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GESELLSCHAFT/243: Kultur der Unsicherheit - Viel Ungleichheit, wenig Protest (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2012

Kultur der Unsicherheit
Viel Ungleichheit, wenig Protest

Von Thomas Meyer


Einkommensungleichheit, Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse, Langzeitarbeitslosigkeit - Anlässe für Empörung gäbe es auch hierzulande zur Genüge. Doch trotz viel Ungerechtigkeit gibt es nur wenig Protest. Woran liegt das? Hat das Klima sozialer Verunsicherung auch disziplinierenden Charakter?


Was die objektive Befundlage zur Entwicklung der Ungleichheitsordnung der Bundesrepublik im 21. Jahrhundert angeht, sind sich die meisten Sozialwissenschaftler einig. Auch wenn man die am Wohlstandskapitalismus der goldenen 70er und 80er Jahre gemessene These eines Epochenbruchs nicht teilt, soviel steht fest: Die Einkommensungleichheiten wachsen, die Schere zwischen Einkommen aus selbstständiger und abhängiger Arbeit vergrößert sich; und mehr noch auf dem Feld des Geld-, Immobilien- und Produktivvermögens haben die Schieflagen zugenommen.

Passend hierzu blühen die Unterschiede in Konsum und Lebensstil. Während sich die "upper class" nach oben verabschiedet, die Mittelschicht schrumpft und sich an neue Risikolagen gewöhnen muss, wird die Unterschicht abgehängt.

Neben dem Anstieg der Armut ist die Verfestigung deprivierter Soziallagen zu beklagen, aus denen es zusehends schwerer wird, sich wieder zu befreien.

Darüber hinaus gibt es einen klaren Zusammenhang zwischen Armut und Sozialstruktur, da fast drei Viertel der Armen aus den Arbeiterschichten kommen. Während Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit schon länger zum integralen Bestandteil der Gesellschaft zählen, gehört die Zunahme prekärer Beschäftigungsverhältnisse zu den Wahrzeichen der jüngeren Zeit.

Aufzulisten sind noch die Beharrungstendenzen herkunftsbedingter sozialer und ethnischer Ungleichheiten im Bildungssystem, die seit über zehn Jahren, seit der ersten PISA-Studie, bis heute anhaltende Diskussionen ausgelöst haben.

Vor diesem Hintergrund - der sich noch weiter ausschmücken ließe - überrascht es nicht, dass Diskurse über Unterschicht und Unterklasse, "Überflüssige" und Prekarier, Ausgrenzung und Spaltung, Ungleichheit und Ungerechtigkeit eine nun schon seit Jahren anhaltende Konjunktur erfahren.

Und ebenso wenig kann es erstaunen, dass in der Beschreibung der Gesellschaft von einer "Wiedergeburt der Klassengesellschaft", von einer hierarchischen - in abgehobene Ober-, schrumpfende Mittel- und entkoppelte Unterschichten gegliederten - Sozialstruktur oder auch von einer "exklusiven" bzw. "gespaltenen" Gesellschaft die Rede ist. Dagegen scheint das bis weit in die 80er Jahre gepflegte gefällige Selbstbild einer befriedeten Erlebnis- und Lebensstilgesellschaft ohne allzu große Ausschläge nach oben und unten nur noch einer fernen Vergangenheit anzugehören. Wenngleich die Zustandsbeschreibung eher düster ausfällt, so gibt es freilich doch nur wenige Stimmen, die die Verschärfung sozialer Ungleichheit mit einer Radikalisierung der Protest- und Mobilisierungsformen verbinden. Dies liegt auch darin begründet, dass mit dem Abgesang marxistischer Verelendungs- und Revolutionstheorien naiv-mechanistische Vorstellungen einer Verknüpfung von (latenten) strukturellen Krisenphänomenen mit (manifesten) Protestphänomenen ihren Nimbus verloren haben. Entscheidender dürften indes die Ergebnisse der sozialwissenschaftlichen Bewegungsforschung sein. Sie zeigen, dass politische Partizipation und zivilgesellschaftliches Engagement vor allem von den individuellen Ressourcen, also: Bildung, Einkommen und Kompetenzen, abhängen. Folgerichtig haben Arme und Arbeitslose, denen die Verbesserung ihrer Lage eigentlich besonders auf dem Herzen liegen müsste, im Unterschied zu den bildungs- und einkommensstarken Bevölkerungsschichten vergleichsweise niedrige Partizipationsraten.

Dieses Paradox gewinnt noch an Schärfe, wenn man den Blick auf die immer bedeutsamer werdenden unkonventionellen Beteiligungsformen richtet, bei denen die Teilnahme die Überwindung von noch höheren Hemmschwellen voraussetzt. So waren es nicht nur bei den Demonstrationen der neu entdeckten "Wutbürger", sondern schon bei den Protesten gegen die "Hartz-Reformen", die Aufsehen erregten weil sie von Erwerbslosen und prekär Beschäftigten mitgetragen wurden, die Milieus der Hochgebildeten und die Milieus mit linksalternativen Werten, aus denen sich die Teilnehmer überproportional häufig rekrutieren. Diese und ähnliche Protestwellen - wie etwa die augenblicklich gegen die Banken gerichtete "Occupy"-Bewegung, die sich in Frankfurt und Berlin, in amerikanischen und europäischen Städten beobachten lässt - ändern nichts daran, dass sich der kollektiven Betroffenheit zum Trotz nur kleinste Minderheiten in Fahrt bringen lassen. Die Aktivisten sind vor allem diejenigen, die sich ohnehin politisch engagieren, während die breite Masse von den radikalisierten Protestformen kaum erreicht wird. Die bereits in der Marienthalstudie zu den Auswirkungen der Arbeitslosigkeit 1933 formulierte Einsicht, dass sich ökonomisch prekäre Lebenslagen vor allem mit Apathie und Fatalismus verbinden, scheint auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts wenig an Aktualität eingebüßt zu haben.


Gerechtigkeits- und Legitimationsprobleme

Auch wenn die forcierten Ungleichheitsverhältnisse bislang keine durch soziale Unruhen ausgelösten explosiven Situationen hervorbringen, sollte dies nicht dazu verleiten, die Wirkungseffekte der Ungleichheitssituation gering zu schätzen. Im Gegenteil: Auch jenseits zivilgesellschaftlicher Widerstandsformen lassen sich Hinweise auf desintegrative Tendenzen ausmachen. So werden seit längerem die wachsende Politikverdrossenheit gerade auch auf Seiten der benachteiligten Bevölkerungsgruppen, die Mitgliederverluste von Gewerkschaften und Parteien oder die Verschiebungen in der Parteienlandschaft (Etablierung der Linken, anhaltende Verluste der Volksparteien, Wahlschlappen der FDP, ganz aktuell das Aufkommen der Piratenpartei) mit der wachsenden sozialen Kluft innerhalb der Gesellschaft in Verbindung gebracht. Angesichts der Wirtschaftskrise und der Milliardendefizite der öffentlichen Haushalte berichten Befragungen in schöner Regelmäßigkeit über das schwindende Vertrauen in die Problemlösungskompetenz der Politik und ihrer Eliten. Mittlerweile hegt die Mehrheit der Bundesbürger Zweifel am, wie man heute wieder gänzlich ungeniert formulieren kann, "kapitalistischen" Wirtschaftssystem, und der Wunsch nach einer Reduktion der Ungleichheit breitet sich aus. Seit dem Aufflammen der Euro- und Überschuldungskrise lässt sich die kollektive Erschütterung des neoliberalen Glaubens an die weltweiten Märkte regelrecht greifen. Von der bisweilen euphorischen Grundhaltung zur Globalisierung, wie sie sich vor einem Jahrzehnt leicht beobachten ließ, ist jedenfalls nicht mehr viel geblieben. Mit diesem Einstellungswandel korrespondiert die neu erwachte Gerechtigkeitsfrage, die nicht erst seit den Diskussionen über die Managergehälter und Bonuszahlungen zu einem Dauerbrenner der öffentlichen Auseinandersetzung avanciert ist. Bereits im Gefolge der Ungleichheiten durch die deutsch-deutsche Vereinigung, der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit und der Krise der sozialen Sicherungssysteme wurden in den letzten Jahren die Zweifel am Gesellschaftssystem und seinen wohlfahrtsstaatlichen Versprechen von Aufstieg, Sicherheit und Fairness lauter. Die Bevölkerungsmehrheit nimmt, wie die Umfrageforschung zeigt, ihre Gesellschaft als immer ungerechter wahr. Zumal in den neuen Bundesländern die sich wieder weiter öffnende Ost-West-Wohlstandslücke zum Ungerechtigkeitsempfinden beiträgt. Gleiches gilt für die gigantischen Rettungsmaßnahmen zur Stabilisierung des Euroraums, die - obschon Steuergelder - nicht zuletzt den Banken und Börsen zugutekommen. Die mit diesen Entwicklungen verbundenen Glaubwürdigkeitsverluste und Gerechtigkeitsdefizite dürfen in ihrer Brisanz nicht unterschätzt werden; denn modern-demokratische Gesellschaften rechtfertigen sich - im Unterschied zu traditionellen Sozialordnungen - vorzugsweise durch den Anspruch auf ausgewogene, am Leistungsprinzip orientierte Verteilungsmuster. Diese bilden gleichsam den legitimatorischen Kitt, der die Gesellschaft normativ zusammenhält und der sich nicht ohne Umschweife ersetzten lässt. Will sagen: Mit den Werten der Gerechtigkeit und Fairness könnten Leitprinzipien verloren gehen, die die heterogenen Milieus im gesellschaftlichen Konkurrenz- und Aufstiegskampf bislang zusammenbinden.


Zur Kultur der Unsicherheit

In der sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnostik von Pierre Bourdieu über Luc Boltanski und Eve Chiapello bis Robert Castel wird angesichts des globalisierten Kapitalismus bereits seit längerem das neue Herrschaftsregime der Unsicherheit registriert. In diesen Analysen hat auch die kritische Ungleichheitsforschung in Deutschland ihren Ansatzpunkt gefunden. In ihren Augen sind es namentlich drei Triebkräfte, die bei der Herausbildung der neuen Ungleichheitsgesellschaft ausgemacht werden können: a) der Umbau des Sozialstaats, b) die anhaltende Sozialselektivität des Bildungssystems und c) der Wandel der Arbeitswelt.

Ad a) Der wohlfahrtsstaatliche Modellwechsel vom Statusgaranten zum neuen Gewährleistungsstaat ist dadurch gekennzeichnet, dass dieser nur noch eine Grundausstattung, nicht aber mehr eine Sicherung des einmal erreichten Status bietet. Es wird hier treffend von einem Arrangement aus quasi-unternehmerischer Eigenverantwortung und der Selbstsorge flexibler Arbeitskräfte gesprochen. Kurz gesagt, geht es in der neuen "Aktivgesellschaft" (Stephan Lessenich) im Unterschied zur ehemals öffentlichen Verantwortung im sozialpolitisch gezähmten Industriekapitalismus darum, die Sorge um das Soziale dem Selbst zuzuweisen.

Ad b) Die kritische Diskussion des Bildungssystems unterstreicht das Bild einer geschlossenen Gesellschaft, die mittels leistungsfremder Mechanismen die Aufstiegschancen durch Bildung zumal für die Kinder sozial benachteiligter Gruppen blockiert. Unsicherheiten resultieren besonders aus dem Gefühl, das große Versprechen der Aufsteigergesellschaft, den Wohlstand der breiten Massen zu sichern und das Bildungs- und Aufstiegsstreben ihres Nachwuchses zu befördern, sei gescheitert. Viele Menschen sind sich sicher, dass es die Kinder wieder schwerer haben als sie selbst, den erreichten Lebensstandard zu halten. Die hoffnungsfrohe Erwartung eines "immer höher und immer weiter" hat sich in vielen Fällen in eine Furcht vor dem "immer tiefer und immer weniger" verwandelt.

Ad c) Die Sphäre der Erwerbsarbeit und ihre Umbrüche bilden den Bezugspunkt einer Diskussion, die in der Diagnose einer "Wiederkehr der sozialen Unsicherheit" (Robert Castel) mündet. Maßgeblich ist hierbei der im Anschluss an die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses formulierte Schlüsselbegriff der "Prekarisierung", der auf die Realität brüchiger Erwerbsbiografien in einer entsicherten Arbeitswelt zielt. Zwei Bedeutungsebenen sind jedoch zu unterscheiden. Zum einen bezieht sich der Begriff auf die Verfestigung der neuen Unterklasse der "Prekarier", also auf diejenigen, die sich in prekären Beschäftigungsverhältnissen (Minijobs, Leiharbeit, befristete Arbeit, Werkverträge, Teilzeit- und Mehrfachbeschäftigung, Niedriglohntätigkeiten, "Neue Selbständigkeit") befinden. Die neue soziale Frage richtet sich hier auf eine Arbeitswelt, in der in den Biografien und Berufsverläufen die Stabilität, Berechenbarkeit und Sicherheit schwinden. Zum anderen zielt der Begriff auf die gesellschaftliche Mitte, die sich in gesicherte und prekäre Wohlstandspositionen spaltet. Damit werden fragile Soziallagen in den Fokus gerückt, in denen es zwar objektiv zumeist noch nicht um Marginalisierung und Ausgrenzung geht, deren erreichter Status jedoch als gefährdet und verwundbar erscheint. Das Gefühl der Unsicherheit strahlt in die gesellschaftliche Mitte aus und diszipliniert so die durch den drohenden Statusverlust verunsicherten Subjekte. Bourdieu deutet die Prekarisierung ganz in diesem Sinn als Unterwerfungsprojekt, in welchem sich objektive Unsicherheit als subjektive Angst in die Köpfe einschreibt, in dem Planungsgewissheiten in Bedrohungs- und Abstiegsgefühle mutieren, welche die Gesellschaft nicht nur in ihren Randlagen, sondern auf breiter Front durchziehen.

Welche subjektiven Auswirkungen, sozialen Konflikte und Sprengkräfte die ungebremsten Auswüchse des Finanzmarktkapitalismus noch zeitigen, wird eine erst in der Zukunft zu beantwortende Frage sein. Angesichts des Vertrauensverlustes in den Staat und in die Funktionsfähigkeit des Marktes, der sich nicht mehr auf die Verheißungen eines steigenden Wohlstands zu gründen vermag, erscheint es dennoch nicht allzu vermessen, eine Fortdauer, wenn nicht gar Steigerung des Klimas sozialer Verunsicherung zu prognostizieren. Anzeichen dieser Entwicklungen finden sich mindestens in zweierlei Hinsicht: Erstens durch den wachsenden Unmut in Gestalt zunehmender Entfremdungstendenzen vom wirtschaftlichen und politischen System. Und zweitens durch eine veränderte Sozialstruktur, die nicht nur die feste Verankerung des Lebensentwurfs für immer größere Kreise der Bevölkerung erschwert, sondern die Zweifel an der Legitimität der Ungleichheits- und Verteilungsordnung noch forciert.


Thomas Meyer (* 1958) Privatdozent im Fachbereich1/ Soziologie der Universität Siegen. Arbeitsschwerpunkte: Familien- und Sozialstrukturforschung.
(meyer@soziologie.uni-siegen.de)


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 1+2/2012, S. 63-67
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Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer und Peter Struck
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. März 2012