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FORSCHUNG/168: Entscheidungen in basalen Hirnvorgängen - Grübler oder Macher (RUBIN)


RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Winter 2011
Ruhr-Universität Bochum

Psychologen beobachten Entscheidungen in basalen Hirnvorgängen
Grübler oder Macher

von Meike Drießen


Gibt es den geborenen Erfolgstypen? Erkenntnisse aus der Psychologie könnten zu dieser Annahme verleiten. Denn die Art und Weise, wie wir entscheiden und handeln, wird aktuellen Studien zufolge vom Ablauf basaler Vorgänge in unserem Gehirn bestimmt. Dennoch sagt die Motivationsforscherin Dr. Marlies Pinnow: Geborene Sieger gibt es nicht.


Das Ziel klar vor Augen, tatkräftig anpacken, Überflüssiges ausblenden: Wer so zu Werke geht, der bringt es im Leben zu was. Nur ist das nicht jedermanns Sache. Was, wenn doch etwas schiefgeht? Habe ich auch alles ausreichend bedacht? Viele Menschen können sich von solchen Bedenken nicht einfach frei machen. Sie sehen nicht nur ihr Ziel, sondern auch mögliche Hindernisse, haben daher Schwierigkeiten, überhaupt anzufangen oder lassen sich leicht ablenken und verzetteln sich auf Nebenschauplätzen. Psychologen unterscheiden diese so genannten lageorientierten von den handlungsorientierten Typen, den "Machern".

"Lageorientierung kann unter bestimmten Bedingungen zu einer Lähmung des Handelns führen, deswegen werden lageorientierte Menschen von der Gesellschaft leicht als Verlierertypen abgestempelt", sagt Dr. Marlies Pinnow, Motivationspsychologin an der RUB. "Ihre Herangehensweise hat aber nicht nur Nachteile. In nahezu jedem Aufgabenfeld gibt es Situationen, in denen eine starke Lageorientierung wichtig ist. Lageorientierte Typen achten mehr auf Gefahrenmomente der Situation - was im Vorfeld der jetzigen Euro-Krise sicher nicht von Nachteil gewesen wäre, weil man einige Fehlentwicklungen rechtzeitig hinterfragt hätte." Denn Handlungsorientierte blenden nicht nur Überflüssiges, sondern beim Sturm auf ihr Ziel auch unangenehme Erlebnisse aus. Lageorientierte sind hingegen nicht so sehr "Partisanen ihrer eigenen Pläne", nehmen Bedrohungen bewusster wahr, sind empfänglicher für Informationen und bedenken sie mit. Letztlich brauchen sie zwar länger für komplexe Entscheidungen, sind aber im Nachhinein damit auch zufriedener. Die Mischung macht's! "In einem Flugzeug sollte der Pilot vielleicht eher handlungsorientiert sein, der Ko-Pilot aber besser lageorientiert, wenn beide sich verstehen", überlegt Dr. Pinnow. "In der Sicherheitsabteilung eines Atomkraftwerks sollte man ebenfalls nicht nur handlungsorientierte Menschen einsetzen." Dr. Pinnow und ihr Team, Dipl. Psych. Stefanie Schulz und Violetta Laskowski, M.Sc. Psychologie, sind den beiden Typen weiter auf den Grund gegangen. Sie wollten wissen, wie sich Handlungs- oder Lageorientierung auf Handlungskontrollprozesse im Gehirn auswirkt. Dazu ließen sie 42 Probanden zunächst einen Fragebogen ausfüllen. "Dabei muss man sein eigenes Verhalten einschätzen", erklärt die Psychologin. Die Fragen betreffen alltägliche Situationen wie: Wie gehe ich mit Misserfolgen um - beschäftigen sie mich noch lange oder kann ich sie schnell abhaken? Wenn etwas Wichtiges oder Schwieriges ansteht - lege ich gleich los oder dauert es lange, bis ich mich endlich aufraffe? Wenn ich mit etwas beschäftigt bin - bleibe ich konzentriert dabei oder lasse ich mich leicht ablenken? Da es immer nur zwei Antwortmöglichkeiten gibt, teilte sich die Gruppe in zwei Lager: 21 Personen der Gruppe schätzten sich als handlungsorientiert, 21 als lageorientiert ein.

Der nächste Schritt war ein computergestützter Test, bei dem zudem die Hirnströme der Probanden gemessen wurden (EEG-Ableitung). Den Versuchspersonen wurden auf dem Bildschirm je zwei leere Kästchen gezeigt. Nach einer bestimmten Zeit erschien in einem der beiden Kästchen ein X. Die Aufgabe war, mittels Tastendruck zu bestätigen, ob das X im oberen oder im unteren Kästchen erschienen war. So weit, so einfach. Der Test hatte aber einen Haken: Vor dem Erscheinen des X wurde eines der Kästchen gelb markiert (s. Abb. 2). Diese Markierung hatte aber nichts mit dem Erscheinen des X zu tun, d.h. mal erschien das X im selben Kästchen - die Forscher nennen diese Folge valide oder cued -, mal im anderen (invalide bzw. uncued). Die Probanden mussten also die gelbe Markierung möglichst ausblenden (da sie nur in 50% auf die Position des Zielreizes hinwies), sich ausschließlich auf das Erscheinen des X konzentrieren und die Reaktion auf den anderen Reiz hemmen. Zusätzlich variierte die Zeit zwischen Auftauchen der gelben Markierung und X von 50 bis 1240 Millisekunden - je länger die Zeit dazwischen, desto schneller ist die invalide Reaktion.

Die Schlüsselfrage für die Forscher lautete: Wie viel länger brauchen die Probanden für ihre Reaktion, wenn gelbe Markierung und X nicht im selben Kästchen erscheinen, also bei invalider Bedingung? Es zeigte sich deutlich, dass handlungsorientierte Menschen mit der Aufgabe wesentlich besser zurechtkamen als lageorientierte. Sie reagierten deutlich schneller bei invaliden, schwierigen Bedingungen. Lageorientierte brauchten je nach Zeitverzug zwischen gelber Markierung und X zwischen 10 und 20 Millisekunden länger für die Reaktion, da sie schlechter in der Lage sind Irrelevantes zu hemmen (s. Abb. 3). Die EEG-Ableitung (s. Abb. 1 und 4) stützte diese Ergebnisse: Sie registrierte eine entsprechend verzögerte Aktivierung des Präfrontalen Kortex, dem Kontrollzentrum für die Handlungssteuerung im Gehirn, und dokumentiert so auch neuronal ein Hemmungsdefizit bei Lageorientierung (s. Abb. 5).

Das zeigt nicht nur, dass die Selbsteinschätzung sehr verlässlich ist. "Damit können wir auch zum ersten Mal zeigen, dass das Persönlichkeitsmerkmal der Handlungs- oder Lageorientierung sich bis in basale Prozesse im Gehirn hinein verfolgen lässt", erklärt Dr. Pinnow. Lageorientierte Menschen sind also nicht "schuld" daran, dass sie langsamer entscheiden, ablenkbarer sind und negative Stimmungen schlechter ausblenden können. Man kann einfach nicht aus seiner Haut.

Das heiße aber nicht, dass man sich selbst hilflos ausgeliefert ist, betont Dr. Pinnow. "Wenn man sich selbst bewusst ist, wie man sich in bestimmten Situationen verhält, kann man sein eigenes Verhalten besser steuern, durch bewusste Maßnahmen den Kopf überlisten." Die Selbsteinschätzung wird zum Beispiel bei Coachings eingesetzt. "Unter Studierenden, die jahrelang einfach nicht fertig werden, sind zum Beispiel viele lageorientierte Persönlichkeiten", hat Marlies Pinnow festgestellt. Ihr Problem ist einerseits, dass sie jedes mögliche Risiko bedenken und sich einfach nicht trauen, sich zur Prüfung anzumelden. Andererseits haben viele von ihnen Motivationsprobleme. Denn lageorientierten Menschen fällt es schwer, eigene Ziele von denen anderer zu unterscheiden. "Studien haben gezeigt, dass lageorientierte Menschen Ziele verfolgen können, die andere ihnen vorgegeben haben, ohne sich dessen bewusst zu sein", erklärt Marlies Pinnow. "Wenn man dann einen Langzeitstudenten fragt, warum er denn eigentlich Medizin studiert, bekommt man zum Beispiel die Antwort: ,Mein Vater war auch schon Arzt'. Da fehlt dann oft die eigene innere Motivation als Antrieb." Hier können Beratungs- und Therapieangebote, die die Wahrnehmung der eigenen Präferenzen und deren Akzeptanz fördern, die positive Selbstmotivation steigern.

Da Lage- und Handlungsorientierung so grundlegend sind, fordert Marlies Pinnow seit langem, sie auch in der Psychotherapie zu berücksichtigen. So hat sie zusammen mit dem Adipositaszentrum für Kinder und Jugendliche in Oberhausen Therapieansätze für Übergewichtige entwickelt, die jenseits von direkter Verhaltenskontrolle des Patienten die Förderung von Selbststeuerungskompetenzen einbeziehen. Dabei geht es darum, die Betroffenen in die Lage zu versetzen, eigene Ziele zu definieren und darauf hinzuarbeiten. So gelingt es besser, gesundheitsdienliches Verhalten langfristig aufrecht zu erhalten. "An der hohen Misserfolgsrate der Standardtherapie kann man sehen, dass es nicht eine Therapie für alle geben kann. Für einen Handlungsorientierten genügt es, wenn der Therapeut sagt: So sieht Ihre Ernährung ab jetzt aus und das Ziel ist, damit eine bestimmte Gewichtsreduktion zu erreichen. Er kann sich so diesem Ziel verpflichten und unbeirrt darauf hinarbeiten. Ein Lageorientierter kann nicht ausblenden, dass es überall um ihn herum Nahrungsmittel gibt, die rufen ,Iss mich! Iss mich!", illustriert sie. Derzeit übernehmen Krankenkassen allerdings nicht die Kosten für eine speziell abgestimmte Therapie.

Künftig will sich die Forscherin damit befassen, wie Handlungs- und Lageorientierung mit genetischen Dispositionen verknüpft sind. Wie genau es zur Ausprägung eines der beiden Typen kommt, ist noch unklar. Fest steht, dass es neben einer möglichen genetischen auch eine soziale Komponente geben muss. Hier scheint vor allem der sog. responsive Kontakt zwischen Eltern-Kind eine bedeutende Rolle zu spielen, indem Eltern unmittelbar und auch angemessen auf die Äußerungen des Kindes reagieren. Dass Handlungsorientierung bei Kindern von den Eltern schon früh gewollt und gezielt gefördert ist, glaubt sie aber nicht: "Bei Erwachsenen findet unsere Gesellschaft Handlungsorientierung zwar wünschenswert, häufig mangelt es den Eltern aber an der ausreichenden Feinfühligkeit, bei Stress des Kindes entsprechend zu reagieren. Sie müssten dem Kind Hilfe zur Selbsthilfe geben, zum Beispiel ein Kuscheltier reichen, damit es sich selbst beruhigt. Häufig werden Kinder aber entweder überbehütet oder bei Stress allein gelassen, so dass sie nicht lernen, ihre Emotionen selbst zu regulieren."


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abbildung 1 auf Seite 41:
Marlies Pinnow bereitet eine Versuchsperson auf den Test vor.

Abbildung 2 auf Seite 40:
Ablauf der einzelnen Versuchsdurchgänge des computergestützten Tests. Durch Druck auf eine obere oder untere Taste einer speziellen Tastatur soll die Testperson anzeigen, in welchem Feld des Monitors - oben oder unten - der Reiz (gelbes X) erschienen ist. Zuvor werden in zufälliger Reihenfolge zu 50 Prozent gelbe Rahmenmarkierungen im gleichen Feld (valide) und zu 50 Prozent im entgegengesetzten Feld (invalide) eingeblendet. Dieser Hinweisreiz erlaubt keine Vorhersage über die zukünftige Position des Zielreizes und sollte daher ausgeblendet werden.

Abbildung 3 auf Seite 42:
Darstellung der verlangsamten Tastenreaktionen der lageorientierten Personen (graue Balken) in der invaliden Bedingung bei verschiedenen Zeitverzögerungen (SOA) im Vergleich zu den handlungsorientierten Personen (rote Balken). Die längeren Reaktionszeiten der Lageorientierten belegen ihre verstärkte Ablenkbarkeit während der Aufgabenbearbeitung durch die nicht-informative gelbe Rahmenmarkierung (links).
Bei gleicher Reaktionszeit zwischen invalider und valider Bedingung, indiziert durch die Nullstelle in der Grafik, kann man von einer erfolgreichen Inhibition des irrelevanten Hinweisreizes ausgehen. Diese Hemmung tritt bei Handlungsorientierten (rote Linie) ca. 370 Millisekunden früher auf als bei Lageorientierung (blaue Linie) (Mitte).

Abbildung 4 auf Seite 43:
Per EEG-Ableitung beobachteten die Psychologen die Aktivität im Gehirn der Probanden während der Entscheidungsaufgabe.

Abbildung 5 auf Seite 43:
Die effektivere Informationsverarbeitung bei der Aufgabenbearbeitung der Handlungsorientierten wird neurophysiologisch begleitet von einer mittels EEG erfassten frühzeitigeren Aktivierung des Präfrontalkortex, der eine besondere Bedeutung für die Handlungskontrolle hat.

Den Artikel mit Bildern finden Sie im Internet im PDF-Format unter:
http://www.ruhr-uni-bochum.de/rubin/rubin-winter-2011/pdf/beitrag05.pdf


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Quelle:
RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Winter 2011, S. 40-43
Herausgeber: Rektorat der Ruhr-Universität Bochum
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Januar 2012