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GESELLSCHAFT/292: Das Verhältnis von Staat und Religion prägt die Einstellungen zu Muslimen (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 147/März 2015
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Regeln - und was sie bewirken

Das Verhältnis von Staat und Religion prägt die Einstellungen zu Muslimen

von Marc Helbling und Richard Traunmüller


Kurz gefasst: Europäische Demokratien sind weit davon entfernt, säkular zu sein. Die Regulierung religiöser Angelegenheiten kann nicht auf abstrakte Werte und Verfassungsgrundsätze reduziert werden. Im Kontext einer starken staatlichen Unterstützung von Religion führt die Einbindung neuer religiöser Minderheiten zur Veränderung bestehender Regeln und Alltagsgewohnheiten. Als Ergebnis davon sehen Menschen muslimische Migranten als Gefahr für die eigenen Lebensgewohnheiten und reagieren mit Abneigung gegenüber deren Praktiken und Forderungen. Dieses Argument wird unterstützt von Daten zu den Beziehungen zwischen Staat und Kirche in 26 Schweizer Kantonen.


Die Zuwanderung von Muslimen ist in den letzten beiden Jahrzehnten in den meisten westeuropäischen Ländern zu einem der kontroversesten politischen Themen geworden. Dabei geht es häufig um die Frage, inwiefern die Werte von Muslimen mit denjenigen westlicher Gesellschaften in Einklang gebracht werden können. In der wissenschaftlichen Debatte ist man sich noch nicht einig, inwiefern sich diese Diskussion von allgemeinen Auseinandersetzungen über Immigration unterscheiden lässt: Sind Muslime einfach eine neue Gruppe von Migranten, oder stellen sie ihre Gastländer vor völlig neue Herausforderungen? Festzustellen ist, dass religiöse Praktiken wie das Tragen eines Kopftuchs oder einer Burka und religiöse Bauten wie Moscheen oder Minarette im Zentrum der jüngeren Auseinandersetzungen um Zuwanderung stehen. Sind muslimische Migranten also in erster Linie als religiöse oder als ethnische Minderheit zu betrachten?

Die meisten Studien zu Einstellungen gegenüber muslimischen Migranten haben Erklärungsfaktoren herangezogen, die bisher in Studien zu Fremdenfeindlichkeit genutzt wurden. Seit einigen Jahren wird in der Forschung zu Fremdenfeindlichkeit verstärkt die Rolle von Kontextfaktoren berücksichtigt. So konnte aufgezeigt werden, dass individuelle Einstellungen gegenüber Immigranten davon beeinflusst werden, wie die wirtschaftliche Situation in einem Land ist oder wie viele Immigranten es gibt. Zudem wurde vermehrt der Einfluss von politischen

Regulierungen untersucht. In mehreren Studien wurde deutlich, dass Integrations- oder Staatsbürgerpolitik eine wichtige Rolle spielen: In Ländern mit restriktiver Einbürgerungspolitik sind individuelle Einstellungen negativer als in Ländern mit liberaler Einbürgerungspolitik.

Diese Aspekte liefern sicherlich wertvolle Erklärungen dafür, wieso Einheimische negativ gegenüber Muslimen eingestellt sind. Wir sind aber der Meinung, dass auch spezifischere Erklärungsansätze formuliert und getestet werden sollten, die den besonderen Eigenheiten muslimischer Einwanderung Rechnung tragen. In unserer Studie haben wir daher das Hauptaugenmerk auf die Beziehungen zwischen Staat und Kirche gelegt. Wir glauben, dass die Art und Weise, wie ein Staat Religion reguliert, einen Einfluss auf die Einstellungen der Bürgerinnen und Bürger gegenüber muslimischer Einwanderung hat. Die enge Verbindung zwischen Staat und Kirche stärkt eine christliche Kulturidentität und führt zu negativen Einstellungen gegenüber neuen religiösen Gruppen.

Auch wenn westeuropäische Bürger immer seltener religiös sind, so sind kollektive Identitäten und öffentliche Institutionen doch fest in historischen religiösen Traditionen verankert. Diese Werte und Identitäten werden nicht nur durch die Religionsgemeinschaften, sondern auch über Bildung und die Medien verbreitet. Dadurch ist Religion auch im Alltag von Menschen präsent, die sich selbst nicht als religiös bezeichnen würden. Religion und Religionspolitik sind in westeuropäischen Gesellschaften weit mehr als ein abstraktes moralisches Wertfundament oder allgemein formulierte Verfassungsgrundsätze. Gerade in Gesellschaften, die sich selbst als säkular bezeichnen, spielen religionspolitische Institutionen eine wichtige Rolle: Für die Bürgerinnen und Bürger klar erfahrbar, zieht der Staat Kirchensteuern ein, ist für den konfessionellen Religionsunterricht in öffentlichen Schulen zuständig, geht im Wohlfahrtsbereich enge Kooperationen mit religiösen Organisationen ein und gibt religiöse Feiertage vor.

Unter solchen Bedingungen können neue religiöse Gruppen und ihre Forderungen nach religiösen Rechten schnell als Gefahr für die eigene religiös-kulturelle Identität und für bestehende Privilegien wahrgenommen werden.

Unser Argument zur Rolle der Staat-Kirche-Beziehung empirisch zu testen, war insofern schwierig, als es kaum über Länder hinweg vergleichbare Daten zu Einstellungen gegenüber Muslimen gibt. Trotz der Aktualität des Themas Religion sind internationale Umfragen immer noch sehr stark auf Einstellungen gegenüber Immigranten im Allgemeinen ausgerichtet. Wir haben uns deshalb entschieden, den Fall Schweiz genauer anzusehen. Die Schweiz ist bekanntlich durch die umstrittene Minarett-Initiative aufgefallen, bei der sich in einer direktdemokratischen Abstimmung eine Mehrheit der Bevölkerung für ein Verbot des Baus von Minaretten ausgesprochen hat. Für uns war aber besonders bedeutsam, dass die föderale Schweiz mit ihren 26 Kantonen intern eine große religionspolitische Vielfalt aufweist und insbesondere die staatliche Unterstützung der Religion von Kanton zu Kanton ganz unterschiedlich ausfällt. Wir konnten zeigen, dass die Variation dieser Regime vergleichbar ist mit den Unterschieden, die man zwischen westeuropäischen Ländern beobachtet. Während in einigen Kantonen eine klare Trennung zwischen Kirche und Staat ähnlich dem französischen Modell festzustellen ist, kann man in anderen Kantonen von Staatskirchen nach skandinavischem Vorbild sprechen. Das gab uns die einmalige Möglichkeit, auf engem Raum und unter kontrollierten Bedingungen verschiedene Formen der Religionspolitik auf ihre Konsequenzen für das soziale Miteinander hin zu untersuchen. Die Schweiz dient uns in diesem Fall als eine Art Labor für ganz Europa.

Um individuelle Einstellungen zu messen, haben wir Daten der Schweizerischen Wahlumfrage von 2011 benutzt, die zum ersten Mal Fragen zu Einstellungen nicht nur gegenüber Muslimen an sich, sondern auch gegenüber dem Kopftuch und dem Bau von Minaretten beinhaltete. Nach dem Vorbild des Religion and State Project von Jonathan Fox aus dem Jahr 2008 haben wir außerdem die Regulierung von Religion auf kantonaler Ebene gemessen. Der Religious Support Index misst unter anderem, ob es an Schulen christlichen Religionsunterricht gibt, ob Kirchen und kirchliche Hilfsorganisationen finanziell unterstützt werden, Kirchensteuern eingezogen werden, religiöse Feiertage gesetzlich geschützt sind oder ob religiöse Symbole auf kantonalen Flaggen vorhanden sind.

Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Art der staatlichen Förderung von Religion tatsächlich in einem engen Zusammenhang mit den Einstellungen der Bevölkerung steht. In Kantonen, in denen die traditionelle christliche Kulturidentität staatlich unterstützt wird, sind die Befragten eher der Meinung, es gebe zu viele muslimische Einwanderer im Land. Sie vertreten auch eher die Ansicht, dass Muslime nicht das Recht haben sollten, Minarette zu bauen. Bei der Meinung zum öffentlichen Tragen des Kopftuchs zeigt sich ebenfalls diese Tendenz.

Interessant ist dabei insbesondere, dass diese Wirkung vor allem von den symbolisch-kulturellen und nicht von den rein ökonomischen Aspekten der staatlichen Unterstützung ausgeht - also von gesetzlichen religiösen Feiertagen, Religionsunterricht an staatlichen Schulen oder auch von religiösen Symbolen auf den kantonalen Flaggen - oder von Regelungen, die für die Bevölkerung spürbar sind, wie etwa die Kirchensteuer. Wir erklären uns die Wirkung so, dass unter den Bedingungen einer starken religiös-kulturellen Durchdringung des öffentlichen Lebens religiöse Neuankömmlinge eher als Bedrohung für die eigene Tradition und Lebensweise wahrgenommen werden. Denn ein religionspolitisches Entgegenkommen zugunsten der muslimischen Minderheit würde immer auch einen Verzicht auf Privilegien und Gewohnheiten der Mehrheitsreligion bedeuten. In Kontexten, in denen Staat und Religion klarer getrennt sind, gibt es demgegenüber weniger zu verlieren. Deshalb werden Muslime weniger als Konkurrenten wahrgenommen, ihnen werden leichter Rechte zugestanden. Übrigens scheint es sich dabei jeweils um einen breiten kulturellen Konsens innerhalb der Bevölkerung zu handeln, denn religiöse und säkulare Bürger unterscheiden sich in ihren Einstellungen gegenüber Muslimen überhaupt nicht.

Die Befunde unserer Studie sind für die gegenwärtige Einwanderungsdebatte wie für die grundsätzliche Frage des Zusammenhangs von Religion und Demokratie in den modernen Gesellschaften Westeuropas bedeutsam. Zunächst zeigen sie, dass neben Fragen der Demografie und der wirtschaftlichen Situation auch politische Kontexte und institutionelle Regeln entscheidende Größen für die Erklärung von Einstellungen gegenüber Immigration sind. Zugleich machen sie deutlich, wie wichtig es ist, in einem solchen Erklärungsversuch auf die Besonderheiten muslimischer Einwanderung zu achten. Muslime werden als kulturell-religiöse Bedrohung für Gesellschaften wahrgenommen, deren kollektive Identitäten und öffentliche Institutionen weit weniger säkular sind, als sie selbst es zugeben. Möchte man also die Einstellungen der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Muslimen und ihren religiösen Rechten verstehen, ist es offenbar wichtiger, einen genauen Blick auf vorherrschende Institutionen religiöser Regulierung zu werfen, als die Integrationspolitik allgemein zu betrachten.

Auf diese Weise lässt sich eine Brücke zwischen der Immigrationsforschung und der Religionsforschung schlagen. Dass restriktive Religionspolitik zu sozialen Spannungen und interreligiösen Konflikten führt, wurde bereits von Vertretern der Religionsökonomie wie Brian Grim und Roger Finke vermutet. Unsere Ergebnisse legen darüber hinaus nahe, dass selbst wohlwollende Religionspolitik nicht intendierte Folgen nach sich ziehen kann, die dem sozialen Miteinander der Religionen abträglich sind. Dieser Befund ist von demokratietheoretischer Bedeutung. In letzter Zeit ist die klassische liberale Forderung nach einer klaren Trennung von Staat und Religion in die Defensive geraten. Staatliche Unterstützung von Religion ist in Westeuropa nicht nur weitverbreitet, sie wird von einigen Forschern auch als unproblematisch eingestuft. Unsere Ergebnisse mahnen demgegenüber zur Vorsicht. Sie zeigen: Wo Staaten einzelne Religionen politisch bevorzugen, können demokratische Werte wie religiöse Toleranz, Freiheit und Gleichberechtigung erheblich in Mitleidenschaft gezogen werden.


Marc Helbling leitet seit 2011 die Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe Einwanderungspolitik im Vergleich. Er forscht vor allem über Einwanderungs- und Staatsbürgerschaftspolitik, Xenophobie, Nationalismus und Islam in Europa.
marc.helbling@wzb.eu

Richard Traunmüller ist seit 2014 Juniorprofessor für Empirische Demokratieforschung an der Goethe-Universität Frankfurt. Er forscht vor allem über Religion und Politik, die sozialen Folgen religiöser Vielfalt und Kontextbedingungen politischen Verhaltens.
traunmueller@soz.uni-frankfurt.de


Literatur

Fox, Jonathan: A World Survey of Religion and the State. Cambridge: Cambridge University Press 2008.

Grim, Brian / Finke, Roger: The Price of Freedom Denied. Religious Persecution and Conflict in the 21st Century. Cambridge: Cambridge University Press 2011.

Helbling, Marc / Traunmüller, Richard: "How State Support of Religion Shapes Attitudes Toward Muslim Immigrants. New Evidence from a Subnational Comparison". Online at SSRN:
http://ssrn.com/abstract=2545787 (Stand 26. Januar 2015).

Inglehart, Ronald F. / Norris, Pippa: Sacred and Secular: Religion and Politics Worldwide. Cambridge: Cambridge University Press 2004.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 147, März 2015, Seite 14-16
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Juni 2015

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