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GESELLSCHAFT/252: Vereine - Auslaufmodell oder Treffpunkt der Generationen? (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2012 - Nr. 97

Vereine: Auslaufmodell oder Treffpunkt der Generationen?

Millionen Deutsche sind Mitglied in einem Verein.
Dennoch steht diese Organisationsform vor einer Bewährungsprobe.

Von Annette Zimmer



Sind Vereine als Orte der Begegnung für Jung und Alt noch attraktiv? Diese Frage ist mit einem entschiedenen »Ja, aber« zu beantworten. Vereine sind Teil unseres Alltags. Gleichzeitig ist fraglich, ob sie mit ihren strukturellen Besonderheiten und hohen Anforderungen an Engagement noch in die heutige Zeit passen, in der Mobilität und Effizienz so viel zählen.

Entstanden zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Ausdruck gesellschaftlicher Selbstorganisation, hat sich der Verein hierzulande zur wichtigsten Infrastruktur der Zivilgesellschaft entwickelt. Es gibt in Deutschland mehr als 550.000 eingetragene, mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattete Vereine (e.V.). Diese sind analog zu Firmen oder Behörden voll handlungsfähige Akteure von Wirtschaft und politischem Gemeinwesen. Die allermeisten von ihnen sind erst in den vergangenen Jahren entstanden. Seit Mitte der 1970er Jahre boomen die Vereinsgründungen. Es gibt heute rund sechs Mal so viele Vereine wie zu Anfang der Bundesrepublik (Alscher u.a. 2009).

Seit Jahren wird von den Sozialwissenschaften zwar propagiert, dass sich das Engagement von festen Strukturen entkoppelt; Engagement heute sei projektorientiert, kurzfristig, ad hoc - und finde daher eben nicht mehr in Vereinen statt (Beher u.a. 2000). Die empirischen Befunde zeichnen ein anderes Bild. Laut Freiwilligensurvey, der regelmäßigen repräsentativen Befragung zum Engagement (Gensike u.a. 2006), ist der Verein nach wie vor »der« Ort des Engagements. Jeder zweite Deutsche ist Mitglied in einem Verein; gut 40 Prozent des gesamten Engagements findet im Verein statt.


Vorne dran: der Sport

Der Sport mit seinen mehr als 91.000 Vereinen und 27 Millionen Vereinsmitgliedschaften rangiert an erster Stelle. In Sportvereinen ist der Anteil von Kindern und Jugendlichen besonders ausgeprägt. Gemäß einer Bestandserhebung des Deutschen Olympischen Sportbundes liegt ihr Anteil bei rund 32 Prozent (Breuer 2009). Laut Ergebnissen der Pisa-Studie (sie sind im Internet verfügbar unter www.oecd.org/de/pisa) waren zum Zeitpunkt der Befragung mehr als 45 Prozent der 15-Jährigen Mitglied in einem Sportverein. Besondere Zugewinne verzeichnen die Sportvereine an Mitgliedern der sogenannten »Generation 55 plus«, da Sporttreiben heute zu ihrem Lebensstil dazugehört.

Im Vergleich zu früher sind heute deutlich mehr Frauen in Vereinen aktiv, und auch sie sind besonders in Sportvereinen engagiert. Die wichtige Bedeutung der Sportvereine für unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger mit Migrationshintergrund ist inzwischen wissenschaftlich gut abgesichert (Braun/Finke 2010). Der Fußball spielt hier ohne Zweifel für die männlichen Jugendlichen und zunehmend auch für die Mädchen eine zentrale Rolle.


Früh übt sich

Vereine sind wichtig für späteres Engagement. Es gilt die Faustregel: Wer sich in jungen Jahren engagiert, setzt sich auch später häufiger ein. In der großangelegten Studie »Die vergessene Elite« (Beher u.a. 2008) zu ehrenamtlichen und hauptamtlichen Führungskräften in gemeinnützigen Organisationen, überwiegend in Vereinen, wurde festgestellt: Mitgliedschaft und Engagement in Sportvereinen sowie im kirchlichen Bereich sind in hohem Maße prägend für den späteren Lebensweg. Gefragt nach der Motivation für das eigene Engagement, spielte bei den Antworten der »Spaß« eine große Rolle. Gleichauf rangierte jedoch auch der Wunsch, die »Gesellschaft zumindest im Kleinen verändern zu wollen« beziehungsweise der »Organisation auch etwas zurückzugeben«.

Das Miteinander von Jung und Alt basiert im Verein in hohem Maße auf einem Generationenvertrag. Anders als bei der Rente handelt es sich nicht um einen monetären Generationenvertrag. Vielmehr wird die positive Erfahrung aus der eigenen Kindheit und Jugend weitergegeben an die nächste Generation, und zwar mittels Engagement in Form freiwilliger Mitarbeit oder als Ehrenamt in der Leitung. Diejenigen, die im Verein Verantwortung übernehmen, sind in der Regel gut eine bis zwei Generationen älter als das Gros der Mitglieder. Dieses Engagement ist das Unterpfand dafür, dass der Verein als Organisation unterstützt und so auf Dauer erhalten wird.


Noch machen alle mit

Doch hat das Organisationsmodell Verein in der heutigen, sehr mobilen und auf Effizienz und knappe Zeithorizonte getrimmten Gesellschaft noch eine Zukunft? Vereine sind Ausdruck der Selbstorganisation. Sie sind Organisationen von und für ihre Mitglieder. Konstitutiv sind die Teilnahme und Zugehörigkeit, die auf Mitgliedschaft beruhen, die Finanzierung, die ganz maßgeblich auf Mitgliedergebühren rekurriert, sowie die Leistungserstellung, die auf freiwilliger Mitarbeit und ehrenamtlicher Leitung basiert (Zimmer 2007).

Vereine sind Organisationen auf Gegenseitigkeit. Sie funktionieren dank reziprokem Engagement bei der Erstellung ihrer Leistung und zeichnen sich somit im Vergleich zu Behörden oder Firmen durch einen geringeren Grad an Professionalisierung aus. Doch diese Kerncharakteristika stehen derzeit infolge tiefgreifender gesellschaftlicher Veränderungen zunehmend unter Druck.

Gewerkschaften, Parteien und Kirchen klagen bereits seit Langem über Austritte und den Rückgang ihrer Mitgliederzahlen. Jetzt scheint es auch die Vereine zu treffen. Die Gründungsdynamik schwächt sich ab. Selbst die Mitgliedschaft in Sportvereinen scheint einen gewissen Sättigungsgrad erreicht zu haben (Zimmer u.a. 2011). Auch hier sind erstmals Rückgänge zu verzeichnen. Zwar ist für die nächste Zukunft nicht von einem »Untergang« der Vereine auszugehen; hierfür sind sie zu zahlreich und auch zu lebendig. Doch die abnehmende Attraktivität für neue Mitglieder stellt zweifellos langfristig den Generationenvertrag im Verein in Frage.

Ein wichtiger Grund hierfür ist die zunehmende Konkurrenz. Auch hier bietet der Sport ein reiches Anschauungsfeld. Die Sportvereine haben in den vergangenen Jahren zum einen durch kommerzielle Angebote Konkurrenz bekommen. Für die mittlere und ältere Generation, die im Verein in der Regel

Leitungsverantwortung übernehmen, sind an erster Stelle die Fitness-Center zu nennen. Zum anderen sind individuelle sportliche Aktivitäten wie Joggen oder Wandern inzwischen am stärksten verbreitet. Jugendliche verbinden individuelles Sporttreiben zudem mit einer besonderen Lebensstilorientierung, die auch nach außen in Form von besonderer Kleidung und besonderen Sportgeräten gezeigt wird, wie das zum Beispiel beim Skaten der Fall ist.


Spender gesucht

Mitgliedergebühren bildeten lange Zeit das finanzielle Rückgrat zivilgesellschaftlicher Organisationen. Dies ist jedoch schon lange nicht mehr so. Heute finanzieren sich die erfolgreichen Organisationen - Greenpeace ist das Paradebeispiel - über Einnahmen an den Märkten für Spenden, durch Merchandiseprodukte und Sponsoring. Eingeworben werden die Mittel durch großangelegte und logistisch durchgeplante Kampagnen. Hierfür sind hoch professionell arbeitende Marketingteams erforderlich.

Diese neuen, häufig als NGOs (non-governmental organisation, Nichtregierungsorganisation) bezeichneten Organisationen haben daher auch keine Mitglieder mehr im traditionellen Sinne. Vielmehr wird persönliche Unterstützung durch finanzielle Förderung, Kauf von Produkten oder eben punktuelles Engagement zum Ausdruck gebracht. Insbesondere diese Organisationen sind aber heute für Jugendliche sehr attraktiv. In der Perspektive bieten sie, anders als die traditionellen Vereine, keinen Raum für weitergehendes konkretes Engagement in Form einer Verantwortungsübernahme. NGOs vermitteln »civicness« als zivilgesellschaftliche Haltung, jedoch ohne einen Vertrag auf Gegenseitigkeit herzustellen.


Keine Zeit, sich zu engagieren

Veränderungen der Arbeitswelt und des gesellschaftlichen Kontextes werden den Verein als Ort, an dem sich Generationen treffen, in Zukunft vermutlich in hohem Maße in Frage stellen. Flexible Arbeitszeiten und hohe Anforderungen an Mobilität fordern ihren Tribut. Die Regelmäßigkeit der Teilnahme und darüber hinaus die Verpflichtung zum kontinuierlichen freiwilligen Mitmachen ist mit einer beruflich möglichst flexiblen Arbeitszeit nur schwer vereinbar.

Das Problem stellt sich insbesondere auf der Leitungs- und Führungsebene der Vereine. Traditionell sind es die gut und sehr gut Ausgebildeten, die Führungsverantwortung übernehmen. Aber vor allem dieser Personenkreis sieht sich mit deutlich gestiegenen Mobilitätsanforderungen konfrontiert, die mit einer verantwortungsvollen Position in einem Verein kaum in Einklang zu bringen sind. Darüber hinaus sind heute häufig beide Ehepartner berufstätig. Knapp getaktete Zeitregime, aufgeteilt zwischen Berufstätigkeit und Betreuung der Kinder, lassen weder Frauen noch Männern viel Raum, sich anderweitig zu engagieren.

Konfrontiert mit wachsender Konkurrenz sind viele Vereine, vorzugsweise in den freizeitnahen Bereichen und insbesondere im Sport, dazu übergegangen, sich in gemeinnützige Dienstleistungsorganisationen zu verändern. Die Mitgliedschaftslogik wird zunehmend ergänzt durch individualisierte Angebote. So können auch Nicht-Mitglieder einzelne Kurse im Verein buchen, die Halle mieten oder an den Festivitäten gegen Geld teilnehmen. Damit diese Angebote organisiert werden können, werden die Ehrenamtlichen und Freiwilligen zunehmend durch bezahlte (Honorar-)Kräfte ersetzt.

Die Frage, ob Vereine ausgedient haben und als Orte einer Begegnung von Generationen nicht mehr in Frage kommen, ist daher nicht ganz einfach zu beantworten. Abgesehen von den Unkenrufen und der schwierigen Situation vieler Vereine, gibt es gleichzeitig viele positive Beispiele, vor allem im Bereich der Initiativen unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger mit Migrationserfahrung, im lokalen Umfeld des Stadtteils, und auch im Kontext von Schule und Kindergarten. Es gibt keinen Grund zum Schwarzsehen - aber es wird sich in den nächsten Jahren sehr viel ändern.


DIE AUTORIN

Prof. Dr. Annette Zimmer ist Professorin für Vergleichende Politikwissenschaft und Sozialpolitik am Institut für Politikwissenschaft der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten zählen Vereins- und Verbandsforschung, Forschung zur Zivilgesellschaft und zu Nonprofit-Organisationen.
Kontakt: zimmean@uni-muenster.de


LITERATUR

ALSCHER, MAREIKE / DATHE, DIEMAR / PRILLER, ECKHARD / SPETH, RUDOLF (2009): Bericht zur Lage und zu den Perspektiven des bürgerschaftlichen Engagements in Deutschland, Berlin

BEHER, KARIN / LIEBIG, REINHARD / RAUSCHENBACH, THOMAS (2000): Stukturwandel des Ehrenamtes. Weinheim

BEHER, KARIN / KRIMMER, HOLGER / RAUSCHENBACH, THOMAS / ZIMMER, ANNETTE (2008): Die vergessene Elite. Führungskräfte in gemeinnützigen Organisationen. Weinheim/München

BRAUN, SEBASTIAN / FINKE, SEBASTIAN (2010): Integrationsmotor Sportverein. Ergebnisse zum Modellprojekt »spin - sport interkulturell«. Wiesbaden

BREUER, CHRISTOPH (HRSG.; 2009): Sportentwicklungsbericht 2007/2008. Analyse zur Situation der Sportvereine in Deutschland. Schorndorf

GENSICKE, THOMAS / PICOT, SIBYLLE / GEISS, SABINE (2006): Freiwilliges Engagement in Deutschland 1999-2004. Wiesbaden Im Internet verfügbar unter:
http://www.bmfsfj.de/BMFSFJ/freiwilliges-engagement,did=121872.html
(Zugriff 12.1.2012)

ZIMMER, ANNETTE / BASIC, ANTON / HALLMANN, THORSTEN (2011): Sport ist im Verein am schönsten? Analysen und Befunde zur Attraktivität des Sports für Ehrenamt und Mitgliedschaft. In: Rauschenbach, Thomas / Zimmer, Annette (Hrsg.): Bürgerschaftliches Engagement unter Druck? Gemeinnützige Organisationen in den Bereichen Soziales, Kultur und Sport im politischen und gesellschaftlichen Wandel. Opladen, S. 269-385

ZIMMER, ANNETTE (2007): Vereine - Zivilgesellschaft konkret. Wiesbaden


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:
- Erfolgsmodell Verein
Die Abbildung zeigt die Entwicklung der Vereine in Deutschland. In den vergangenen Jahren gibt es erstmals weniger Neugründungen.


DJI Impulse 1/2012 - Das komplette Heft finden Sie im Internet unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2012 - Nr. 97, S. 38-40
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
Nockherstraße 2, 81541 München
Telefon: 089/623 06-0, Fax: 089/623 06-265
E-Mail: info@dji.de
Internet: www.dji.de
 
DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
abonniert oder unter vontz@dji.de schriftlich angefordert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juni 2012