Schattenblick →INFOPOOL →SOZIALWISSENSCHAFTEN → PSYCHOLOGIE

FORSCHUNG/100: Was der Gang über Läufer und Betrachter verrät (RUBIN - Ruhr-Uni Bochum)


RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Frühjahr 2008 - Ruhr-Universität Bochum

Von Cowboys und Prinzessinnen
Was der Gang über Läufer und Betrachter verrät


Punktmännchen bringen es an den Tag: Schon ab vier Jahren unterscheidet sich der Gang von Jungen und Mädchen. Anhand des Gangs können wir nicht nur das Geschlecht, sondern auch das Alter ablesen. Und in Abhängigkeit davon finden wir den Gehenden attraktiv oder nicht. Im Umkehrschluss lässt die Einschätzung der Attraktivität Rückschlüsse auf die sexuelle Orientierung des Betrachters zu. Von Bedeutung kann das etwa bei der Therapie von Pädophilie sein.


*


So einen richtigen Kerl, den erkennt man schon aus der Ferne: raumgreifende Schritte, ausladende Oberkörperbewegungen, abgespreizte Ellbogen, kurz: ein Cowboy. Damenhaft dagegen werden die Ellbogen eng am Körper gehalten, die Füße voreinander gesetzt und die Knie geschlossen, man sieht es gleich: Da geht eine Prinzessin. Wie jedes Klischee hat auch dieses einen wahren Kern. Die Gangbilder von Männern und Frauen unterscheiden sich deutlich, die meisten Menschen sind problemlos in der Lage, allein am Gang abzulesen, ob sie einen Mann oder eine Frau sehen.

Der wahre Kern des Klischees: der Gang zeigt das Geschlecht

Aber ab welchem Alter sind solche Unterschiede feststellbar? Schleichen sie sich erst mit der Pubertät ein, wenn der Körperbau anfängt, sich stärker zu unterscheiden? Oder doch schon eher? Kann man anhand des Gangbildes erkennen, wie alt das Kind ist, das da geht?

Um diese Fragen beantworten zu können, ließ Andrej König für seine Dissertation in der Fakultät für Psychologie der RUB 27 Mädchen und 27 Jungen zwischen vier und 16 Jahren laufen, und zwar als Punktmännchen im sog. Biomotionlab. Hier wurden den Versuchspersonen 35 reflektierende Markerpunkte am Körper befestigt, unter anderem an den Gelenken der Gliedmaßen und am Kopf. In einem abgedunkelten Raum gingen sie dann auf einer roten Stoffbahn hin und her, die ca. sechs bis neun Schritte lang war, zuerst etwa fünf Minuten zur Eingewöhnung. Dann wurde die Bewegung mittels insgesamt neun Hochgeschwindigkeitsdigitalkameras aufgezeichnet. Die Läufer bemerkten davon nichts, ihnen war auch die Fragestellung unbekannt. Insgesamt wurden pro Läufer vier bis acht Gänge über die rote Bahn aufgezeichnet. Mit einem von Prof. Dr. Nikolaus Troje entwickelten mathematischen Verfahren zur Zerlegung der einzelnen Bewegungskomponenten wurden Durchschnittsgänge der einzelnen Läufer errechnet. Mit diesen Daten wurde der Computer gespeist: Ein Algorithmus, den ein mathematisches Modell zur Zerlegung biologischer Bewegung in einzelner Komponenten zugrunde lag, sollte den Gangmustern das Geschlecht und das Alter der Läufer zuordnen können.

Das gelang mit erstaunlicher Trefferquote: Bei mehr als 70 Prozent der Läufer konnte der Computer das Geschlecht des Läufers schon bei Kindern zwischen vier und zwölf Jahren richtig erkennen; in der Altersgruppe der 13 bis 16-jährigen sogar bei über 80 Prozent. Auch die Zugehörigkeit zu einer der drei Altersgruppen (4-7, 8-12, 13-16 Jahre) gelang in über 80 Prozent der Fälle. "Es gibt also schon bei vierjährigen Kindern deutliche Unterschiede im Gangbild zwischen Mädchen und Jungen", stellt Andrej König fest, "und die korrelieren nicht mit dem Körperbau." Die Unterschiede im Körperbau, die sog. strukturellen Unterschiede, hatten die Forscher anhand der Daten der untersuchten Kinder über Größe, Gewicht und Proportionen ermittelt. Sie fielen in der Stichprobe sogar geringer aus als bei den Daten, die in der Literatur zu finden sind. "Es müssen also andere Effekte dazu beitragen, dass schon vierjährige Mädchen den typischen 'Prinzessinnengang' haben und Jungen wie Cowboys gehen", folgert König. "Vielleicht schauen sich die Kinder diese Bewegungen schon früh von Bezugspersonen ab."

Nachdem der Computer so gut abgeschnitten hatte, wollten die Forscher wissen, ob auch Menschen die Klassifikation des Alters und des Geschlechts der sog. Point-Light-Walker so gut gelingt. Außerdem interessierte sie die Frage, ob der Gang von Menschen verschiedenen Alters und Geschlechts als attraktiv wahrgenommen wird oder nicht. Sie zeigten in einer Folgestudie also erwachsenen Testpersonen die Durchschnittsgangbilder von Personen aus sieben Altersgruppen (4, 8, 12, 16, 20, 25, 30 Jahre). Die Körperhöhe wurde jeweils angeglichen, damit nicht anhand der Größe erkennbar war, ob es sich um ein kleines Kind handelt. Die Probanden, 34 Frauen und sechs Männer, zwei davon homosexuell, sollten drei Fragen beantworten: Handelt es sich um einen Mann oder eine Frau? Wie alt ist die Person, die da geht? Und: Finden Sie sie attraktiv?

Erstes überraschendes Ergebnis: Die menschlichen Probanden unterlagen dem Computer in Sachen Geschlechtszuordnung in den Altersgruppen der 4- und 8-jährigen. Bei den über 20-jährigen Point-Light-Walkern erzielten sie dagegen Trefferquoten von über 90 Prozent. Zwar wurden männliche Läufer aller Altersgruppen meist korrekt identifiziert, weibliche Läufer aber erst ab einem Alter von zwölf Jahren. Jüngere Mädchen wurden eher für Jungen gehalten. Jüngere Versuchspersonen und Singles konnten besser erkennen als ältere oder in Partnerschaften lebende, ob es sich bei dem Läufer um einen Mann oder eine Frau handelt.

Weibliche Läufer werden für jünger gehalten als sie sind

Die Alterseinschätzung gelang den Versuchspersonen recht gut, auch wenn Kinder zwischen vier und 16 Jahren älter geschätzt wurden. 20-jährige Läufer schätzten die Versuchspersonen realistisch ein, während 25- und 30-jährige leicht unterschätzt wurden. Weibliche Point-Light-Walker wurden durchweg für jünger gehalten als männliche (Abb. 1).

Alterseinschätzung: Jüngere Point-Light-Walker werden von den Versuchspersonen älter eingeschätzt, ältere etwas jünger. Etwa 20-jährige werden realistisch eingeschätzt.

Abb. 1: Alterseinschätzung: Jüngere Point-Light-Walker werden von den Versuchspersonen älter eingeschätzt, ältere etwas jünger. Etwa 20-jährige werden realistisch eingeschätzt.


Die Attraktivität eines Gangbildes hängt sowohl vom Alter als auch vom Geschlecht ab. Heterosexuelle Frauen und Männer fanden erwartungsgemäß Läufer des jeweils anderen Geschlechts attraktiver, die beiden homosexuellen Versuchspersonen bevorzugten gleichgeschlechtliche Läufer. Der Gang von Kindern wurde nicht attraktiv gefunden; erst ab einem Alter von 20 Jahren wirkt das Gangbild attraktiv. Männer finden weibliche Läuferinnen ab 25 allerdings schon wieder deutlich unattraktiver, Frauen finden den Gang männlicher Läufer erst ab 30 wieder etwas weniger attraktiv (Abb. 2).

Attraktivitätseinschätzung: Abgesehen von einigen Ausreißern schätzen Frauen und Männer erst Point-Light-Walker ab ca. 20 Jahren als attraktiv ein. Bei männlichen Läufern sinkt die Attraktivität für Frauen ab ca. 30 Jahren wieder. Männer schätzen schon 25-jährige Frauen nicht mehr so attraktiv ein wie 20-jährige.

Abb. 2: Attraktivitätseinschätzung: Abgesehen von einigen Ausreißern schätzen Frauen und Männer erst Point-Light-Walker ab ca. 20 Jahren als attraktiv ein. Bei männlichen Läufern sinkt die Attraktivität für Frauen ab ca. 30 Jahren wieder. Männer schätzen schon 25-jährige Frauen nicht mehr so attraktiv ein wie 20-jährige.


Diese Ergebnisse gaben Andrej König, der schon zu Studienzeiten in der Forensik arbeitete, zu denken: Wenn das Alter der Läufer und die sexuelle Orientierung des Betrachters auf die empfundene Attraktivität so deutliche Auswirkungen haben, müssten ja noch ganz andere Rückschlüsse möglich sein. Er startete eine Pilotstudie mit 51 verurteilten Straftätern in mehreren Justizvollzugsanstalten und einer forensischen Klinik, davon waren 21 wegen Kindesmissbrauchs und 30 wegen anderer Delikte untergebracht. Etwa die Hälfte der wegen Kindesmissbrauchs verurteilten Straftäter hatten die Diagnose Pädophilie.

Pädophilie beeinfusst die Einschätzung der Attraktivität

Beiden Straftätergruppen präsentierte er die Durchschnittsgangmuster der Läufer verschiedenen Alters und Geschlechts. Ergebnis: Die Einschätzung der Attraktivität der Point-Light-Walker unterscheidet sich signifikant zwischen den beiden Gruppen. Die wegen Kindesmissbrauchs verurteilten Straftäter beurteilten teils deutlich jüngere Kinder als attraktiv und es bestand ein korrelativer Zusammenhang mit deren bevorzugten Opferalter und -geschlecht (Abb. 3).

Attraktivitätseinschätzung von wegen Kindesmissbrauchs verurteilten Straftätern im Vergleich mit einer Kontrollgruppe (r.): Erstere bewerten im Vergleich mit der Kontrollgruppe teils deutlich jüngere Läufer als attraktiv.

Abb. 3: Attraktivitätseinschätzung von wegen Kindesmissbrauchs verurteilten Straftätern im Vergleich mit einer Kontrollgruppe (r.): Erstere bewerten im Vergleich mit der Kontrollgruppe teils deutlich jüngere Läufer als attraktiv."


"Anhand der Attraktivitätsbewertungen lassen sich über 80 Prozent der Probanden korrekt einer Gruppe zuordnen", fasst Andrej König die Ergebnisse zusammen. "Das heißt natürlich nicht, dass so ein Test eine gründliche Diagnosestellung ersetzen kann", betont er, "aber er kann eine Hilfe sein, miteinander ins Gespräch zu kommen." Viele Pädophile leugnen ihre sexuelle Orientierung zunächst. Konfrontiert mit einem solchen Testergebnis können sie die Augen davor nicht verschließen - vielleicht eine Grundlage am Anfang einer Therapie. Die Therapie zielt vor allem darauf ab, die Betroffenen in die Lage zu versetzen, mit ihrer Veranlagung umzugehen. "Pädophilie ist eine sexuelle Orientierung wie Hetero- oder Homosexualität", erklärt Andrej König, der selbst als Therapeut mit pädophilen Straftätern arbeitet. "Man kann sie nicht 'heilen'. Der Betroffene muss Strategien entwickeln, wie er damit leben kann, ohne Kindern zu schaden. Das kann zum Beispiel heißen, dass er lernt Risikosituationen zu vermeiden. Dazu muss derjenige aber bereit sein, sich dem Problem zu stellen und mitzuarbeiten." Derzeit vergrößert Andrej König die Stichprobe, um noch aussagekräftigere Ergebnisse zu erzielen.


info

Kooperation und Förderung

Die Dissertation von Andrej König wird betreut von Prof. Dr. Axel Schölmerich (Arbeitseinheit Entwicklungspsychologie der Ruhr-Universität Bochum) und Prof. Dr. Nikolaus Troje (ehemals RUB, jetzt Queen's University, Kanada) in Kooperation mit Prof. Dr. Norbert Leygraf (Institut für Forensische Psychiatrie der Universität Duisburg-Essen). König wurde als Stipendiat am Allgemeinen Promotionskolleg der Ruhr-Universität gefördert. Die Aufnahmen der Point-Light-Walker fanden in den Jahren 2003 und 2004 im Biomotionlab statt, das damals noch an der Ruhr-Universität beheimatet war und inzwischen mit Prof. Dr. Troje an die Queen's University, Kingston, Ontario, Kanada gewechselt ist.

http://www.biomotionlab.ca/


Bildunterschrift der im Schattenblick nicht veröffentlichten Fotos der Originalpublikation:

Schon im Alter von vier Jahren ist bei Jungen und Mädchen ein geschlechtsspezifisches Gangmuster feststellbar.
Insgesamt 35 Markerpunkte von 12 mm Durchmesser wurden an den Versuchspersonen befestigt. Daraus wurden 15 virtuelle Punkte in den Zentren der Hauptgelenke berechnet, welche später zu sehen sind und das Gangbild zeigen.

Diesen Artikel inklusive aller Abbildungen finden Sie im Internet im PDF-Format unter:
www.ruhr-uni-bochum.de/rubin/


*


Quelle:
RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Frühjahr 2008, S. 34-36
Herausgeber: Rektor der Ruhr-Universität Bochum in Verbindung
mit der Gesellschaft der Freunde der Ruhr-Universität Bochum
Anschrift: Pressestelle der Ruhr-Universität Bochum, 44780 Bochum
Tel. 0234/32-22 133, -22 830, Fax 0234/32-14 136
E-Mail: rubin@presse.ruhr-uni-bochum.de
Internet: www.ruhr-uni-bochum.de/rubin/

RUBIN erscheint zweimal im Jahr
(sowie ein Themenheft pro Jahr).
Das Einzelheft kostet 2,50 Euro.
Jahreabonnement: 5,00 Euro (zzgl. Versandkosten)


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Mai 2008