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BERICHT/067: Leuphana-Studenten fordern radikalen Umbau des Gesundheitswesens (idw)


Leuphana Universität Lüneburg - 14.10.2011

Leuphana-Studenten fordern radikalen Umbau des Gesundheitswesens

1.800 Erstsemester der Leuphana Universität Lüneburg: Gesetzliche Grundversicherung für alle - Studierende entwickeln mit 100 Experten neues Versorgungsmodell - Vorschläge kommen nach Brüssel


LÜNEBURG. Erstmals haben junge Studierende einer deutschen Universität massiv eine schnelle und grundlegende Erneuerung des Gesundheitswesens in Deutschland gefordert. Rund 1.800 Erstsemester der Leuphana Universität Lüneburg wandten sich gegen die weitere Verschleppung dringend benötigter Reformen durch unüberbrückbare Interessenpolitik. Zuvor hatten die jungen Studierenden im Rahmen der Leuphana Startwoche, dem traditionellen Auftakt des Wintersemesters in Lüneburg, fünf Tage lang mögliche Grundzüge einer umfassenden Gesundheitsreform entwickelt und mit rund 100 Experten aus Gesundheit, Politik, Selbstverwaltung, Wissenschaft und Krankenversicherungen diskutiert. Die Vorschläge wurden heute von einer prominenten Jury prämiert. Am besten schnitt dabei die Gruppe "Deutschland Versicherung" ab. Sie entwickelte das Modell einer gesetzlichen Grundversorgung für alle mit der Abschaffung privater Krankenkassen als Volldienstleister. Auch die Studierenden selbst sprachen sich bei einer Publikumsentscheidung mit großer Mehrheit für diesen Vorschlag aus. Rund 120 Gruppen mit jeweils bis zu 15 Mitgliedern, hatten sich an der Entwicklung eines neuen, finanzierbaren und gerechten Gesundheitssystems beteiligt. Der Vorsitzende der Jury, Hauptgeschäftsführer der Deutschen Arbeitgeberverbände Peter Clever, würdigte die Vorschläge als "enorm gute Arbeit" und bescheinigte den jungen Erstsemestern ein hohes Maß an "Professionalität." Die Ergebnisse der Startwoche haben die Erwartungen mehr als übertroffen, lautete das einhellige Urteil der Jury.

Allen Reformvorschlägen liegt eine übereinstimmende Auslegung auf eine solidarische Grundversorgung, Transparenz bei Leistungserbringung und Abrechnung, Qualitätssicherung und Nutzung neuer Medien zugrunde, etwa die Einführung einer elektronischen Gesundheitskarte oder die verstärkte Nutzung des Internets bei der Betreuung erkrankter Menschen. Kernpunkt des von der Jury prämierten Vorschlags ist eine solidarische Grundsicherung für alle in Deutschland lebenden Menschen. Zusatzleistungen können sowohl bei den gesetzlichen Krankenkassen als auch bei privaten Anbietern abgeschlossen werden. Der Leistungsumfang bleibt im Vergleich zu heute in weiten Teilen erhalten. Finanziert wird das System von den Versicherten, den Arbeitgebern und durch öffentliche Zuschüsse. Arbeitnehmer und Arbeitgeber teilen sich dabei die Beiträge zu gleichen Teilen. Sie sind an das Bruttoeinkommen gekoppelt.

Das prämierte Modell wird von innovativen Ansätzen der Gesundheitssysteme in Schweden und der Schweiz inspiriert. So sprechen sich die Studierenden für die Einführung von Gesundheitszentren bei einem gleichzeitigen Ausbau der ambulanten Versorgung aus. Eine Spezialisierung und Vernetzung der Leistungserbringer verbessere die medizinische Versorgung der Patienten. Besonderen Wert legen die Studierenden auf Transparenz und Qualitätssicherung innerhalb des Systems. So werden nach ihrer Überzeugung öffentliche Rankings den Wettbewerb von Kliniken stärken, zu einem höheren Spezialisierungsgrad, einer besseren Ressourcennutzung und damit insgesamt zu mehr Qualität in der medizinischen Versorgung führen. Schließlich verlangen die Studierenden eine Entbürokratisierung des Verwaltungsapparats sowie neue Wege bei der Ausgabe von Medikamenten. Zusätzlich sprechen sie sich für die Einführung eines Präventionsfonds aus.

Die Jury zeigte sich angesichts der Komplexität des Themas überrascht von der Qualität der einzelnen Reformvorschläge. Die Diskussionen hätten "gute Ergebnisse" gebracht. Die Politik könne davon lernen, hieß es. Mit ihren Vorschlägen lieferten die Studierenden nicht nur wertvolle Anregungen für die kommenden Gesundheitsdebatten, sondern sie hätten vor allem ein eindeutiges Zeichen der Solidarität gesetzt, ohne dabei in eine ideologische Auseinandersetzung einzutreten. Zur Jury gehörten neben Peter Clever die frühere stellvertretende DGB-Vorsitzende Ursula Engelen-Kefer, Axel Heinemann, geschäftsführender Direktor der Boston Consulting Group, Jürgen Kluge, Vorstandsvorsitzender der Haniel-Holding, und Raimund Becker, Mitglied des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit.

Hintergrund des Planspiels war eine fiktive Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs mit weitreichenden Konsequenzen für die öffentlichen Krankenkassen. Die Bundesregierung forderte darauf hin die wichtigsten Akteure des deutschen Gesundheitswesens auf, ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem zu entwickeln. Die Studierenden schlüpften in Lüneburg in die Rollen führender Vertreter von gesetzlichen und privaten Kassen, der Unfall- und Rentenversicherung, der Ärzteschaft, von Krankenhausträgern, Pharmaindustrie sowie Spitzenverbänden der Gesundheitswirtschaft, um aus deren jeweiliger Sicht Eckpunkte einer tiefgreifenden Reform festzulegen.

Für Holm Keller, den hauptberuflichen Vizepräsidenten der Leuphana Universität Lüneburg und Organisator der Leuphana Startwoche, hat das hypothetische Szenario der Startwoche einen "sehr realistischen Bezug". Mit steigendem Lebensalter und den Fortschritten in der Medizin nimmt der Anteil der Menschen mit Mehrfacherkrankungen zu. Deren Behandlung verursacht besonders in der letzten Phase ihres Lebens hohe Kosten. Gleichzeitig nimmt die Zahl der jungen Menschen ab, die das Solidarsystem der Kassen finanzieren können. Außerdem sorgt die Veränderung des Arbeitsmarktes dafür, dass immer mehr Arbeitnehmer nur die niedrigsten Beiträge zahlen. Im Lüneburger Innovations-Inkubator, einem von der Europäischen Union geförderten Projekt der Leuphana und des Landes Niedersachsen, ist das Thema Gesundheit ein Schwerpunkt der Forschungsarbeit.

Das Siegerteam wird seine Vorschläge im Frühsommer des kommenden Jahres Abgeordneten des Europaparlaments in der niedersächsischen Landesvertretung in Brüssel präsentieren.

Ansätze für ein neues Gesundheitssystem hatten auch Wissenschaftler an der Leuphana im Rahmen der Startwoche erörtert. Bei den 1. Leuphana Gesundheitsgesprächen diskutierten sie mit Spitzenvertretern der Gesundheitsbranche aus Versicherungen, Krankenkassen und Kliniken die Herausforderungen einer Privatisierung des Gesundheitswesens. Dabei kamen auch sie zum dem Schluss, dass Privatisierung kein Allheilmittel für ein finanzierbares und qualitativ hochwertiges Gesundheitssystem sei.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution136


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Leuphana Universität Lüneburg, Henning Zuehlsdorff, 14.10.2011
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Oktober 2011