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GESELLSCHAFT/238: Von der scheinbaren Selbstverständlichkeit präventiven Denkens (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 2/2011 - Nr. 94

Von der scheinbaren Selbstverständlichkeit präventiven Denkens

Von Christian Lüders


Immer wieder wird behauptet, dass moderne Gesellschaften vor allem dadurch geprägt seien, dass viele Gewissheiten des Alltags zerbröseln würden. Zugleich scheint es aber auch Gewissheiten zu geben, denen das genaue Gegenteil widerfährt: Sie gewinnen über die Jahrzehnte immer mehr an Überzeugungskraft und in immer mehr gesellschaftlichen Teilbereichen an Gültigkeit. »Vorsorgen ist besser als heilen« ist so eine alltagsweltliche Gewissheit, die im wörtlichen wie im übertragenen Sinne heute niemand ernsthaft in Frage stellt und die in modernen Gesellschaften fast schon allgemeine Gültigkeit beanspruchen kann.

Es gibt zwei sichere Indikatoren, die dies belegen: Man nehme erstens einen Zettel und notiere Synonyme. Schnell wird sich der Zettel füllen mit Begriffen wie vorbeugen, verhindern, vorbauen, verhüten, schützen, abwenden, sich versichern, zuvorkommen, abfangen, vereiteln, abwehren, ersparen, verunmöglichen, ablenken, nicht aufkommen oder entstehen lassen, unterbinden, abstellen, sich kümmern um, immunisieren und vielen anderen mehr. Unweigerlich würden dabei auch die Begriffe Prophylaxe und Prävention und ihre Verwandten fallen.

Mit diesem Reichtum an Begriffen ausgestattet, lohnt es sich zweitens, ausgewählte Wörter aus dieser Liste in eine x-beliebige Suchmaschine einzugeben und dann ein bisschen zu surfen. Schnell wird klar, Prävention und seine Verwandten sind nicht nur ein Thema der Medizin und der Versicherungswirtschaft, sondern tauchen in nahezu allen anderen gesellschaftlichen Teilbereichen nicht selten an zentraler Stelle auf. Neben ausdifferenzierten Handlungsfeldern und -strategien, die schon dem Namen nach vorrangig auf Prävention setzen, wie zum Beispiel der Suchtprävention, der Kriminalitätsprävention, dem Kinder- und Jugendschutz, der Schuldenprävention, der Krisenprävention und nicht zuletzt dem Präventionskrieg beziehungsweise Präventivschlag, finden sich überall im Alltag Hinweise auf die Überzeugungskraft des Präventionsgedankens. Egal, wo man hinsieht: Sich für eine bessere Prävention auszusprechen, schafft Zustimmung und Mehrheiten, auch weil damit die - im Übrigen nur selten belegte - Annahme verbunden ist, dass Prävention aussichtsreicher, nachhaltiger, fachlich angemessener und billiger sei als spätere Reaktionen.

Prävention, so kann man den Stand der Dinge zunächst zusammenfassen, ist ein für die Gegenwart unverzichtbarer Schlüsselbegriff. Es handelt sich dabei um eines jener aktuell selbstverständlichen Deutungsmuster, an Hand dessen die Menschen ihr Handeln ausrichten. Dabei ist Prävention hochgradig normativ aufgeladen. Ihr eilt der Ruf voraus, dass - um ein weiteres verbreitetes Sprachspiel zu nutzen - Vorsorge besser sei als Nachsorge. Angeboten wird eine klare Werthierarchie (»besser«), bei der nebenbei mitschwingt, dass erfolgreiche Prävention Leiden, Gefährdungen, Risiken und andere unerfreuliche Dinge zu verhindern vermag - alles Aspekte, deren Vorkommen niemand ernsthaft begrüßt. Damit wird eine eindeutige Wertung vorgenommen und die Welt zumindest an dieser Stelle geordnet. Kurzum: Wer also ein Glossar der Gegenwart erstellen möchte, kommt derzeit an Prävention nicht vorbei (vor allem Bröckling 2004).

Am Rande sei vermerkt, dass der Präventionsgedanke nicht zuletzt auch als Pate bei der Begründung vieler moderner Wissenschaften, dabei vor allem der Sozialwissenschaften, mitwirkte. Auguste Comtes Verständnis von »rationaler Voraussicht« (Comte 1994, S. 20 ff.) beziehungsweise seine Deutung des »wahren« Positivismus, der vor allem darin besteht, »zu sehen, um vorauszusehen« (a.a.O.), ist nur ein Beleg für viele.

Dass man mit Prävention auch Werbung machen kann, sei schließlich exemplarisch an dem sich epidemisch ausbreitenden neuen Angebot von »Präventionsreisen« gezeigt, also Reisen, die der Verbesserung der eigenen Gesundheit dienen und an deren Kosten unter bestimmten Bedingungen sich auch die Krankenkassen beteiligen - was wiederum selbst nur ein Hinweis auf die Mächtigkeit des Präventionsgedankens darstellt.


Vorsorge als Herrschaftstechnik

So sehr allerdings der Präventionsgedanke auch im Alltagsbewusstsein - und damit auch in Politik, Öffentlichkeit und Fachpraxis - verankert ist, so muss auch gesehen werden, dass es vor allem der moderne Staat war, der sich Prävention zur eigenen Aufgabe gemacht hat. Exemplarisch sichtbar wird dies am Beispiel gesundheitsbezogener Prävention. Historisch betrachtet erweist sich diese von Beginn an als »ein Anliegen des Staates beziehungsweise moderner bürokratisch-rationaler Verwaltungsapparate. In der Tradition merkantilistischer und kameralistischer Bevölkerungspolitik entdeckten verschiedene europäische Staaten im Laufe des 19. Jahrhunderts den Vorsorgegedanken als Herrschaftstechnik, um ihre Bevölkerung - als ökonomische und militärische Ressource - möglichst effizient und nachhaltig zu mobilisieren. (...) Dabei war die Legitimität staatlicher Gesundheitsprävention oft besonders hoch. Dies wohl nicht zuletzt, weil der Staat prädestiniert war, den Schutz individuellen Lebens unmittelbar mit dem kollektiven Wohl zu verbinden« (Lengwiler/Madarász 2010, S. 15). Weil präventives Denken von Beginn an sich nicht auf die Gesundheitspolitik beschränkte, sondern viele andere gesellschaftliche Teilbereiche beeinflusste und nicht zuletzt die zentrale Begründung für moderne Sozialpolitik und das gesamte Versicherungswesen darstellte, konnte François Ewald moderne Staaten als Vorsorgestaaten charakterisieren (Ewald 1993).

Die offensichtliche Plausibilität und die Überzeugungskraft der Präventionsidee haben allerdings auch ihre Schattenseiten (Lüders 2011; Bröckling 2004, 2008). Allem voran enthalten sie eine nicht zu vernachlässigende Verführung, die mitunter die schiere Gedankenlosigkeit provoziert. Formulierungen wie »Gesundheitsprävention«, »Bewegungsprävention« oder »Klimaprävention« sind nur drei Beispiele für viele andere, die man wiederum ohne große Mühe mit Hilfe jeder Suchmaschine im Internet hundertfach entdecken kann. Neben solchem semantischen Unsinn (schließlich soll ja nicht Gesundheit oder Bewegung verhindert werden) ist der Präventionsbegriff davon bedroht, mittlerweile für fast jede Maßnahme als Begründung herhalten zu müssen. Wer immer (zusätzliche) sozialstaatliche Angebote, Leistungen oder Programme implementieren möchte, tut gut daran, den Präventionsnutzen zu betonen. Wie weit dies geht, zeigt sich unter anderem daran, dass selbst die jüngere Bildungsdebatte seit der ersten PISA-Studie im Kern eine Präventionsdiskussion ist. Es geht nicht um Bildung und Kompetenzerwerb für sich genommen, sondern um konkrete gesellschaftliche Probleme, die vermieden werden sollen.

So begründet beispielsweise das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) das jüngst vorgestellte Programm »Bildungsketten« kurz und bündig wie folgt: »Die im September 2010 gestartete BMBF-'Bildungsketten'-Initiative hat die Vermeidung von Schulabbrüchen, die Verbesserung des Übergangs in duale Ausbildung und die Fachkräftesicherung zum Ziel. (...) Mit der neuen BMBF-Initiative Bildungsketten steuern wir dem drohenden Fachkräftemangel in Zusammenarbeit mit den Ländern und Sozialpartnern entgegen.« Das Überzeugende an derartigen Begründungen ist die konkrete Benennung des drohenden Problems; genau daraus bezieht der Präventionsdiskurs seine Kraft.


Ein höchst anspruchsvolles Versprechen

Mit Prävention werden üblicherweise all jene Aktivitäten bezeichnet, die darauf abzielen, jemandem oder etwas zuvorzukommen (lat.: praevenire = zuvorkommen; vgl. zum Folgenden Lüders 2011; für den Bereich der Kriminalprävention: Holthusen, Hoops: Zwischen Mogelpackung und Erfolgsmodell, S. 12 ff. in diesem Heft). Wichtig dabei ist, dass das Zuvorkommen sich auf unerwünschte Ereignisse, Entwicklungen, Zustände beziehungsweise deren Auswirkungen bezieht. Da man auch positiven Ereignissen, Entwicklungen und Zuständen zuvorkommen kann, ist diese Bezugnahme auf Unerwünschtes wichtig. Die oben schon erwähnten verwandten Begriffe wie zum Beispiel Verhütung, Verhinderung, Vermeidung und ähnliche lassen diesen Aspekt des Unerwünschten, den man vermeiden möchte, deutlicher anklingen als der Begriff des Zuvorkommens. Vor diesem Hintergrund wird plausibel, warum die Diskussion um Prävention vor allem in jenen Zusammenhängen intensiv geführt wird, in denen es um die Vermeidung von Unerwünschtem geht wie zum Beispiel von Risiken beziehungsweise Gefährdungen, konkreter: wie etwa von Krankheiten, Gebrechen, Sucht, Kriminalität, Gewalt, Unfällen, Schulversagen, Missbrauch, Verwahrlosung und Verelendung.

Allerdings zeigt sich bei genauer Hinsicht, dass in den verschiedenen Praxisfeldern im Detail erkennbare Unterschiede sowohl in der Sache selbst als auch im Verständnis von Prävention existieren. Während es im Gesundheitsbereich, zum Beispiel in Form von Impfungen von allen Angehörigen einer Bevölkerungsgruppe, sinnvoll sein kann, universell präventiv vorzugehen, um die Zahl der Neuerkrankungen zu senken, wäre ein derartiger Ansatz in anderen Feldern eher problematisch. Übertragen auf die Gewaltprävention im Kindes- und Jugendalter beispielsweise würde ein in dieser Weise breit angelegtes Vorgehen implizit unterstellen, dass alle Angehörigen einer Bevölkerungsgruppe, etwa alle männlichen Zehnjährigen, potenzielle Gewalttäter seien, deren gewalttätiges Handeln man mit entsprechenden Angeboten zuvorkommen müsste. Ein derartiger Verdacht wäre nicht nur objektiv falsch, sondern auch im hohen Maße stigmatisierend und unanständig - abgesehen davon, dass er nicht sehr einladend wirkt. Dagegen wären zum Beispiel Strategien sozialen Lernens ein deutlich freundlicheres Angebot - und auch in diesem Fall würde man nicht auf die Idee kommen, alle Zehnjährigen in entsprechende Angebote zu lotsen. Kurzum: Wer von Prävention redet, hat es mit einer Vielzahl von Konzepten und heterogenen Anforderungen in der Sache in den verschiedenen Praxisfeldern zu tun, zu denen es bislang feldübergreifend kaum Austausch gibt.

Schließlich sei an dieser Stelle angemerkt, aber nicht im Detail ausgeführt, dass Prävention aufgrund ihrer inneren Logik eine reichlich voraussetzungsvolle Aufgabe darstellt - angefangen bei der Definition dessen, was erwünscht beziehungsweise unerwünscht ist, bis hin zur Entwicklung umsetzbarer Strategien. Zudem ist sie mit einer Reihe von Ambivalenzen behaftet, unter anderem, da sie ihre Versprechen nicht uneingeschränkt halten kann - auch wenn diese gerne angesichts der Überzeugungskraft der Idee »Vorbeugen ist besser als Heilen« an den Rand gedrängt werden. So erscheint Prävention vor allem heutzutage nicht nur als ein »übergreifender Modus des Zukunftsmanagements zeitgenössischer Gesellschaften« (Bröckling 2008, S. 47), sondern als ein gesellschaftliches Deutungsmuster, das fast schon als alternativlos erscheint. Es wäre schon ein Fortschritt, wenn diese Ambivalenzen das Nachdenken und die Forschung über Prävention stärker als bisher prägen würden (siehe dazu: Holthusen, Hoops, Lüders, Ziegleder: Über die Notwendigkeit einer fachgerechten und reflektierten Prävention, S. 22 ff. in diesem Heft).


DER AUTOR

Dr. Christian Lüders leitet die Abteilung Jugend und Jugendhilfe am Deutschen Jugendinstitut. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen unter anderem die Adressaten, Institutionen und Verfahren der Kinder- und Jugendhilfe, Evaluation, Theorien pädagogischen Wissens sowie Wissenschaftsforschung.
Kontakt: lueders@dji.de


LITERATUR

BRÖCKLING, ULRICH (2004): Prävention. In: Bröckling, Ulrich / Krasmann, Susanne / Lembke, Thomas (Hrsg.): Glossar der Gegenwart. Frankfurt am Main, S. 210-215

BRÖCKLING, ULRICH (2008): Vorbeugen ist besser.... Zur Soziologie der Prävention. In: Behemoth. A Journal on Civilisation 1, S. 35-48. Verfügbar über:
http://www.soziologie.uni-halle.de/broeckling/docs/3-praevention-behemoth.pdf
[Zugriff: 02.10.2010]

COMTE, AUGUSTE (1994): Rede über den Geist des Positivismus. Hamburg

EWALD, FRANÇOIS (1993): Der Vorsorgestaat. Frankfurt am Main

LENGWILER, MARTIN / MADARÁSZ, JEANNETTE (HRSG.; 2010): Präventionsgeschichte als Kulturgeschichte der Gesundheitspolitik. In: dies. (Hrsg.): Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik. Bielefeld, S. 11-28

LÜDERS, CHRISTIAN (2011): Prävention. In: Kade, Jochen / Helsper, Werner / Lüders, Christian / Egloff, Birte / Radtke, Frank-Olaf / Thole, Werner (Hrsg.): Pädagogisches Wissen. Erziehungswissenschaft in Grundbegriffen. Stuttgart, S. 44-50


DJI Impulse 2/2011 - Das komplette Heft finden Sie im Internet unter:
www.dji.de/impulse


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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 2/2011 - Nr. 94, S. 4-6
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Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
abonniert oder unter vontz@dji.de schriftlich angefordert werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Juli 2011