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MELDUNG/1969: Aus der Not die Tugend? (SB)



Tony Bellew wünscht sich David Haye

Der britische Schwergewichtler Dillian Whyte würde gern mit seinem Landsmann David Haye in den Ring steigen. Wie der 28jährige meint, sei sein sieben Jahre älterer potentieller Kontrahent infolge des Muskelaufbaus erheblich langsamer geworden und nicht mehr derselbe Boxer wie auf dem Höhepunkt seiner Karriere, der nun schon geraume Zeit zurückliegt. Der frühere WBA-Weltmeister, für den 28 Siege und zwei Niederlagen zu Buche stehen, hat zwischen 2012 und 2016 fast vier Jahre lang aus verschiedenen Gründen pausiert. Seit seinem Comeback hat er mit Mark de Mori und Arnold Gjergjaj zwei krasse Außenseiter binnen weniger Runden demontiert. Im Herbst trifft Haye aller Voraussicht nach auf den 44jährigen Shannon Briggs, der von ganz anderem Format ist. Sollte sich der Brite dennoch durchsetzen, könnte der neue WBC-Champion im Cruisergewicht, Tony Bellew, einer seiner nächsten Gegner sein. Grundsätzlich legt er es offenbar darauf an, so lange mit nicht allzu anspruchsvollen Aufgaben seine Kreise zu ziehen, bis es zum erhofften hochdotierten Kampf gegen den IBF-Weltmeister Anthony Joshua kommt.

Die Einschätzung Dillian Whytes, Haye erinnere ihn inzwischen an einen Bodybuilder, ist nicht aus der Luft gegriffen. Zum einen läßt der ehemalige Weltmeister die Schnelligkeit vermissen, die früher eines seiner Markenzeichen war. Zum anderen schien ihm bei seinem letzten Auftritt bereits nach einer flotten ersten Runde die Luft auszugehen, was vermuten läßt, daß ihm sein mehr oder minder gezielt herbeigeführter Gewichtszuwachs nicht gutgetan hat. Daß er Gjergjaj im zweiten Durchgang auf die Bretter schickte, ersparte ihm den Gang über eine längere Distanz, der möglicherweise schlecht für ihn ausgegangen wäre. Ob es nun am höheren Gewicht, der langen Unterbrechung seiner Karriere, einem einsetzenden Alterungsprozeß oder an allem zusammen lag, sei dahingestellt.

Letztlich hat er kaum eine andere Wahl, als körperlich zuzulegen, da er als ehemaliger Cruisergewichtler seit jeher eher zu leicht für die Königsklasse war. Dieses Mißverhältnis hat sich unterdessen weiter verschärft, da mit Deontay Wilder, Luis Ortiz, Anthony Joshua und Tyson Fury die führenden Akteure nicht nur wesentlich größer, sondern auch erheblich schwerer als David Haye sind. Früher waren die Klitschkos, von der Episode des Russen Nikolai Walujew abgesehen, die einzigen Riesen im Weltmeisterrang, während dies heute fast schon zum Standard geworden ist. Will sich Haye nicht von solchen Kalibern herumschubsen lassen, müßte er gewaltig zulegen, was sich wiederum nicht mit den dynamischen Qualitäten verträgt, die er früher ins Feld führen konnte.

Da der beim britischen Publikum außerordentlich populäre Anthony Joshua und dessen Promoter Eddie Hearn am längeren Hebel sitzen, was die Auswahl der Herausforderer betrifft, bleibt Haye nichts anderes übrig als abzuwarten, ob ihm das große Los am Ende doch in den Schoß fällt. Unterdessen wäre Tony Bellew insofern eine realistische Option, als dieser sich inzwischen bereiterklärt hat, im Schwergewicht gegen ihn anzutreten. Selbst wenn der Cruisergewichtler zu diesem Zweck kräftig Gewicht machen würde, wäre er Haye doch allein schon von seinen physischen Voraussetzungen her unterlegen, von den boxerischen Fertigkeiten ganz abgesehen. [1]

Daß Bellew diesen Schritt dennoch ins Auge faßt, ist nachvollziehbar, wenn man die Alternativen in seiner angestammten Gewichtsklasse Revue passieren läßt. Würde er seinen frischgewonnenen Titel verteidigen, träfe er voraussichtlich auf den ehemaligen Champion Grigorij Drodsd oder auf den Pflichtherausforderer Mairis Briedis. Denkbar wäre auch ein Vereinigungskampf gegen Denis Lebedew, der jüngst die Gürtel der Verbände WBA und IBF zusammengeführt hat. Unmittelbar nach seinem Titelgewinn gegen Ilunga Makabu in Liverpool am vergangenen Wochenende forderte Bellew den Russen auf, in England gegen ihn anzutreten, was jedoch kaum zu realisieren wäre. Lebedew ist nicht nur der namhaftere Weltmeister, sondern kann auch vor heimischem Publikum in Moskau mit einem ausverkauften Haus rechnen. Sich Bellew vor dessen Fans zu stellen, dürfte keine attraktive Option für ihn sein. Davon abgesehen hätte der Brite nur geringe Chancen, aus diesem Kampf als Sieger hervorzugehen.

Alle denkbaren Auftritte im Cruisergewicht wären für Tony Bellew nicht nur riskant, sondern vor allem auch wesentlich weniger lukrativ als ein Duell mit David Haye, das in England auf großes Publikumsinteresse stoßen dürfte. Natürlich könnte Eddie Hearn auf die Idee kommen, einen Kampf zwischen Anthony Joshua und Bellew auf die Beine zu stellen, in dem der IBF-Weltmeister im Schwergewicht haushoher Favorit wäre. Da Joshua jedoch kürzlich einen Vertrag mit dem Sender Showtime abgeschlossen hat und sich offenbar dem US-amerikanischen Publikum empfehlen möchte, wäre eine Titelverteidigung gegen den britischen Cruisergewichtler im derzeitigen Stadium seiner Karriere kontraproduktiv. Unter dem Strich zeichnet sich daher ein Kampf zwischen David Haye und Tony Bellew, der noch vor Ende des Jahres über die Bühne gehen könnte, als naheliegende Möglichkeit an. [2]


Fußnoten:

[1] http://www.boxingnews24.com/2016/06/dillian-whyte-wants-david-haye-fight/#more-211169

[2] http://www.boxingnews24.com/2016/05/tony-bellew-willing-face-haye-heavyweight/#more-211116

2. Juni 2016


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