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GESELLSCHAFT/209: Das Generationen-Geheimnis - Das Oma-Prinzip (DJI)


DJI Bulletin 2/2009, Heft 86
Deutsches Jugendinstitut e.V.

Das Generationen-Geheimnis
Das Oma-Prinzip

Von Jan Marbach


Die Rolle der fürsorglichen Großmutter hat einen Haken: Omas Zuwendung erfahren vor allem die eigene Tochter und deren Kinder. Bei der Bindung der Großeltern an den Nachwuchs der Schwiegertochter gibt es dagegen Nachholbedarf.


Aufgrund der zunehmenden Lebenserwartung kann heute eine Großmutter ihre Enkel nicht selten bis zu deren 30. Lebensjahr erleben - eine Zeitspanne, die bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts allenfalls Eltern mit ihren Kindern verbringen durften. Da Kinder wegen des Geburtenrückgangs zudem immer weniger Tanten, Onkel und Geschwister haben, erlangen die Großeltern für Enkel noch mehr Bedeutung. In den verschiedenen Wellen des Familiensurveys des Deutschen Jugendinstituts (DJI) findet diese Entwicklung darin ihren Ausdruck, dass die Betreuung der Kinder durch Großeltern seit 1988 stark zugenommen und die durch Geschwister abgenommen hat. In den wiederholten Befragungen von jeweils mehr als 10.000 Personen wurden vor allem alltägliche Situationen in familialen Netzwerken untersucht. Großeltern, Eltern und Jugendliche berichteten unter anderem über gemeinsame Mahlzeiten, über ihre Gesprächspartner in persönlich wichtigen Angelegenheiten, über emotionale Bindungen und die finanzielle Unterstützung, die sie innerhalb der Familie erhalten oder selbst gewähren. Dem Familiensurvey zufolge ist die Beziehung zwischen Großeltern und Enkeln ebenso wie die Beziehung zwischen Eltern und Kindern vor allem durch die enge Gefühlsbindung und die gemeinsam verbrachte Freizeit geprägt. Eine Zusatzstudie zum Familiensurvey, in der die Lebenslage von mehr als 2.000 Kindern in nichtehelichen Gemeinschaften untersucht wurde, zeigt außerdem, dass die Großeltern mütterlicherseits ihre Enkel deutlich öfter sehen oder hören als die Eltern des Vaters. Das Geschlecht der Enkel bleibt dabei bedeutungslos. Knapp drei Viertel der Großmütter haben demnach häufiger als einmal monatlich Kontakt zu den Kindern ihrer leiblichen Töchter. Den Nachwuchs ihrer Schwiegertöchter kontaktieren dagegen nur 42,7 Prozent der Omas mindestens einmal monatlich. Und bei den Großvätern väterlicherseits sieht es noch schlechter aus: Lediglich 38,5 Prozent von ihnen nehmen öfter als einmal im Monat Kontakt zu ihren Enkeln auf. Zum Vergleich: Bei den Großvätern mütterlicherseits sind es 71,1 Prozent (siehe Tabelle).


Oma und Opa im Einsatz


Großeltern, die häufiger als einmal im Monat
Kontakt zu ihren Enkeln haben, in Prozent
Großmutter mütterlicherseits
74,5                   
Großvater mütterlicherseits
71,1                   
Großmutter väterlicherseits
42,7                   
Großvater väterlicherseits
38,5                   



»Vater ist immer unsicher«

Es ergibt sich eine Hierarchie der Kontaktintensität, die auch in anderen Untersuchungen immer wieder manifest wird: zum Beispiel in den Studien von Christine H. Littlefield und J. Philippe Rushton, die 1986 in Kanada erforschten, bei welchen Großelternteilen der psychische Schmerz am stärksten ist, wenn sie den Tod eines Enkels betrauern. Auch der Psychologe Harald A. Euler und die Anthropologin Barbara Weitzel von der Universität Kassel stießen 1996 bei einer Befragung von Studierenden über die Fürsorge ihrer Großeltern auf die beschriebene Reihenfolge. Selbst in anderen Kulturkreisen ergab sich bei Forschungen immer wieder dieselbe Hierarchie.

Diese Hierarchie entspricht annähernd einer Abfolge, die zu erwarten ist, wenn man von der alten Erkenntnis »Pater semper incertus est« ausgeht (Der Vater ist immer unsicher). Demnach würden Großmütter eher ihren blutsverwandten Töchtern helfen, da bei den Kindern der Schwiegertochter immer eine gewisse Unsicherheit herrscht, ob der eigene Sohn auch wirklich der Vater ist. Die Wissenschaft spricht hier von »sicheren« und »unsicheren« Abstammungslinien. Warum diese Abstammungslinien die Kontakte zwischen Großeltern und Enkeln beeinflussen, dafür bietet die Evolutionsbiologie ein Erklärungsmodell an (Marbach 1998, 2007). Danach werden unabhängig von Geschlecht, Kultur und Epoche verwandte vor nichtverwandten Personen bevorzugt, Blutsverwandte vor Angeheirateten und »sichere« vor »unsicheren« Verwandten. Antriebskraft ist ein biologischer Mechanismus, der zum Ziel hat, möglichst viele Genkopien an die jeweils nachfolgende Generation weiterzugeben (biologische Fitness). Dies liefert auch eine Erklärung dafür, dass die Gefühle der Großeltern für ihre Enkel beziehungsweise der Eltern für ihre Kinder stets stärker sind als umgekehrt. Das höhere Reproduktionspotenzial der Jüngeren rechtfertigt die Asymmetrie der investierten Gefühle.


Auch Scheidungskinder brauchen Großeltern

Die unbewusste Präferenz für die mütterliche Abstammungslinie gilt unabhängig davon, ob Kinder bei verheirateten oder unverheirateten Eltern leben oder bei einem Elternteil mit neuem Partner. Das zeigen internationale Studien (Euler/Weitzel 1996 u. a.; Dunbar/Spoors 1995; Littlefield/Rushton 1986; Kaindl 2008) ebenso wie die Forschungen des DJI. Kommt eine Trennung der Eltern hinzu, fördert die DJI-Studie »Kinder in nichtehelichen Lebensgemeinschaften« aber ein weiteres herausragendes Ergebnis zu Tage. Danach gibt es nur zwei relevante statistische Faktoren, die die Beziehung zwischen Großeltern und Enkeln unter diesen Voraussetzungen beeinflussen: erstens die Abstammungslinie und zweitens die Häufigkeit des Kontakts der getrennt lebenden Eltern. Beide Faktoren sind statistisch gleich stark. Während der biologische Antrieb allerdings »von allein« wirkt, muss man sich Kultur bewusst »erarbeiten«.

Expartnern kommt hier eine wichtige Rolle als Vermittler zwischen Großeltern und Enkeln zu. Die Eltern müssen zum Wohl ihres Kindes eine Abgrenzung voneinander überwinden, damit ihr Nachwuchs nicht nur die Großeltern mütterlicherseits, sondern auch die Großeltern väterlicherseits für seine Entwicklung nutzen kann. Der Gesetzgeber tat deshalb gut daran, 1998 gegen die Verfechter des überkommenen »Unteilbarkeitsprinzips« bei Sorgerechtsentscheidungen im Regelfall ein gemeinsames Sorgerecht für geschiedene Eltern einzuführen (Limbach/Willutzki 2002). Dies erhöht die Chancen eines Kindes, von allen Großeltern unterstützt zu werden.

Kontakt: Jan.Marbach@t-online.de


Literatur :

Dunbar, Robin / Spoors, M. (1995): Social networks, support cliques, and kinship. Human Nature 6, pp. 273-290

Euler, Harald A. / Weitzel, Barbara (1996): Discriminative grandparental solicitude as reproductive strategy. Human Nature 7, pp. 39-59

Kaindl, Markus (2008): Die Rolle der Großeltern. Innerfamiliale Generationensolidarität aus Sicht der Großeltern. Österreichisches Institut für Familienforschung: »Beziehungsweise«, Nr. 4

Limbach, Jutta / Willutzki, Siegfried (2002): Die Entwicklung des Familienrechts seit 1949. In: Nave-Herz, Rosemarie (Hrsg.): Kontinuität und Wandel der Familie in Deutschland. Eine zeitgeschichtliche Analyse. Reihe »Der Mensch als soziales und personales Wesen«, Band 19. Stuttgart, S. 7-43

Littlefield, Christine H. / Rushton, J. Philippe (1986): When a child dies: The sociobiology of bereavement. Journal of Personality and Social Psychology 51, pp. 797-802

Marbach, Jan H. (1997): Sozialer Tausch unter drei familiär verbundenen Generationen. In: Mansel, Jürgen / Rosenthal, Gabriele / Tölke, Angelika (Hrsg.): Generationen Beziehungen, Austausch und Tradierung. Opladen, S. 85-96

Marbach, Jan H. (1998 a): Verwandtschaftsbeziehungen und Abstammung - Eine Prüfung soziobiologischer und ethnologischer Thesen mithilfe familiensoziologischer Daten. In: Wagner, Michael / Schütze, Yvonne (Hrsg.): Verwandtschaft. Reihe »Der Mensch als soziales und personales Wesen«, Band 14. Stuttgart, S. 91-126

Marbach, Jan H. (1998 b): Nichteheliche Kinder im Verwandtennetz. Beziehungen von Kindern in nichtehelichen Gemeinschaften zu Eltern und Großeltern in den alten und neuen Bundesländern. In: Bien, Walter / Schneider, Norbert (Hrsg.): Kind ja, Ehe nein? Status und Wandel der Lebensverhältnisse von nichtehelichen Kindern und von Kindern in nichtehelichen Lebensgemeinschaften. Opladen, S. 175-205

Marbach, Jan H. (2007): Verwandtschaft und Freundschaft im Licht familienbezogener Umfragedaten: Empirische Befunde und theoretische Folgerungen. In: Schmidt, Johannes F. K. / Guichard, Martine / Schuster, Peter / Trillmich Fritz (Hrsg.): Freundschaft und Verwandtschaft. Zur Unterscheidung und Verflechtung zweier Beziehungssysteme. Konstanz, S. 65-96

Salmon, Charles A. / Daly, Martin (1996): On the importance of kin relations to Canadian women and men. Ethology and Sociobiology 17, pp. 289-297


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Quelle:
DJI-Bulletin Nr. 2/2009, Heft 86, S. 14-15
Herausgeber:
Deutsches Jugendinstitut e.V. (DJI)
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. September 2009