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MELDUNG/029: "Jede Bildung muss ästhetische Bildung sein." (Bund der Freien Waldorfschulen)


Bund der Freien Waldorfschulen - 15. Dezember 2011

05. Kasseler Jugendsymposion: "Jede Bildung muss ästhetische Bildung sein."


Kassel, 12.12.2011. Vier Tage lang widmeten sich 250 Jugendliche und junge Erwachsene von Waldorfschulen aus ganz Deutschland gemeinsam mit namhaften Rednern und Dozenten verschiedenster Disziplinen dem Thema "Ästhetik". Dabei wurde deutlich, dass das Wesen der Ästhetik stark changiert, je nachdem, welche Perspektive man einnimmt. Ästhetik "passiert" irgendwo im Wechselspiel zwischen den Objekten selbst, dem wahrnehmenden Subjekt und dem Wahrnehmungsvorgang.

"Ästhetisches Erleben heißt: Mit Erlebnissen etwas ahnen", so der Hamburger Komponist Benedikt Burghardt in seinem Vortrag zur Musikästhetik. Für die Teilnehmer/innen des 5. Kasseler Jugendsymposions dürfte sich dieser Satz als wahr erwiesen haben und durch die vielfältigen Erlebnisse eine Ahnung dessen entstanden sein, was die Kategorie "Ästhetik" ausmacht.

Schon die Eröffnungsveranstaltung im Staatstheater Kassel war ein (ästhetisches) Erlebnis der besonderen Art für die 250 Jugendlichen. Nach der Begrüßung durch Veranstalter Prof. Dr. Wilfried Sommer, einem Vortrag zur Inszenierungsästhetik von Operndirektorin Dr. Ursula Benzing und einem stilvollen Empfang im Opernfoyer erlebten die Jugendlichen die Generalprobe der Mozart-Oper "Die Zauberflöte". Die Kasseler Inszenierung bot im weiteren Verlauf des Symposions jede Menge Gesprächsstoff.

In den Plenarvorträgen konnten verschiedene Schlaglichter auf das Phänomen "Ästhetik" geworfen werden. Der Hamburger Komponist Benedikt Burghardt brachte die Schüler/innen und Studierenden in Kontakt mit ihrer eigenen ästhetischen Erlebnisfähigkeit, indem er zunächst ein intensives Fremdheitserlebnis mit einem persönlich präsentierten Klavierstück Arnold Schönbergs erzeugte, das sich im Verlauf des Vortrags über genaues Hören sowie Singen einzelner Klänge mit der aufmerksamen Hörerschaft mehr und mehr auflöste und in ästhetisches Erleben mündete.

Prof. Dr. Ernst-Dieter Lantermann von der Universität Kassel lieferte am Nachmittag in seinem Vortrag die psychologische Erklärung: Ist der Grad der Fremdheit eines betrachteten Objekts zu hoch, entsteht keine Neugier, die aber Voraussetzung ist für einen spezifischen Spannungszustand, der dem ästhetischen Erleben vorausgeht, erläuterte der Persönlichkeits- und Sozialpsychologe.

Der Jenaer Wahrnehmungsphilosoph Prof. Dr. Lambert Wiesing konfrontierte mit seiner These vom MICH der Wahrnehmung, der zufolge unser Verhältnis zwischen Subjekt und dieser Welt kein interpretatives, sondern ein partizipatives ist. "Wenn Sie wahrnehmen sollen, müssen Sie selbst dabei sein: Wahrnehmung führt zur Partizipation. Nur gegenüber Bildern können wir wirklich Zuschauer sein und in eine 'Partizipationspause' eintreten", so der Experte für vergleichende Bildtheorie.

Der Architekturprofessor Pieter van der Ree führte dem Plenum in einer Reise durch die Geschichte der Architektur vor Augen, dass Architektur als "Bedeutungsträger", als ein Phänomen, das "bis in die Körperlichkeit" wirkt, gewissermaßen den Hintergrund ästhetischen Erlebens bildet. Van der Ree forderte, Architektur solle auch eine geistige Ebene haben, nicht nur eine ökologische.

Prof. Dr. Jost Schieren von der Alanus Hochschule Alfter beleuchtete eine philosophische Dimension von Ästhetik: Er machte auf die Problematik aufmerksam, dass wir gegenwärtig in einem Dualismus zwischen Mensch und Welt gefangen seien. Ein von den Dingen getrenntes Bewusstsein führe dazu, dass wir uns die Welt, die Natur so zu Nutze machen, dass wir unsere zivilisatorischen Bedürfnisse befriedigen. Schieren plädierte für "die Wiedererschließung eines schöpferischen Bewusstseins."

Das thematisch breit gefächerte Kursprogramm ermöglichte es den Jugendlichen, individuelle Schwerpunkte für eine vertiefende Auseinandersetzung mit Fragen der Ästhetik zu wählen. Über die "Schönheit und Ästhetik in der Mathematik" war da zu lernen, über "Farbe und Schönheit aus naturwissenschaftlicher und philosophischer Sicht". "Friedrich Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen" konnten behandelt werden, ebenso wie "Schönheitsideale im Wandel der Zeit". Im Seminar "Von Konsonanz und Dissonanz" konnten musikästhetische Aspekte am Beispiel von Chorliteratur betrachtet werden und anderes mehr.

Am "Abend im Zeichen der dOCUMENTA (13)" wurde der Fokus der Teilnehmer/innen bereits in die Zukunft gelenkt: Im Rahmen des 6. Kasseler Jugendsymposion, das unter dem Thema "Kulturen" steht, werden die Jugendlichen die weltbekannte Kunstausstellung besuchen. Ein Mitarbeiter des documenta-Archivs (Dr. Friedhelm Schart), eine Kunstprofessorin (Prof. Dr. Susanne Schröer-Trambowsky) sowie der renommierte und in Kassel für seine documenta-Arbeit bekannte und viel geschätzte Autor Dirk Schwarze versorgten mit allen erforderlichen Informationen zur dOCUMENTA (13).

Mit einer Aufgabe für das 6. Jugendsymposion und einem Ausblick auf die hundert Tage dauernde Kunstausstellung durch Friederike Siebert von der Abteilung Maybe Education and Public Programs der dOCUMENTA (13) wurden die frisch gebackenen Ästhetik-Experten nach einer intensiven Reflexion des Erlebten von den Veranstaltern Stephan Sigler, Wilfried Sommer und Michael Zech aus der Tagung entlassen.


Über die Kasseler Jugendsymposien
Zweimal im Jahr wird Kassel zum kulturellen Begegnungspunkt, wenn Jugendliche aus ganz Deutschland auf den vom Bund der Freien Waldorfschulen unterstützten Jugendsymposien intensiv an aktuellen Zeitfragen arbeiten. So erhalten die Schüler/innen und Studierenden die Möglichkeit, mit wegweisenden Vertretern aus Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Kultur ihre Visionen zu teilen und lebhaft zu diskutieren. Bei den Teilnehmer/innen sollen durch dieses Forum der Wunsch und das Bedürfnis geweckt werden, sich aktiv an zivilgesellschaftlichen und akademischen Diskursen zu beteiligen und die Verantwortung für die eigenen Bildungs- und Lernprozesse zu übernehmen.


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Quelle:
Pressemitteilung vom 12. Dezember 2011
Pressesprecherin
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Bund der Freien Waldorfschulen
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Tel.: +49 (0)711-21042-40, Fax: +49 (0)711-21042-19
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Internet: www.waldorfschule.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Dezember 2011