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GESELLSCHAFT/239: Diesseitige Alternativen jenseits des Patriarchats



frauensolidarität - Nr. 117, 3/11

Utopie? Nein, danke!
Diesseitige Alternativen jenseits des Patriarchats gefragt

Von Claudia von Werlhof

Utopien sind meist nicht ganz andere Entwürfe gesellschaftlicher Entwicklung, sondern die Extrapolation dessen, was bereits angestrebt wird bzw. schon der Fall ist. Wir brauchen daher, wenn wir die gegenwärtigen, uns längst über den Kopf wachsenden Probleme der Weltgesellschaft lösen wollen, gerade keine Utopien, denn Utopien sind selbst das Problem, dessen Lösung sie zu sein vorgeben.


Wir leben in einer immer mehr konkretisierten Utopie, seit die Gesellschaft als "Patriarchat" organisiert wird, was wörtlich heißt "am Anfang des Lebens ein Vater" - anstatt der Mutter (vgl. Matriarchat: "Am Anfang die Mutter"). Das Projekt der patriarchalen Gesellschaft ist entsprechend utopisch und besteht darin, den Beweis anzutreten, dass es ein angeblich besseres, ja "höheres" Leben als das existierende gäbe. Dieses käme durch eine männlich geprägte, autoritär organisierte, an einem "Denkbaren" orientierte, auf Frauen- und Naturbeherrschung sowie einem entsprechenden technischen Fortschritt basierende "Schöpfung" bzw. "Produktion" zustande. Am Ende würde eine Art ewiges Paradies stehen, das von den lebenspendenden Kräften von Frauen und Natur bzw. allen Elementen der - allerdings negierten - älteren matriarchalen "mütterlichen Ordnung" unabhängig sei, diese also letztlich vollständig und durch etwas Neues und Weiterentwickeltes ersetzt habe.

Dieser Begriff von Patriarchat als Prozess in Richtung Utopie eignet sich zur Erklärung der heutigen Krise gerade dadurch, dass er historisch weit über die Neuzeit hinausgreift. Die Periodisierung des Patriarchats lässt erkennen, warum die Utopie heute vor allem die des Westens ist und welche Rolle dabei der neuzeitliche Umbruch, insbesondere die kolonialen Eroberungen, der (waffen)technische Fortschritt in Gestalt der Maschinerie, die Unterwerfung Andersdenkender - insbesondere der Frauen und/als Kolonisierte(n) - die neuen (Natur)Wissenschaften, die moderne Staatsbildung, die angeblich mögliche "Schaffung" eines "neuen" und "besseren" Menschen sowie die kapitalorientierte Wirtschaftsweise gespielt haben,

Mit diesem Paradigmenwechsel, den Blick auf die Gesellschaft/Utopie als patriarchaler, und insbesondere ihrer modernen Variante als "kapitalistischem Patriarchat", ist es möglich, den wahnhaft gewalttätigen Charakter der Utopie bzw. des Patriarchats und ihre/seine entsprechend zerstörerischen Wirkungen überall in der Welt zu verstehen.

Anstelle von Utopien werden Alternativen bzw. "Topoi" vorgeschlagen, die dadurch zustande kommen, dass sie mit dem Glauben an patriarchale Verwirklichung radikal brechen und an der Lebensfreundlichkeit der mütterlichen Ordnungen, die zum Teil immer noch - oder erneut - existieren, wieder anknüpfen.

Das Patriarchat wird hier nicht als bloße Hausväter-, Krieger- und auch nicht nur als allgemeine Herrschaftsordnung verstanden, sondern als ein ganzes Gesellschaftssystem, das sich auf der Grundlage der Unterwerfung und Zerstörung einer früheren, der matriarchalen bzw. "mütterlichen" Ordnung entwickelt (hat) und mit Gewalt deren "utopische Ersetzung" anstrebt. Dadurch wird aber nicht eine bessere Welt geschaffen, sondern im Gegenteil diese vernichtet, wie es uns z. B. das Artensterben, der Klimawandel, der Krieg und der Hunger in der Welt immer deutlicher vor Augen führen.

Wie es vor allem seit der Neuzeit dazu kommen konnte, wird zwar gemessen, aber generell nicht verstanden. Denn es wird weiterhin an das Versprechen des Patriarchats, die bessere Welt zu schaffen, geglaubt. Deshalb wird die stattdessen laufende Annihilation des Lebens auf der Erde nicht ernst genommen, und es wird ihr gar kein oder kein entschiedener Einhalt geboten.

Um dieses Paradox als Ergebnis einer verbreiteten inneren Anverwandlung bzw. Mimesis an die Utopie des Patriarchats zu erkennen, muss der Komplex des entsprechenden Denkens insgesamt gesehen werden, also von einem Außen her. Das bedeutet, dass ein größerer historischer Zeitraum als die Neuzeit, ja als das Patriarchat selbst, das in Gestalt der Antike in unserer Gegend der Welt begann, betrachtet werden muss. Auch aus globaler Perspektive wird inzwischen gefragt, ob das, was heute als "Weltsystem" bezeichnet wird, nur 500 oder nicht gar schon 5000 Jahre alt ist. Daran anknüpfend ist festzustellen, dass 5000 Jahre "Weltsystem" dasselbe ist, was wir in der feministischen Forschung heute eben als "Patriarchat" bezeichnen.

Von Utopien hören wir erst seit der Antike und nicht etwa "immer schon" und auch nicht überall. Das Thema führt also zu der Frage, welche Gesellschaften überhaupt Utopien entwerfen und welche nicht. In matriarchalen Gesellschaften hören wir jedenfalls nichts von Utopien.

Eine Erklärung dafür, warum die Utopie des modernen westlichen Patriarchats als verwirklichte systematisch in ihr Gegenteil, nämlich die Dystopie, kippt, ist bisher nicht vorhanden. Sie ist aber aufgrund einer patriarchatskritischen Analyse möglich. Da diese jedoch generell gerade nicht unternommen wird, tritt nicht ins Blickfeld, dass das Problem heute nicht in einem Mangel an "guten" Utopien besteht, sondern darin, dass man dauernd an ihrer Realisation arbeitet und dass sie fast alle in der patriarchalen Tradition der radikalen - gnostischen - Abwendung vom Leben, wie es auf der Erde ist, stehen. Woher soll dann auch ein gutes oder gar besseres Leben kommen, wenn es um dieses Leben gerade nicht geht?

Es kann also nicht um weitere, neue Utopien gehen, sondern nur noch um Alternativen zu ihnen. Statt weiterer patriarchaler Utopien braucht es "topische", also ortsbezogene, "diesseitige" Alternativen zum Patriarchat.

Aber davor liegt das Tabu der Utopie-Debatte. Solange die Utopie als Krieg gegen das Leben generell für realistischer, "edler" und "wahrer" gehalten wird als der bewusst friedliche, kluge, langfristig denkende und freundliche Umgang mit den irdischen Lebensbedingungen, kann ein derartiges "Vom Kopf auf die Füße"-Stellen nicht stattfinden.

Der Glaube an die Utopie des Patriarchats ist trotz ihrer inzwischen sichtbaren Gefährlichkeit weltweit verbreitet und kann als eigentliche Welt-Religion verstanden werden. Dieser Glaube hindert die Menschen daran, mit den Verwirklichungsversuchen des Patriarchats endlich aufzuhören. So wissen sie zwar durchaus, was sie tun. Aber das patriarchale Dogma hält sie davon ab, die Folgen bzw. Nebenwirkungen ihres Tuns, die meist die Hauptwirkungen sind, ernst zu nehmen oder überhaupt zu untersuchen. So sind sie nicht imstande, von ihrem Projekt abzulassen, selbst wenn es sich nur unter größten Opfern oder überhaupt nicht realisieren lässt.

Vom Glauben an die Utopie abzufallen bedeutet daher, sich von der "Produktion kollektiver Unbewusstheit", nämlich 5000 Jahren patriarchalen Denkens, Wünschens und Gewalthandelns zu befreien. Dies scheint zurzeit das größte Problem zu sein.

Eine Alternative zum Patriarchat, das mit allen Mitteln, insbesondere einer Art "Schöpfung aus Zerstörung", seine Verwirklichung betreibt, ist anscheinend unvorstellbar. Währenddessen imaginiert man immer mehr ein "reales" Jenseits im Diesseits. Das Diesseits als ein Jenseits des Patriarchats bleibt dabei vorläufig auf der Strecke.


Zur Autorin:
Claudia von Werlhof, geb. 1943 in Berlin, ist Universitätsprofessorin am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Innsbruck. Sie hat seit 1988 den ersten österreichischen Lehrstuhl für Frauenforschung inne. Ihre Arbeit bewegt sich vom "Bielefelder Ansatz" der 80er Jahre zur "Kritischen Patriarchatstheorie" als neues Paradigma.

Ihre letzten Bücher:
West-End, Köln 2010; Vom Diesseits der Utopie zum Jenseits der Gewalt, Freiburg 2010; Über die Liebe zum Gras an der Autobahn, Rüsselsheim 2010; Die Verkehrung. Das Projekt des Patriarchats und das Gender-Dilemma, Wien 2011.


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 117, 3/2011, S. 6-7
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Oktober 2011