehr Geld, als ihm der britische Promoter bislang angeboten hat, sondern insbesondere eine vertragliche Kopplung mit einem Duell der Weltmeister gegen Anthony Joshua, der die Gürtel der WBA und IBF in seinem Besitz hat. Diese Zusage will ihm Hearn, der gegenwärtig Vorgespräche mit Wilders Team führt, aber bislang nicht geben.

Um Wilder für einen Kampf gegen Whyte zu gewinnen, hatte dessen Promoter zunächst ein Angebot von 3 Millionen Dollar ins Gespräch gebracht. Der WBC-Weltmeister wies dies mit der nachvollziehbaren Erklärung zurück, er fordere ein Duell mit Anthony Joshua und lasse sich nicht mit einem Gegner abspeisen, der ihn nicht im geringsten interessiere. Wenn überhaupt, werde er für 7 Millionen Dollar mit im Boot sein. Später erhöhte Hearn die gebotene Summe auf 4 Millionen Dollar, worauf Wilder betonte, er verlange eine Klausel im Vertrag, die einen anschließenden Kampf gegen Joshua garantiere. Sollte sich Eddie Hearn dazu durchringen, tatsächlich 7 Millionen Dollar für Deontay Wilder springen zu lassen, würde das fast zwangsläufig bedeuten, daß die Börse Dillian Whytes schmal ausfällt.

Wie Whyte vor dem Kampf gegen Helenius bekräftigt hatte, werde er nichts unversucht lassen, um Deontay Wilder vor die Fäuste zu bekommen und sich den WBC-Titel zu sichern. Sollte er der festen Überzeugung sein, den US-Amerikaner besiegen zu können, wäre er vermutlich auch bereit, eine relativ geringe Gage in Kauf zu nehmen. Als Weltmeister hätte er natürlich ungleich bessere Karten als derzeit, einen hochdotierten Auftritt mit Anthony Joshua zu bekommen, der in England eine Riesenarena füllen könnte. Ein Haken unter vielen in dieser Rechnung ist allerdings der Umstand, daß ihn der Verband zwar nun an der Spitze seiner Rangliste führt, aber noch nicht offiziell zum Pflichtherausforderer erklärt hat.

Wenngleich die Nummer eins der Rangliste in aller Regel den Status erhält, den amtierenden Weltmeister des betreffenden Verbands innerhalb einer festgelegten Frist herauszufordern, kommt es durchaus vor, daß die Verbandsführung einen anderen Modus wie etwa einen Ausscheidungskampf vorzieht. Ob das WBC also Dillian Whyte zum führenden Kandidaten befördert hat, um ihm einen Kampf gegen Wilder zuzuschanzen, muß sich erst noch erweisen. Doch selbst wenn der Champion aus Tuscaloosa in Alabama zu einer Pflichtverteidigung gegen den Briten verdonnert würde, hieße das nicht zwangsläufig, daß dieser Kampf sofort realisiert werden könnte. In den Verhandlungen zwischen Eddie Hearn und Wilders Berater Al Haymon sowie seinem New Yorker Promoter Lou DiBella dürfte es um zwei Kämpfe in Folge zwischen Joshua und Wilder gehen, um auch die Revanche sicherzustellen und finanziell auszuschlachten. Whyte käme daher 2018 nicht zum Zuge und wäre wohl auch im Anschluß daran nicht automatisch der bevorzugte Kandidat, mit dem der neuen Superstar des Schwergewichts in den Ring stiege. [1]

Von diesen Unwägbarkeiten abgesehen, stellt sich natürlich grundsätzlich die Frage, ob Dillian Whyte überhaupt an erster Stelle der WBC-Rangliste stehen sollte. Legt man seine letzten fünf Kämpfe zugrunde, fällt die Antwort skeptisch aus. Sein Auftritt mit Robert Helenius war so langweilig, daß das Publikum in Cardiff die gesamten zwölf Runden weitgehend schweigend über sich ergehen ließ. Ähnliche Zweifel sind allerdings im Falle von Tony Bellew (6) oder Charles Martin (8) geboten, um nur einige Kandidaten unter den Top des WBC zu nennen, die an den genannten Positionen überbewertet wirken. So hat Bellew bislang nur einen einzigen Kampf im Schwergewicht bestritten und allein deswegen gegen David Haye die Oberhand behalten, weil sich dieser nach einigen Runden ein Riß an der rechten Achillessehne zuzog. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Bellew kein Land gesehen und auch danach gelang es ihm nicht, den praktisch bewegungsunfähigen Gegner rückhaltlos anzugreifen und entscheidend zu treffen. Der Kampf endete schließlich, als Haye gestolpert und aus dem Ring gefallen war, worauf sein Trainer das Handtuch zum Zeichen der Aufgabe warf, als sein Boxer wieder hinaufkletterte und trotz seiner schweren Verletzung weiterkämpfen wollte, da er noch immer Chancen sah, Bellew auch aus dem Stand mit einem seiner gewaltigen Schwinger zu erwischen.

Wie diese Episode zeigt, ist Whyte beileibe nicht der einzige Kandidat in der WBC-Rangliste, über dessen gute Plazierung man sich wundern müßte, nähme man diese Rangfolge ernst. Sie ist jedoch weit davon entfernt, zumindest ein halbwegs plausibles Bewertungsverfahren zu repräsentieren. Da es im Boxsport zwangsläufig keine standardisierte Punktvergabe für Sieg oder Unentschieden gibt, die wie in anderen Disziplinen eine objektive Einstufung suggerieren würde, stellt jede Form der Rangliste in hohem Maße eine willkürliche Zuteilung dar. Selbst wenn in den höchsten Rängen jeder gegen jeden kämpfen würde, wozu es natürlich nie kommt, könnte man sich noch immer über die Reihenfolge streiten.

Seine einzige Niederlage bezog Dillian Whyte am 12. Dezember 2015 im Kampf gegen Anthony Joshua, dem er schon zu Amateurzeiten einmal böse zugesetzt hatte. Er galt deshalb als gefährlicher Herausforderer und wurde dieser Einschätzung auch zwei Runden lang gerecht, indem er dem Favoriten beträchtliche Schwierigkeiten bereitete. Er war jedoch mit einer Verletzung an der linken Schulter in den Kampf gegangen, die sich erheblich verschlimmerte, als er Joshua in der zweiten Runde mit einem wuchtigen linken Haken heftig erschütterte. Danach kämpfte Whyte nur noch mit einem gesunden Arm weiter, was im Verbund mit Konditionsproblemen dazu führte, daß der ebenfalls konditionsschwache Joshua sich wieder erholte und schließlich in der siebten Runde die Oberhand behielt.

Dies stellte eine Zäsur in der Karriere Dillian Whytes dar, dessen gefährlichste Waffe bis dahin der linke Haken gewesen war. Seit der Verletzung samt nachfolgender Operation kann er mit diesem Arm nicht mehr die Wirkung entfalten, einen hochklassigen Kontrahenten auf die Bretter zu schicken. Und da seine Rechte von jeher schwächer war, sind seine Aussichten verschwindend gering, mit Kontrahenten wie Wilder oder Joshua fertigzuwerden. Dies zeigte sich auch im Dezember 2016, als er seinem Landsmann Dereck Chisora ein spektakuläres Gefecht lieferte, das allseits mit Hochachtung bedacht wurde. Whyte erwies sich dabei noch immer als ein furioser Kämpfer, doch fehlten ihm sichtlich die Mittel, um den Gegner entscheidend zu schwächen oder gar auf die Bretter zu schicken. Zudem ist es um seine Deckung schlecht bestellt, sobald er sich Kombinationen ausgesetzt sieht. So konnte Chisora mitunter fünf oder sechs Treffer in Serie landen, die sein Kontrahent allerdings problemlos wegsteckte. In einem Kampf gegen Wilder oder Joshua, die erheblich wirksamer zuschlagen, wäre ein derart offenes Scheunentor jedoch verhängnisvoll. Chisora hatte Whytes Grenzen deutlich aufgezeigt, zumal dessen hauchdünner Punktsieg von vielen Experten als ein Geschenk kritisiert wurde.

Promoter Eddie Hearn, bei dem Anthony Joshua und Dillian Whyte unter Vertrag stehen, brachte zeitweise eine Revanche mit Dereck Chisora ins Gespräch, dann wieder einen zweiten Kampf gegen Joshua, zumal sich schon der erste bei Sky Box Office im Pay-TV ausgezeichnet verkauft hatte. Zuletzt drängte Hearn auf eine Herausforderung Deontay Wilders, denn würde es Whyte wider Erwarten gelingen, sich des WBC-Titels zu bemächtigen, ließe sich ein außerordentlich lukratives innerbritisches Duell zweier Weltmeister inszenieren. Eddie Hearns Interesse ist so groß, daß er bereits für den 3. Februar 2018 die Londoner O2 Arena vorgebucht hat, um dort den Kampf zwischen Wilder und Whyte zu veranstalten. Dillian Whyte ist ohne Frage ein Joker seines Promoters, der allerdings seine Wirkung vor allem dann entfaltet, wenn er nicht ausgespielt wird.


Fußnote:

[1] http://www.boxingnews24.com/2017/11/dillian-whyte-now-officially-ranked-no-1-wbc/#more-246903

11. November 2017


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