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ETHNOLOGIE/002: Zur Aktualität von Claude Lévi-Strauss (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2008

KULTUR UND KRITIK
Traurige Tropen
Zur Aktualität von Claude Lévi-Strauss

Von Ulrich Baron


Vor hundert Jahren, am 28. November 1908, wurde er in Brüssel geboren: Claude Lévi-Strauss, der Ethnologe und Anthropologe, der als Begründer des Strukturalismus gilt. Er studierte an der Pariser Sorbonne, wurde 1935 als Professor nach Sao Paulo berufen und unternahm zwischen 1935 und 1939 mehrere Forschungsreisen im Amazonasgebiet. Eines seiner Hauptwerke, Traurige Tropen, ist soeben bei Suhrkamp wieder erschienen.


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"What are the roofs that clutch, what branches grow / Out of this stony rubbish? Son of man, / You cannot say or guess, for you know only/A heap of broken images, where the sun beats", schrieb T. S. Eliot 1922 in seinem großen Gedicht The Waste Land. Fast zwei Jahrzehnte später entwarf Walter Benjamin sein Bild vom Engel der Geschichte, den ein Sturm aus dem Paradies fortweht, während er hilflos auf die Trümmer zurückschaut, die jene Macht hinterlässt, die wir Fortschritt nennen.

Eliots "Gehäuf zerbrochner Bilder unter Sonnenbrand" und Benjamins Furie Fortschritt lässt sich die Feststellung des vor 100 Jahren geborenen Claude Lévi-Strauss an die Seite stellen, nach der die Tropen traurig sind. Stärker als sein theoretisches Hauptwerk Les structures élémentaires de la parenté (1949, "Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft") und das Opus maximum Mythologiques (1964-1971, "Mythologica"), stärker auch als sein begriffsbildendes Werk La pensée sauvage (1962, "Das wilde Denken") haben seine Tristes Tropiques von 1955 den Namen Lévi-Strauss weit über den Bereich des Strukturalismus und der von ihm maßgeblich geprägten strukturalen Ethnologie hinaus bekannt gemacht. Dabei wirkt schon sein Einleitungssatz wie eine Antizipation jener Kritik, die von stärker empirisch orientierten Forschern gegen seine theoretischen Werke ins Feld geführt werden sollte: "Ich verabscheue Reisen und Forschungsreisende".

Trotzdem werde er über seine Expeditionen berichten, fährt er fort, um sich dann über die Meilenschinderei gewisser Forschungsreisender zu mokieren, deren "Plattitüden und Banalitäten" allein "durch eine Strecke von zwanzigtausend Kilometern geadelt" würden. Mit Hohn äußert er sich auch über die bis heute anhaltende Manie, angeblich noch unentdeckte "Wilde" an Orten zu entdecken, "wo es seit zwanzig Jahren eine Missionsstation gibt, die dauerhafte Beziehungen zu den Eingeborenen unterhält".

Er selbst war 1935 nicht als Pionier in die Tropen gekommen, sondern als Mitglied einer Gruppe junger Professoren, die gerade erst ihre Arbeit an Frankreichs Provinzgymnasien aufgenommen hatten, als ihr Lehrer Georges Dumas sie zur Gründung der Universität von Sao Paolo nach Brasilien berief. Zuvor hatte Lévi-Strauss an der Sorbonne Rechtswissenschaften und Philosophie studiert. Bald pendelte er über den Atlantik zwischen Brasilien und Frankreich, dort an der Heranbildung einer neuen Elite mitwirkend, hier die Freunde vom Pariser Musée de l'Homme bei ihrem Bemühen unterstützend, die Ethnologie aus ihrem Schattendasein in einem "dunklen, eiskalten und baufälligen kleinen Hörsaal" herauszuführen.

Für diesen Wanderer zwischen den Welten und Kulturen lag die Suche nach den Strukturen und den Möglichkeiten ihrer Erfassung nahe. Seinem Gegenstand näherte sich Lévi-Strauss in fast poetisch anmutender Weise, die an die Denkbilder Benjamins erinnert: "Brasilien war in meiner Vorstellung eine Garbe gebogener Palmzweige, hinter denen sich bizarre Architekturen verbargen, das Ganze in einen Geruch von Räucherpfannen gehüllt, ein Detail, das sich, so schien es, durch den unbewusst wahrgenommenen Gleichklang der Wörter 'Brésil' (Brasilien) und 'grésiller' (knistern) einschlich, die aber mehr als jede andere seither gewonnene Erfahrung erklärt, warum ich noch heute bei dem Wort Brasilien zuerst an Brandgeruch denke."

Diese synästhetische "symbolische Lektion" habe ihn gelehrt, "dass sich die Wahrheit einer Situation nicht durch ihre tägliche Beobachtung ergründen lässt", und dass eine Forschungsreise weniger einer Wegstrecke als einer Ausgrabung ähnele: "eine flüchtige Szene, ein Stück Landschaft, eine aufgeschnappte Redewendung ermöglichen es als einzige, sonst unergiebige Horizonte zu verstehen und zu deuten".

Solch intuitiver Erforschung Brasiliens stand freilich entgegen, dass es dort Mitte der 30er Jahre nicht einmal flüchtige Ur-Szenen mehr aufzuschnappen gab - zumindest offiziell und was die Indianer betraf: "Ach, verehrter Herr, das sind Lichter, die alle erloschen sind. Ja, ein trauriges, sehr beschämendes Kapitel in der Geschichte meines Landes", habe ihm der brasilianische Botschafter in Paris seinerzeit gesagt. Schon die portugiesischen Siedler des 16. Jahrhunderts - "geldgierige und brutale Menschen" - hätten sie ausgerottet. Doch damit habe der Diplomat nur von dem "beliebtesten Zeitvertreib" seiner Eltern und noch seiner eigenen Jugend ablenken wollen: "diese pflegten nämlich in den Krankenhäusern die verseuchten Kleidungsstücke der Pockenopfer zu sammeln und sie, zusammen mit anderen Geschenken, entlang der Pfade aufzuhängen, die noch von einigen Stämmen benutzt wurden".

Lévi-Strauss schrieb dies fast anderthalb Jahrzehnte, nachdem er selbst dem Holocaust auf einem überfüllten Flüchtlingsschiff entkommen war. Seine Untersuchungen bei den überlebenden Indianerstämmen Amazoniens, seine Suche nach den universellen Strukturen menschlichen Denkens im "Regenbogen der menschlichen Kulturen" erschöpfen sich nicht in Deskriptivität. Vielmehr sieht er zwischen den Trümmern und Opfern der Geschichte auch etwas Messianisches, einen menschlichen Impetus, der sich auf etwas richtet, das verloren oder außer Reichweite ist.

Man müsse die komplexen Tätowierungen der brasilianischen Caduveo-Frauen als die "Phantasien einer Gesellschaft deuten und erklären, die mit ungestillter Leidenschaft nach Mitteln sucht, die Institutionen symbolisch darzustellen, die sie hätte haben können, wenn ihre Interessen und ihr Aberglaube sie nicht daran gehindert hätten".

Was für eine "bewundernswerte Kultur, deren Traum die Königinnen mit ihrer Schminke einfangen" schwärmt der Forscher-Poet, "Hieroglyphen, die ein unerreichbares Goldenes Zeitalter beschreiben". Goldene Zeitalter liegen immer in der Vergangenheit. Alte Berichte sprechen von Städten am Amazonas, wo Lévi-Strauss nur Dschungel und Dschungelbewohner gefunden hatte: "Musste man in ihnen nicht die ersten Bewohner Brasiliens sehen, die entweder tief im Busch vergessen oder, kurz vor der Entdeckung des Kontinents, von kriegerischen Völkern, die sich von irgendwo aufgemacht hatten, die Küste und Flusstäler zu erobern, in diese ärmsten Gegenden zurückgedrängt worden waren?"

Heute, da mit dem Dschungel auch noch die letzte Zuflucht der Urwaldbewohner verschwindet, geben die zurückweichenden Wälder dem Sonnenbrand und der Wissenschaft die Bruchstücke dessen preis, was jenem Goldenen Zeitalter einst vielleicht nahe gekommen war. Erst vor kurzem wurden am oberen Rio Xingu die Überreste präkolumbianischer Städte entdeckt, die von Gesellschaften zeugen, deren urbane Organisationsformen komplex uod zu einer nachhaltigen Bewirtschaftung des kargen Bodens fähig gewesen waren. Welche Sünden mögen deren Bewohner, die Menschen waren wie wir, begangen haben, um eines Tages in der Grünen Hölle des Regenwaldes zu enden? So haben die Traurigen Tropen von Claude Lévi-Strauss bis heute nichts an Aktualität verloren.


Claude Lévi-Strauss: Traurige Tropen. (Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Mit zahlreichen Abbildungen und 40 Gouachen von Mimmo Paladino). Suhrkamp, Frankfurt/M. 2008, 541 S., 38,00 Euro.


Ulrich Baron (* 1959) ist Literaturwissenschaftler und arbeitet als Kritiker und freier Publizist in Hamburg.
ulrich.baron@t-online.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 11/2008, S. 66-68
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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Dezember 2008