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MELDUNG/2015: Aus dem Ruder gelaufen (SB)



Ruslan Prowodnikow am Scheideweg

Wenngleich man in der Rückschau den Zeitpunkt bestimmen kann, wann Ruslan Prowodnikows vielversprechende Profikarriere aus dem Ruder gelaufen ist, gestaltet sich die Suche nach den Gründen für den Niedergang des russischen Halbweltergewichtlers weit schwieriger. Der in Berjosowo geborene Prowodnikow gewann als Amateur 130 von 150 Kämpfen, doch blieben ihm aufgrund der starken Konkurrenz im eigenen Land - vom Gewinn der Kadetten-Europameisterschaft 2000 in Athen abgesehen - bedeutende internationale Auftritte verwehrt.

Nach seinem Wechsel ins Profilager gewann er am 3. Dezember 2006 das Debüt in Jekaterinburg wie auch die folgenden zwölf Kämpfe, wobei er acht Gegner vorzeitig bezwingen konnte. Im November 2009 sicherte er sich in Samara durch einen Sieg über den Argentinier Victor Hugo Castro bereits in der zweiten Runde die Interkontinentale Meisterschaft der WBO. Auch 2010 war ein erfolgreiches Jahr für den Russen, der jedoch im Januar 2011 den ersten Rückschlag hinnehmen mußte, als er Mauricio Herrera in Las Vegas nach Punkten unterlag.

Prowodnikow ließ sich davon aber nicht beirren und kehrte auf die Siegerstraße zurück, bis er am 16. März 2013 einen Titelkampf gegen Timothy Bradley, den WBO-Weltmeister im Weltergewicht bekam. Bei diesem Auftritt in Carson machte Prowodnikow eine gute Figur und setzte dem Favoriten gehörig zu, der in der ersten und zwölften Runden zu Boden ging, aber dennoch umstritten nach Punkten gewann. Auch diese Niederlage warf den Russen nicht aus der Bahn, der schließlich am 19. Oktober 2013 in Denver Mike Alvarado durch Aufgabe nach der zehnten Runde besiegte und damit WBO-Champion im Halbweltergewicht wurde.

Da viele Experten von Ruslan Prowodnikows beherzter Kampfesweise und enormer Schlagwirkung angetan waren, sagte man ihm eine lange Regentschaft als Weltmeister voraus. Als ihn daher Chris Algieri am 14. Juni 2014 in Brooklyn herausforderte, rechnete man mit einer vorzeitigen Niederlage des Lokalmatadors, der im Schlagabtausch keine Gefahr für den Champion darstellen würde. Algieri landete denn auch gleich in der ersten Runde zweimal auf den Brettern, worauf sich Prowodnikow nicht die Mühe machte, dem mobilen Gegner nachzusetzen. Offenbar überzeugt, daß der endgültige Niederschlag über kurz oder lang kommen müsse, ließ er Algieri herumtanzen und punkten, bis es zu spät war. Die Sensation war perfekt, da der New Yorker am Ende die Oberhand behielt.

Nach dieser Niederlage, die ihn den Titel des Weltmeisters kostete, waren die Meinungen geteilt, ob Prowodnikow um den verdienten Sieg geprellt worden sei oder den Rückschlag leichtfertig verschuldet habe. Chris Algieri, dem schon im Vorfeld des Kampfs wesentlich größere Aufmerksamkeit als dem Russen geschenkt worden war, gab seiner Karriere einen gewaltigen Schub und bekam in der Folge einen Kampf gegen Manny Pacquiao, der ihn allerdings klar dominierte und sechsmal auf die Bretter schickte. Da sich Ruslan Prowodnikow nach den früheren Niederlagen gegen Herrera und Bradley umgehend wieder auf den Weg nach oben gemacht hatte, neigte man auch in diesem Fall dazu, lediglich von unglücklichen Umständen oder einem Fauxpas auszugehen, nicht jedoch von einem Wendepunkt in der Karriere des Russen, als der sich dieser unnötig anmutende Titelverlust später darstellen sollte.

Im Kampf gegen Algieri konnte Prowodnikow eine Börse von 750.000 Dollar einstreichen, während der Herausforderer magere 100.000 Dollar erhielt. Wäre es gelungen, den Russen mit einem Sieg in New York zum Star aufzubauen, hätte dies seinen Anspruch untermauert, sich mit einem der führenden Akteure dieser Gewichtsregion wie Manny Pacquiao zu messen. Im Falle eines Kampfs gegen den Philippiner wären für Prowodnikow vermutlich bis zu fünf Millionen Dollar herausgesprungen. An seiner Stelle kam Algieri zum Zuge und konnte sich nach der Niederlage gegen Pacquiao zumindest eines finanziellen Trostpflasters von 1,675 Millionen Dollar erfreuen.

Im November 2014 schien alles wieder im Lot zu sein, als sich Prowodnikow vorzeitig gegen José Luis Castillo durchsetzte. Dieser Erfolg ermutigte ihn, sich im April 2015 mit dem Argentinier Lucas Matthysse zu messen, der als der gefährlichste und spektakulärste Akteur der Gewichtsklasse galt. Dabei steckte der Russe in den ersten sechs Runden schreckliche Prügel ein, was ihn zwar nicht hinderte, in der zweiten Hälfte des Kampfs tapfer aufzuholen, doch seine Punktniederlage nicht abwenden konnte. Wieder schien es nach einem Absturz bergauf zu gehen, als Prowodnikow im November 2015 in der vierten Runde gegen Jesus Alvarez Rodriguez die Oberhand behielt. Doch im Juni zog er gegen John Molina den kürzeren, wobei er diesmal ganz im Gegensatz zu seinen früheren Auftritten seltsam unmotiviert wirkte, als habe er den Kampfgeist eingebüßt, der ihn vordem ausgezeichnet hatte.

Für den 32jährigen Russen stehen nun 25 gewonnene und fünf verlorene Auftritte zu Buche, wobei er sich in seinen letzten fünf Kämpfen dreimal geschlagen gebe mußte. Wenngleich mehr als ein Jahr seit der Niederlage gegen Molina verstrichen ist, hat sich Ruslan Prowodnikow noch nicht dazu entschlossen, seine Karriere fortzusetzen. Offenbar trägt er sich mit dem Gedanken, die Boxhandschuhe an den Nagel zu hängen. Wie sein Promoter Artie Pelullo berichtet, habe der Russe noch keine Entscheidung getroffen, aber zumindest den Eindruck vermittelt, er wolle seine Laufbahn nicht mit einem verlorenen Kampf beenden. Jedenfalls sei in diesem Jahr kein Auftritt Prowodnikows zu erwarten.

Sollte sich der frühere Weltmeister aber doch dazu durchringen, einen neuen Anlauf zu nehmen, wären durchaus noch einige attraktive Duelle denkbar. Beispielsweise könnte Promoter Bob Arum nicht abgeneigt sein, ihm eine Chance gegen Terence Crawford einzuräumen, den Champion der Verbände WBC und WBO im Halbweltergewicht, der sich jüngst gegen Wiktor Postol durchgesetzt hat. Für den Russen wäre das allerdings eine schlechte Wahl, da es ihm wie schon im Falle Chris Algieris überhaupt nicht liegt, einem ständig entweichenden Kontrahenten nachzusetzen. Sehr viel besser geeignet wären da schon stationäre Ziele wie Danny Garcia oder Jessie Vargas, die beide Titelträger im Weltergewicht sind. [1]


Fußnote:

[1] http://www.boxingnews24.com/2016/07/ruslan-provodnikov-likely-fight/#more-214103

29. Juli 2016


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