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MELDUNG/1971: Olympiapläne stoßen auf harsche Kritik (SB)



Amir Khans Absichtserklärung schlägt hohe Wogen

Amir Khan zieht in Erwägung, bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro für die pakistanische Boxstaffel in den Ring zu steigen. Wenngleich man wohl davon ausgehen kann, daß dieser Absichtserklärung des Briten keine entsprechenden Taten folgen werden, schlägt die bloße Ankündigung hohe Wogen. Daß der 29jährige dies in aller Öffentlichkeit thematisiert, stößt nicht nur angesichts seines Alters weithin auf Unverständnis. Da Khan im nordenglischen Bolton aufgewachsen ist und für die britische Mannschaft bei den Spielen 2004 in Athen eine vielgefeierte Silbermedaille gewonnen hat, dürfte der englischen Fraktion seiner Fangemeinde insbesondere sein Gedanke, für Pakistan anzutreten, ganz und gar nicht gefallen.

Nach Angaben der Daily Mail droht das World Boxing Council (WBC), alle Profiboxer, die einen Titel dieses Verbands innehaben oder in seiner Rangliste geführt werden, für zwei Jahre zu suspendieren, sollten sie bei der Olympiade antreten. Da Khan derzeit die Nummer eins der WBC-Rangliste im Weltergewicht ist und eine Herausforderung des Weltmeisters Danny Garcia anstrebt, würde er sich bei Umsetzung seiner Olympiapläne selbst in den Fuß schießen. [1]

Warum er im Gegensatz zu zahlreichen anderen aktiven oder ehemaligen Profiboxern, die einen Auftritt in Rio de Janeiro entschieden ablehnen, mit diesem Schritt liebäugelt, mag ein Blick in seine Lebensgeschichte nachvollziehbarer machen. Der britische Staatsbürger pakistanischer Herkunft begann im Alter von acht Jahren zu boxen, avancierte als Teenager zum besten britischen Akteur seiner Altersklasse und gewann mit sechzehn die Goldmedaille bei der Juniorenolympiade 2003. Im folgenden Jahr wollte er an den Spielen in Athen teilnehmen und beantragte beim Britischen Amateurboxverband eine Ausnahme von der Regel, daß Olympiateilnehmer mindestens 18 Jahre alt sein müssen. Als der Verband dies ablehnte, drohte Khan, für Pakistan an den Start zu gehen. Dies bewog die A.B.A. schließlich zum Einlenken, und so wurde er als einziger britischer Boxer nach Athen entsandt.

Im Leichtgewicht boxend "deklassierte", "demoralisierte" und "zertrümmerte" Khan nach den Worten der begeisterten britischen Sportpresse seine ersten vier Gegner. Wie Khan erklärte, wolle er Jugendlichen asiatischer Herkunft in Großbritannien ein Beispiel geben, daß sie alles erreichen könnten, was sie wollten. Und eine Zeitung schrieb, daß Khan für alle kämpfe, gleich ob weiße Briten oder Einwanderer. Wenngleich er im Finale dem legendären Kubaner Mario Kindelan unterlag, wurde der 17jährige auch mit Silber in England gefeiert und von den Medien hofiert. Anwälte, Promoter und Sponsoren gaben einander die Türklinke in die Hand, während die Nation diskutierte, ob Khan bis zur Olympiade 2008 Amateur bleiben oder lieber ins Profilager wechseln sollte.

Khan unterschrieb einen Vertrag bei dem Promoter Frank Warren und bestritt seinen ersten Profikampf am 16. Juli 2005, neun Tage nach den Bombenanschlägen in London, bei denen 56 Menschen starben und mehr als 500 verletzt wurden. Drei der vier mutmaßlichen Täter waren junge Briten aus pakistanischen Einwandererfamilien in Nordengland, deren Vorgeschichte durchaus Parallelen zu seiner aufwies. Auch sie waren muslimischen Glaubens und trainierten regelmäßig in einem Boxklub. In einem Interview widmete Khan unter britischen und pakistanischen Flaggen seinen ersten Sieg im Profilager den Opfern der Anschläge und rief eindringlich zu einem friedlichen Zusammenleben auf. Daraufhin feierten ihn die Medien als wichtigstes multikulturelles Rollenmodell des Landes, es folgte ein Empfang bei der Queen und ein Gespräch mit Tony Blair.

Wenige Wochen später klang Khan allerdings bedeutend weniger enthusiastisch, als er einem Journalisten beschrieb, wie viel sich in seinem Umfeld geändert habe. Ihn beschleiche zunehmend das Gefühl, einen großen Teil seiner Jugend verloren zu haben. Schließlich sei er erst 18 Jahre alt und wolle kein Sprecher für wen auch immer sein. Tatsächlich existierte vor ihm so gut wie keine wahrgenommene Geschichte muslimischer Boxer in Großbritannien. Was ihn einzigartig machte, war nicht nur seine pakistanische Herkunft und sein muslimischer Glaube, sondern auch seine Zugehörigkeit zur britischen Mittelschicht. Diese Kombination schuf die Voraussetzungen seines Aufstiegs zum ersten voll assimilierten asiatisch-muslimischen Idol. Er ist kein zorniger junger Mann von der Straße, kein Aufsteiger aus den nordenglischen Slums und kein Vorkämpfer für die Rechte der Einwanderer, vielmehr wohlerzogen und politisch angepaßt, als Sportler diszipliniert und als gläubiger Muslim den Verlockungen abhold, die das große Geld mit sich bringt. Ihn als Helden zu glorifizieren und zur Verkörperung phänomenaler Aufstiegschancen einer ganzen Generation hochzustilisieren, bot sich daher um so mehr an, als eben diese Generation in massenhaftem Elend versank.

Ob Amir Khan nach einem Jahrzehnt im Profigeschäft voller Höhen, doch auch gesäumt von einigen herben Rückschlägen, tatsächlich Zweifel an seiner Rolle in der britischen Öffentlichkeit beschleichen und er deswegen einen Olympiaauftritt für Pakistan ins Gespräch bringt, ist ungewiß. Jedenfalls wurde sein Höhenflug im Mai von Saul "Canelo" Alvarez gebremst, der ihn in der sechsten Runde mit einem Volltreffer auf die Bretter schickte. Khans Hoffnung, mit einem Sieg über den populären Mexikaner zu einem Superstar der Branche aufzusteigen, erfüllte sich nicht.

Wenngleich nicht auszuschließen ist, daß die Olympiaidee zu guten Teilen ein Reflex auf diese bittere Niederlage sein könnte, wäre sie allein schon aufgrund der aktuellen körperlichen Voraussetzungen Khans kaum zu realisieren. Da der Brite normalerweise im Weltergewicht und damit zwei Limits unter Alvarez antritt, hatte er kräftig Gewicht gemacht, um dem Mexikaner nicht aus physischen Gründen unterlegen zu sein, was er dennoch war. Wollte er tatsächlich in Rio de Janeiro antreten, müßte er diese zusätzliche Muskelmasse wieder abbauen.

Wie der zweimalige Olympiasieger Vasil Lomaschenko kürzlich zu bedenken gab, müßten Olympiaboxer sechs Tage lang das vorgeschriebene Gewicht einhalten. Während Profis gezielt zum Zeitpunkt des einmaligen Wiegens am Vorabend des Kampfs abkochen könnten, um danach wieder zu rehydrieren, sei das im Amateurlager bei solchen Turnieren nicht möglich. Amir Khan würde es kaum gelingen, in den verbleibenden Wochen derart viel Körpersubstanz abzubauen, daß er im Weltergewicht antreten könnte, ohne eine gravierende Schwächung in Kauf zu nehmen.

WBC-Präsident Mauricio Sulaiman begründete seine Ablehnung der Olympiateilnahme von Profiboxern, die von den maßgeblichen Aufsichtsgremien geteilt wird, insbesondere mit dem eklatanten Mißverhältnis zwischen Profis und Amateuren, das zu tragischen Zwischenfällen führen könnte. Der Generalsekretär des British Boxing Board of control, Robert Smith, geht nicht davon aus, daß das WBC seine Haltung bis zum Beginn der Spiele in Rio de Janeiro ändern könnte, und begrüßt die Initiative des Verbands ausdrücklich.

Die britische wie auch die US-amerikanische Boxkommission als zuständige Aufsichtsgremien des Profiboxens kritisieren die Entscheidung des Amateurweltverbands AIBA, erstmals Profis bei den Olympischen Spielen zuzulassen. Angefangen vom Streit um den Kopfschutz über unterschiedliche Stile und Erfahrungen bis hin zum Modus der Wertung berge dies ein unvertretbares Gefahrenpotential. Bei einem Sport, in dem allzu ungleiche Paarungen buchstäblich über Leben oder Tod entscheiden könnten, sei dies nicht zu rechtfertigen. Davon abgesehen mißachte die Entscheidung die Interessen von Amateurboxern, die sich jahrelang vorbereitet und in Turnieren für die Teilnahme qualifiziert hätten. [2]

Wollte Amir Khan seine Ankündigung wahrmachen, müßte er den erhofften Kampf gegen WBC-Weltmeister Danny Garcia abschreiben, den er durchaus besiegen könnte. Die Alternativen Keith Thurman (WBA), Kell Brook (IBF) oder Jessie Vargas (WBO) wären angesichts der damit verbundenen Risiken vermutlich die schlechtere Wahl. In Anbetracht der Faktenlage spricht so gut wie nichts für einen Auftritts Kahns in Rio, sofern das IOC und die AIBA angesichts der massiven Kritik nicht ohnehin einen Rückzieher machen. Sollte der Brite davon träumen, ein zweites Mal als Olympiaheld Furore zu machen, darf er darüber nicht vergessen, daß seine Ausgangslage inzwischen wenig Gemeinsamkeiten mit der damaligen Situation aufweist. Im Jahr 2004 nährte der Bonus seiner Jugend, sein Status als einziger britischer Boxer in Athen und der akute Bedarf an einem integrativen Rollenmodell die Heldenverehrung. Das läßt sich kein zweites Mal heraufbeschwören, zumal die rassistischen und kulturalistischen Gräben seither noch erheblich tiefer geworden sind.


Fußnoten:

[1] http://www.boxingnews24.com/2016/06/khan-hurt-career-fights-summer-olympics/#more-211303

[2] http://espn.go.com/boxing/story/_/id/15892351/commissions-unhappy-see-professional-fighters-able-qualify-rio-games

5. Juni 2016


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