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MELDUNG/1885: Kann sich die Bibel irren? (SB)



"The Ring" kürt Tyson Fury zum "Boxer des Jahres 2015"

Das 1922 gegründete Magazin "The Ring" ist nicht nur die älteste noch existierende Boxzeitschrift, sondern gilt auch als die renommierteste Publikation der Branche, weshalb sie "Die Bibel des Boxens" genannt wird. Sie vergibt einen eigenen Gürtel an den ihres Erachtens besten Akteur jeder Gewichtsklasse, und diese Trophäe wird weithin als mindestens gleichrangig mit jenen der vier maßgeblichen Verbände, wenn nicht gar als gültige Richtschnur im Wirrwarr inflationärer Entuferung immer neuer Titel angesehen. Von dieser Zeitschrift zum "Boxer des Jahres" gekürt zu werden, ist folglich eine außergewöhnliche und heiß begehrte Ehre, die Eingang in die Annalen des Faustkampfs findet.

Wen hat "The Ring" mit der Auszeichnung für das Jahr 2015 bedacht? Vier Namen drängen sich geradezu auf: Gennadi Golowkin, Roman Gonzalez, Sergej Kowaljow und Deontay Wilder, wobei dieses Quartett wie auch die Reihenfolge ohne weiteres begründbar wäre, soweit man das für eine solche Wahl überhaupt sagen kann. Die Zeitschrift hat jedoch diesmal eine Entscheidung getroffen, die den Eindruck erweckt, als sei es ausschließlich darum gegangen, für eine absolut unvorhersehbare Überraschung zu sorgen. Da solche Auszeichnungen stets einer wie auch immer gearteten Branchenpolitik geschuldet und folglich mit Sachverstand nicht hinreichend zu bemessen sind, verbietet es sich wohl von selbst, an diesem zu zweifeln. Vielleicht ging es der Redaktion aber auch nur darum, die Gefolgschaft der Gläubigen mit einem Bibelwort zu prüfen, das unerforschlicher kaum sein könnte.

So wurde Tyson Fury allen Ernstes zum "Boxer des Jahres 2015" gekürt, was den Briten prompt in den bei ihm ohnehin zumeist präsenten Zustand höchsten Eigenlobs versetzte: Wie vielen britischen Boxern sei es gelungen, im Land ihrer Gegner anzutreten und zum herausragenden Akteur des Jahres gewählt zu werden? Wie viele britische Boxer seien nach Deutschland gereist und hätten dort einen Gegner vom Kaliber Klitschkos geschlagen, der seit elf Jahren nicht mehr verloren hatte? Auf diese rhetorischen Fragen gibt es natürlich nur eine Antwort: Er sei der Boxer des Jahres für die Bibel des Boxens, erweckt Fury den Eindruck, als sei die Wahl zwangsläufig auf ihn gefallen.

Was hat der Brite 2015 geleistet, das es rechtfertigen würde, ihn auf diesen Thron zu setzen? Er hat Christian Hammer besiegt, der 2013 größte Mühe hatte, den Veteranen Kevin Johnson umstritten nach Punkten zu besiegen, und das Kanonenfutter für Fury abgab. Bleibt nur noch der unverhoffte Triumph über Wladimir Klitschko, der ein bloßer Schatten besserer Tage war. Der 39jährige Ukrainer erweckte den Eindruck eines Boxers am Ende seiner Karriere, dessen eingeschliffene Routine gegen den 2,06 m großen Kontrahenten schlichtweg nicht funktionierte. Klitschko stand wie paralysiert vor dem Herausforderer, den er mit dem Jab nicht erreichte, und wagte es nicht, seine Rechte einzusetzen, als habe er Angst, von dem fuchtelnden und tätschelnden Briten getroffen zu werden. Statt dessen verlegte er sich wie gewohnt aufs Klammern, was bei einem größeren Gegner fast zwangsläufig schiefgehen muß.

Dabei war Furys Auftritt beinahe genauso peinlich wie die Untätigkeit des Titelverteidigers, da der Riese ständig auswich, Löcher in die Luft schlug und den Gegner nur sporadisch traf, was für einen Punktsieg reichte. Obgleich zwölf Jahre jünger als der Champion, wirkte er über weite Strecken fast genauso alt wie Klitschko. Erschüttert sprachen die meisten fachkundigen Kommentatoren von einem der niveauärmsten und langweiligsten Titelkämpfe im Schwergewicht seit Jahren, was lediglich durch den Umstand überlagert wurde, daß ausgerechnet ein boxerisch limitierter und für seine imposante Statur ausgesprochen schwach schlagender Herausforderer wie Fury die Ära Klitschkos beendet hatte.

Wäre der Ukrainer für den drängenden Rat seines Bruders Vitali und seines Trainers Jonathon Banks ansprechbar gewesen, häufiger zu schlagen, hätte Fury ungeachtet der schwachen Leistung des Titelverteidigers höchstwahrscheinlich verloren. Der ratlose Champion war schlichtweg nicht in der Lage, seine Kampfesweise notgedrungen zu variieren, sich dem Briten beherzt zu nähern und mit der Rechten so oft zuzuschlagen, daß er wenigstens dann und wann getroffen hätte. Sein eingefleischtes Sicherheitsboxen schien selbst den Anflug der Idee zu neutralisieren, im Zweifelsfall lieber einige Schläge abzubekommen, aber den Gegner zu stellen und in Reichweite der eigenen Fäuste zu bringen.

Tyson Fury war zufällig zur richtigen Zeit am richtigen Ort, um von einem desolaten Auftritt Klitschkos zu profitieren, der noch vor wenigen Jahren die fragwürdigen Nehmerqualitäten des Briten erfolgreich geprüft hätte. Wäre dieser zu einem früheren Zeitpunkt nach Deutschland gereist, um sich mit dem robusten Vitali Klitschko zu messen, als dieser noch WBC-Weltmeister war, hätte er wohl die Prügel seines Lebens bezogen. Diese Einschätzung setzt auch die Anmerkung Mike Tysons nicht außer Kraft, der sich schlichtweg darüber freut, daß der Champion nach ihm benannt worden ist. Seit seiner eigenen Regentschaft habe es keinen besseren Schwergewichtsweltmeister als Fury gegeben, wobei ihm völlig egal sei, wie andere darüber dächten, so Tyson, das Original. [1]

Ihm sei es nachgesehen, sich mit einer derart abwegigen Behauptung zu Wort zu melden, zumal er über die Jahre bitter dafür bezahlt hat, die Rolle des provozierenden Bösewichts abzugeben, der für den Boxsport unverzichtbar ist. Weltmeister wie Lennox Lewis, die Klitschkos auf dem Höhepunkt ihres Könnens und selbst Corrie Sanders hätten mit Fury ebenso kurzen Prozeß gemacht, wie ihm Alexander Powetkin böse zusetzen würde, um nur einige zu nennen. Sollte Tyson Fury auch die Revanche gegen Klitschko gewinnen, was nicht einfach sein dürfte, träfe er in absehbarer Zeit auf Deontay Wilder. Dann würde sich rasch herausstellen, was den führenden Schwergewichtsboxer der Gegenwart ausmacht und wie wenig Tyson Fury diesem Anspruch gerecht werden kann.


Fußnote:

[1] http://www.boxingnews24.com/2016/01/tyson-fury-wins-ring-magazine-fighter-year-2015/#more-203932

13. Januar 2016


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