Schattenblick →INFOPOOL →SOZIALWISSENSCHAFTEN → PSYCHOLOGIE

FORSCHUNG/159: Entscheidungsprozesse - Gedankenlesen und Bauchgefühl (Einblicke - Uni Oldenburg)


Einblicke - Forschungsmagazin der Universität Oldenburg
Nr. 53/Frühjahr 2011

Gedankenlesen und Bauchgefühl

Von Dorothe Poggel und Reto Weiler


Mit Hilfe moderner bildgebender Verfahren können Zeitverläufe und neuronale Mechanismen von Entscheidungsprozessen untersucht werden. Damit lassen sich Erkenntnisse über eine kognitive Leistung des menschlichen Gehirns erlangen, die eng mit philosophischen Fragen verknüpft und von erheblicher Bedeutung für unser Alltagsleben sind.


Beim Lesen der Speisekarte im Restaurant, vor dem Warenregal im Kaufhaus, beim Wandern an einer Wegkreuzung, bei der Auswahl eines Studienfachs oder der Ausbildungsrichtung, vor dem Traualtar oder in der Wahlkabine: Wir fällen im täglichen Leben ständig Entscheidungen. Dies können ganz einfache, spontane, sogar triviale Vorgänge sein oder auch hochkomplexe Abläufe mit weit reichenden Folgen. Viele davon sind uns oftmals nicht bewusst - oder wissen Sie, warum Sie diesen Artikel lesen?

Der Ursprung für Entscheidungsprozesse ist in der Evolution zu finden. In ihrem Verlauf haben sich immer komplexere neuronale Strukturen entwickelt, die zwischen der Aufnahme von Reizen und der Reaktion des Organismus vermitteln. Während einfache Lebewesen nur reflexhaft auf äußere Bedingungen reagieren konnten, hat sich bei evolutionär höher stehenden Organismen die Fähigkeit herausgebildet, Verhaltensweisen in Abwägung innerer und äußerer Umstände auszuwählen. Für komplexere Entscheidungsvorgänge sind kognitive Fähigkeiten erforderlich, die vor allem auf der Funktion der Großhirnrinde (Kortex) beruhen. Der Vorteil ist eine größere Unabhängigkeit von Umweltbedingungen, so dass Handlungen aufgeschoben oder optimal angepasst werden können.


Von der Introspektion zu bildgebenden Verfahren

Wie Entscheidungen getroffen werden, hat die akademische Psychologie seit ihren Gründungstagen im späten 19. Jahrhundert beschäftigt. In den Anfängen der psychologischen Forschung dominierte die Methode der Introspektion, also die subjektive Beschreibung innerer Vorgänge. Später orientierte sich die Entscheidungsforschung am Vorbild des wissenschaftlichen Experiments. In den 1960er Jahren rückten kognitive Prozesse in den Fokus der Forschung. Mit Hilfe von Verhaltensexperimenten untersuchten nun WissenschaftlerInnen, wie Entscheidungsprozesse ablaufen, auf welchen Informationen sie basieren und wie sich die Beurteilung einer Situation durch Einflussfaktoren wie Zeitdruck, emotionale Zustände, erlernte Informationen oder Risiken bei Fehlentscheidungen ändert. Das beginnende Computerzeitalter und die Forschung im Bereich der Künstlichen Intelligenz machten eine objektive Definition von Entscheidungsprozessen erforderlich, um automatisierte Entscheidungsabläufe von einfachen Maschinen und Computerprogrammen bis hin zum Schachcomputer oder den komplexen Steuerungsmechanismen eines Flugzeugs zu planen.

Eine Wende für die Entscheidungsforschung - und für viele andere psychologische Forschungsbereiche - brachte der Beginn der Nutzung bildgebender Verfahren in den 1990er-Jahren. Diese neuen Methoden, wie etwa die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) lieferten Informationen über Hirnmechanismen und deren Zeitverläufe, die Befunde aus Verhaltensexperimenten ergänzten. Viele Hirnstrukturen bzw. neuronale Netzwerke, die im Rahmen von Entscheidungsprozessen aktiviert sind, konnten identifiziert und individuelle Unterschiede objektiviert werden.


Areale der Entscheidung

Entscheidungsprozesse beruhen auf einer Vielzahl von Faktoren: zum Beispiel Umgebungseinflüssen, Lernerfahrungen, emotionalen und rationalen Aspekten. Daher ist es nicht erstaunlich, dass an Entscheidungsprozessen weitreichende neuronale Netzwerke beteiligt sind: Wahrnehmungsinformationen aus der Umwelt, die beispielsweise im Hörkortex verarbeitet werden, müssen berücksichtigt werden: Lauert ein Raubtier im Gebüsch, oder stammt das Geräusch von einem Vogel? Auch Informationen aus dem Gedächtnis - hier werden der Temporalkortex und der Hippocampus aktiv - fließen in Entscheidungsvorgänge ein: Wie hat man sich beim letzten Mal verhalten, als das Raubtier aus dem Gebüsch sprang, und welche Konsequenzen hatte dieses Verhalten? Zusätzlich spielen emotionale Prozesse - vermittelt zum Beispiel durch die Amygdala und weitere subkortikale Strukturen - eine wichtige Rolle: Ist die Angst so groß, dass man weglaufen möchte, oder stellt man sich der Situation? Nicht zuletzt hängt die Entscheidung natürlich auch davon ab, welches Repertoire an Handlungsweisen zur Verfügung steht. An dieser Stelle kommen der motorische Kortex und exekutive Zentren im Frontallappen ins Spiel: Ein Affe wird beim Anblick des Raubtiers auf einen Baum flüchten, während ein Mensch eher zur Waffe greift.

Auf solche komplexen Abwägungen von Informationen haben sich besonders die frontalen kortikalen Areale unseres Gehirns spezialisiert. In fMRT-Studien zum Entscheidungsverhalten sind üblicherweise der orbitofrontale und ventromediale präfrontale Kortex sowie der anteriore cinguläre Kortex aktiviert. Die Aktivierungsmuster ändern sich je nach der emotionalen Beteiligung an den Entscheidungsvorgängen. Sie sind aber auch davon abhängig, ob die Entscheidung aus sich selbst heraus oder auf Anweisung einer anderen Person getroffen wird. PatientInnen, die Schädigungen im frontalen Hirnbereich aufweisen, leiden häufig unter Entscheidungsproblemen. Diese können verschiedenste Ausprägungen annehmen: So neigen einige PatientInnen beispielsweise zu starker Impulsivität, andere haben Schwierigkeiten, komplexe Informationen zu ihrem Vorteil abzuwägen und das angemessene Verhalten auszuwählen. Es gibt Hinweise darauf, dass Informationen zur subjektiven Zuverlässigkeit der Entscheidung im Parietalhirn repräsentiert sind, das mit frontalen Hirnarealen in enger Verbindung steht. Besonders bei unsicheren Entscheidungen, etwa bei Informationsmangel zur Ausgangssituation oder den möglichen Konsequenzen der Entscheidung, spielen außerdem noch subkortikale Hirngebiete eine Rolle, die den Entscheidungsprozess durch emotionale Komponenten unterstützen. Mit Hilfe bildgebender Verfahren wurde auch festgestellt, dass viele Entscheidungsabläufe, besonders wenn es sich um Bewegungen oder fast automatisierte Reaktionen handelt, gar nicht bewusst werden.


Entscheidungsfreiheit oder neuronale Vorherbestimmung?

Die Befunde aus den Neurowissenschaften warfen tiefer gehende philosophische Fragen auf: Inwieweit kann der Mensch wirklich frei entscheiden? Gibt es überhaupt einen "freien Willen", oder sind die Entscheidungen, die wir treffen, durch die neuronalen Mechanismen eindeutig festgelegt? Besondere Brisanz erhielt das Thema, als in der Presse die fMRT-Methode als Mittel zum Gedankenlesen gefeiert wurde: In einer Studie von 2008 (Nature Neuroscience) zeigten John-Dylan Haynes und Kollegen, dass sie mit Hilfe von fMRT-Signalen die Entscheidung, einen von zwei Knöpfen zu drücken, bereits annähernd fünf Sekunden vor der eigentlichen Ausführung der Handlung vorhersagen konnten. Ähnliche Versuche wurden auch mit Hilfe von Elektroenzephalographie (EEG) oder Blickbewegungsmessungen unternommen. Auch die lang gehegte Auffassung, dass Entscheidungen kühl und rational getroffen werden sollten, um das "beste" Ergebnis zu erreichen, wurde durch neurowissenschaftliche Ergebnisse zumindest in Zweifel gezogen: Antonio Damasio zeigte, dass eine Schädigung der subkortikalen Emotionszentren (im so genannten Limbischen System) massive Entscheidungsprobleme bei PatientInnen hervorrufen kann, selbst dann, wenn die intellektuellen, rationalen Fähigkeiten voll erhalten sind. Wir brauchen also offenbar unser "Bauchgefühl", um Entscheidungen treffen zu können.


Anwendungsgebiete der Entscheidungsforschung

Neurowissenschaftlern steht also eine Werkzeugkiste an Methoden zur Verfügung, mit denen ein tiefer Einblick in die Mechanismen und Zeitverläufe von Entscheidungsprozessen möglich ist, teilweise sogar deren Vorhersage. Entsprechend groß ist das Interesse, dieses Wissen für Anwendungen innerhalb und außerhalb der Neurowissenschaften zu nutzen. Ein Beispiel ist die klinische Forschung, wo durch neurowissenschaftliche Erkenntnisse Krankheitsbilder besser verstehbar werden, die u.a. von Entscheidungsproblemen gekennzeichnet sind (Schizophrenie, Schädigungen des Frontalhirns). Sowohl die Diagnosestellung könnte durch die modernen Methoden verbessert werden als auch die Schaffung neuer Behandlungsformen. Besonders starken Einfluss hat der Neuro-Aspekt auf die Marketing-Branche gewonnen: Hier werden neurowissenschaftliche Erkenntnisse genutzt, um Kundenpräferenzen zu erfassen. Diese Erkenntnisse könnten vermutlich auch zur Manipulation genutzt werden, wenn die Mechanismen erst einmal bekannt sind. Es ist jedoch fraglich, ob dies über die Effekte der herkömmlichen Werbemaßnahmen hinausgehen würde. Weitere Anwendungsgebiete, beispielsweise in der Lebensberatung (Entscheidungen bei der Partnerwahl), militärischen Strategieplanung (Vorhersage von Entscheidungsprozessen des Gegners) und sozialpolitische Anwendungen (Präferenzen für PolitikerInnen, Lebensstile), sind denkbar, aber voraussichtlich erst in einer ferneren Zukunft realisierbar.


Entscheidungsforscher am Hanse-Wissenschaftskolleg (HWK)

Im November 2011 wird der bekannte Wirtschaftswissenschaftler, Prof. Ernst Fehr, als Fellow des Hanse-Wissenschaftskollegs (HWK) über seine Arbeiten aus der Neuroökonomie in einem wissenschaftlichen Seminar und in einem öffentlichen Vortrag reden. In seinem Forschungsbereich geht es beispielsweise darum, Hirngebiete zu stimulieren, um neuronale Mechanismen von Entscheidungsprozessen zu klären und kausale Faktoren zu bestimmen.

Auch andere ehemalige Fellows des HWK befassten sich mit verschiedenen Aspekten von Entscheidungsprozessen. Prof. Dr. Ivan Bodis-Wollner von der State University of New York bearbeitete 2002 und 2003 ein Projekt zu willkürlichen Bewegungen (in Kooperation mit Prof. Dr. Mark W. Greenlee, Hochschullehrer für Experimentelle Psychologie an der Universität Regensburg, der von 1999 bis 2003 an der Universität Oldenburg unterrichtete). Unter anderem war dieses Projekt auch für die klinische Forschung relevant, weil PatientInnen mit Parkinson häufig Probleme haben, willkürliche Bewegungen zu initiieren. Ebenfalls 2003 war Dr. Franz Mechsner vom Max-Planck-Institut für Psychologische Forschung (München) zu Gast am HWK, wo er Forschung zur menschlichen Bewegungssteuerung durchführte. Prof. Dr. Frank Rösler (Universität Marburg) nutzte seinen Aufenthalt am HWK 2008/2009 für ein Buchprojekt zum Thema "Handlungskontrolle und Entscheidungsfindung: Immanente Eigenschaften des Nervensystems?".


DIE AUTOREN

Dr. Dorothe Poggel, seit September 2010 Referentin für den Bereich Neuro- und Kognitionswissenschaften am Hanse-Wissenschaftskolleg, studierte Psychologie an der Technischen Universität Berlin und der Universität Oxford (Großbritannien) und promovierte 2002 in Magdeburg. An der Universität München war sie am Aufbau des Sehlabors und an Forschungsprojekten zur Wahrnehmung von Zeit beteiligt. Von 2003 bis 2009 arbeitete sie in Boston (USA) als Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Boston Retinal Implant Project (VA Medical Center, Harvard Medical School, MIT). Dort setzte sie sich unter anderem mit fMRT-Untersuchungen kortikaler Plastizität bei Kandidaten für Retinaimplantate auseinander. Anschließend wirkte sie an der Universität Göttingen an einem Projekt zum Zusammenhang von Hirnanatomie, der Topographie elektrischer Hirnsignale und von fMRT-Signalen mit.

Prof. Dr. Reto Weiler, Rektor des Hanse-Wissenschaftskollegs, ist seit 1986 Hochschullehrer für Neurobiologie an der Universität Oldenburg, deren Vizepräsident für Forschung er von 2005 bis 2008 war. Nach seinem Biologiestudium in Zürich ging Weiler zunächst an die Universität München, wo er 1977 promovierte und 1982 habilitierte. Forschungsaufenthalte führten ihn nach Italien, Kanada und in die USA. 1990 wurde er mit dem Max-Planck-Forschungspreis ausgezeichnet. Seit 2004 ist Weiler Mitglied im Fachkollegium Neurowissenschaften der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) sowie Direktor des Forschungszentrums Neurosensorik der Universität Oldenburg. Der Biologe war maßgeblich an der Einrichtung des ersten DFG-Sonderforschungsbereichs "Neurokognition" der Universität Oldenburg und der Universität Bremen beteiligt. Seit 2006 ist er Sprecher der DFG-Forschergruppe "Dynamik und Stabilisierung retinaler Verarbeitung."


*


Quelle:
Einblicke Nr. 53, 26. Jahrgang, Frühjahr 2011, Seite 21-25
Herausgeber: Das Präsidium der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Presse & Kommunikation:
Ammerländer Heerstraße 114-118, 26129 Oldenburg
Telefon 0441/798-5446, Fax 0441/798-5545
e-mail: presse@uni-oldenburg.de
www.presse.uni-oldenburg.de/einblicke/

Einblicke erscheint zweimal im Jahr und informiert
eine breite Öffentlichkeit über die Forschung der
Universität Oldenburg.


veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juni 2011