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BERICHT/045: Centrum für Nah- und Mittelost-Studien (Marburger Uni Journal)


Marburger Uni Journal Nr. 30 - Mai 2008

Nichts für Dünnbrettbohrer

Von Johannes Scholten


Das neugegründete "Centrum für Nah- und Mittelost-Studien" an der Philipps-Universität beschreitet neue Wege, um ein umfassendes Verständnis des Orients zu gewinnen: Es verbindet das Studium von Sprachen und Kulturen der bedeutenden Region mit moderner Wirtschafts- und Sozialforschung.


Licht und Schatten liegen nahe beieinander im Orient - auf der einen Seite eine reiche Geschichte, eine lebendige, eigenständige Kultur sowie die wirtschaftlich boomenden Staaten auf der arabischen Halbinsel; auf der anderen Seite gesellschaftliche Verhältnisse, die aus westlicher Sicht rückständig wirken mögen; vor allem aber tief wurzelnde, schwere Konflikte, die sich anschicken, auf benachbarte Regionen und sogar noch weiter auszugreifen. Kein Zweifel, die Welt ist im Wandel, und der Nahe und Mittlere Osten ist eine der Kernregionen der Veränderungen, die sich derzeit vollziehen.

Die vielfältigen Muster, die sich in dieser Entwicklung abzeichnen - kulturhistorische, naturräumliche, ökonomische - scheinen wie bei einem wertvollen Teppich aufs Engste miteinander verwoben. Wie kann man den zahlreichen Faktoren gerecht werden, die in das Geschehen hineinspielen? Wie lässt sich ein angemessenes Bild der zunehmend bedeutenden Region gewinnen?

Ein Erfolg versprechender Versuch, den Orient in seiner ganzen Vielfalt wissenschaftlich zu erfassen, wird seit kurzem an der Philipps-Universität unternommen: Im Centrum für Nah- und Mittelost-Studien, kurz CNMS, wirken Angehörige verschiedener Fachbereiche zusammen, um die partikulären Sichtweisen der einzelnen Disziplinen zu überwinden und zu einer globalen Schau ihres gemeinsamen Gegenstandes zu gelangen.

Hierzu sind eine Vielzahl an Kompetenzen nötig, um die wissenschaftlichen Aufgaben ebenso erfüllen zu können, wie darüber hinaus gehende Beratungsfunktionen. Natürlich gibt es eine lange Tradition der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Orient, gerade in Marburg, wo bereits vor hundert Jahren ein Orientalisches Seminar gegründet wurde. Aber reichen angesichts der modernen Entwicklungen die klassischen, kulturwissenschaftlichen Fächer noch aus, um der Dynamik des Nahen und Mittleren Ostens gerecht zu werden? Das CNMS gibt auf diese Frage eine differenzierte Antwort: Selbstverständlich verlangt ein vollständiges Bild der folgenreichen Prozesse, die sich in der Region abspielen, dass man die dort herrschenden Verhältnisse soziologisch und ökonomisch untersucht, und zwar auf dem neuesten Stand der Wissenschaft. Aber ohne historisches Verständnis der gewachsenen Strukturen in der Region wäre eine solche Analyse lückenhaft. Es braucht beides - sowohl die klassischen orientwissenschaftlichen Fächer als auch Wirtschafts- und Sozialforschung. "Für Dünnbrettbohrer eignet sich das Institut bestimmt nicht", rühmt der Nahostexperte Udo Steinbach das integrale Konzept; der ehemalige Direktor des Deutschen Orient-Instituts in Hamburg versieht am CNMS eine Gastprofessur für Politik.

Es gibt noch einen weiteren, sehr handfesten Grund dafür, die Kräfte der Orientwissenschaft in dem neuen Centrum zu bündeln. In den Regionalwissenschaften war wiederholt festgestellt worden, dass die vorhandene Ausstattung nicht der zunehmenden Bedeutung entspricht, die diesen Disziplinen angesichts der Globalisierung zukommt - in der Regel waren diese Fächer mit Ein-Personen-Professuren vertreten, zumeist bildeten sie nur wenige Studierende aus. Dem Hessischen Wissenschaftsminister Udo Corts zufolge ging es bei Gründung des Centrums somit um nicht weniger als die Frage, wie die Zukunft der in ihrer Existenz bedrohten kleineren geisteswissenschaftlichen Fächer in Zeiten knappen Geldes garantiert werden könne. Das CNMS verfügt über acht Professuren; sobald die Einrichtung voll ausgebaut ist, werden hier mehr als 20 Wissenschaftler arbeiten. Das Land Hessen lässt sich das Centrum bis 2010 jährlich 1,2 Millionen Euro kosten. "Durch die Zentrumsbildung werden die regionsbezogenen kleinen geisteswissenschaftlichen Fächer nicht nur mit einer Minimalausstattung erhalten", betont Volker Nienhaus, der Präsident der Philipps-Universität; diesen werde vielmehr "die für eine national wettbewerbsfähige und international wahrgenommene Forschung und Ausbildung erforderliche Mindestgröße gegeben."

Im Gegensatz zu anderen Orientzentren in Deutschland verbindet das CNMS Sprach- und Kulturkompetenz mit gegenwartsbezogenen sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Kenntnissen. Deswegen vermittelt das Centrum breites Grundlagenwissen unabdingbare Voraussetzung, um die Komplexität kultureller und religiöser Zusammenhänge sowie der gesellschaftspolitischen Konflikte zu verstehen, die im Nahen und Mittleren Osten meist eine lange Vorgeschichte haben. Die Basis besteht aus einer Reihe von kulturhistorisch, literatur- und sprachwissenschaftlich orientierten Disziplinen: Altorientalistik, Semitistik; Ägyptologie sowie Vorderasiatische Altertumskunde. Diese Fachgebiete gewährleisten eine fundierte Ausbildung, indem sie des kulturelle Erbe des Vorderen Orients abbilden, um somit der historischen Tiefendimension des Gegenstandes gerecht zu werden.

Anders als die konventionellen Angebote der meisten deutschen Universitäten versucht das CNMS, über die klassischen, kulturwissenschaftlichen Fächer hinaus eine zeitgemäße Ausrichtung der Orientstudien zu sichern. Deshalb treten gesellschaftswissenschaftliche Disziplinen hinzu, die den gegenwartsbezogenen Aspekt akzentuieren. Dazu zählt die Islamwissenschaft, die von der Universität Gießen nach Marburg verlagert wurde. Aus Frankfurt übernimmt das Centrum die Arabistik, die gerade neu besetzt worden ist. Eine Professur für Iranistik ist neu eingerichtet worden. Ferner gehören in diesen Zusammenhang die Professuren für Wirtschaft sowie für Politik des Nahen und Mittleren Ostens, die derzeit beide zur Neubesetzung anstehen. Die Marburger Orientwissenschaft verfolgt einen interdisziplinären Ansatz, der den Studierenden die volle Bandbreite orientalistischer Fächer bietet. Durch die genannten Konstellationen werden Bachelor-Studiengänge mit einer Vielzahl von Schwerpunkten ermöglicht, die einzigartig in der deutschen Hochschullandschaft sind.

Man sieht: Schon die Konzeption des CNMS ist gekennzeichnet durch das Zusammenspiel akademischer Partner, die unterschiedliche Kompetenzen einbringen. Dieses Prinzip der Vernetzung reicht indes über das eigentliche Centrum hinaus. Es versteht sich nicht als isolierte Einrichtung, sondern setzt in vielerlei Hinsicht auf Kooperation, um so die fachwissenschaftliche Basis zu verbreitern. Die Vernetzung wird nach drei Richtungen betrieben: Erstens durch Zusammenarbeit mit verwandten Fächern; zweitens mittels internationaler Kooperationen; und drittens, indem man den Austausch mit Wirtschaft und Gesellschaft vorantreibt. "Auf diese Weise ist sowohl die Gefahr einer unzeitgemäßen Forschung im Elfenbeinturm weitgehend gebannt als auch die Exotisierung der Orientwissenschaft", erklärt der Altorientalist Walter Sommerfeld, der Koordinator des CNMS. Ein wahrer Glücksfall ist etwa die sowohl inhaltliche als auch räumliche Nähe zur Indologie und Tibetologie in Marburg; dadurch stehen vor Ort Experten für den indischen Subkontinent zur Verfügung, die den Zusammenhang des Vorderen Orients mit Süd- und Zentralasien zur Geltung bringen können. Enge Beziehungen bieten sich auch zum Zentrum für Friedens- und Konfliktforschung an - eine naheliegende Verbindung, wenn man an die von Bürgerkriegen und Terrorakten heimgesuchte Region denkt. Im naturwissenschaftlichen Bereich schließlich bietet Marburg die seltene Gelegenheit, eine Verknüpfung mit der physischen Geographie herzustellen. So besteht an der Philipps-Universität ein etablierter Schwerpunkt der Geoarchäologie mit einem räumlichen Fokus auf dem Nahen Osten.

"Die Orientwissenschaft muss sich als Wissenschaft etablieren, die lebens- und gesellschaftsnah eine wichtige und nur von ihr zu leistende Funktion erfüllt, und als solche anerkannt werden", fordert Sommerfeld. Auf dem Weg zu diesem Ziel kann auf bestehende Kooperationen mit arabischen Hochschulen verwiesen werden: Bereits im Jahr 2005 hat die Philipps-Universität mit der Universität Bagdad als der größten und bedeutendsten Hochschule des Irak ein Kooperationsabkommen geschlossen, das Marburg die Position eines privilegierten Partners einräumt. 2007 folgte eine vergleichbare Vereinbarung mit der größten syrischen Hochschule, der Universität Damaskus. Ein wichtiges Anliegen ist dabei der Austausch von Wissenschaftlern mit den Partnerinstitutionen, und zwar in beide Richtungen.

Die dritte Dimension der Vernetzung betrifft den Austausch mit dem gesellschaftlichen Umfeld, mit Politik und Unternehmen. Davon profitiert in allererster Linie der akademische Nachwuchs. Mehr als bislang üblich erhalten Studierende am CNMS eine Vorstellung davon, wo und wie sie die erworbenen Kenntnisse in Zukunft anwenden können. Die angebotenen Bachelor-Studiengänge sind berufs- und praxisorientiert angelegt. Um diesen Anspruch einzulösen, ist eine enge Verzahnung mit der Privatwirtschaft angestrebt, wie man sie von den Naturwissenschaften kennt: Auch orientwissenschaftliche Absolventen sollen einen Zugang zu Unternehmen erhalten - zunächst, indem man auslotet, welchen Bedarf deutsche und europäische Firmen überhaupt an Wissenschaftlern dieser Ausrichtung haben. Soweit möglich, wird die Ausbildung die Erwartungen widerspiegeln, die potentielle Arbeitgeber an die Orientalistik haben.

Neben den allgemeinen Grundlagen des Faches vermittelt das Studium daher auch Einblicke in das Arbeitsleben; hierzu richtet das Centrum in enger Zusammenarbeit mit Wirtschaft und Institutionen ein Praxismodul ein, wie es in Deutschland bislang noch nirgends angeboten wird. In diesem Modul geht es zum Beispiel darum, berufliche Profile vorzustellen, aber auch organisatorische Hilfen anzubieten, etwa bei Praktika oder Auslandsaufenthalten. Indem der nächsten Generation von Orientalisten neue Möglichkeiten erschlossen werden, über die klassischen Arbeitsgebiete hinaus in ihrem Fach tätig zu sein, erhöht sich die Attraktivität des Studiengangs: Schon im vergangenen Wintersemester haben sich sechsmal so viele Studierende für das Fach eingeschrieben wie 2005/2006, als es erstmals angeboten wurde - eine für die Orientwissenschaft ungewöhnliche Steigerungsrate.

Die Ambitionen des CNMS, über den exklusiven Bezirk ihrer akademischen Heimstatt hinaus zu wirken, gehen indes noch weiter. "Das Centrum versteht sich als Vermittler zwischen Wissenschaft und Gesellschaft und steht für allgemeine Beratung offen", formuliert Sommerfeld diesen Anspruch. Um ihn zu erfüllen, organisieren die Verantwortlichen etwa Weiterbildungs- und Qualifizierungsprogramme für Lehrer, Journalisten und Juristen, aber auch für arabische Wissenschaftler. Vor allem aber engagieren sich die Wissenschaftler für Fachveranstaltungen und internationale Konferenzen. Schon kurz vor der offiziellen Eröffnung des CNMS fand ein hochkarätig besetztes Symposium zum islamischen Finanzwesen statt, sichtbarer Ausdruck der Zusammenarbeit mit dem Fachbereich Wirtschaftswissenschaften. Für die Marburger Ökonomen ist die Beschäftigung mit dem islamischen Raum nicht neu: Der Fachbereich nimmt aktiv an der Partnerschaft mit der Universität Damaskus teil, wo er sich künftig an einem internationalen Masteratudiengang beteiligt. "In dem Kurs bilden wir arabische Ökonomen in moderner Volkswirtschaftslehre unter besonderer Berücksichtigung der wirtschaftlichen Reformbedürfnisse in der Partnerregion aus", erläutert Fachbereichs-Dekan Bernd Hayo. Gleichzeitig qualifiziert das Programm deutsche Studierende als Wirtschaftsexperten für die Region.

Wenn es noch eines Belegs für den Rang der Orientwissenschaften an der Philipps-Universität bedurft hätte, so hat ihn die Deutsche Morgenländische Gesellschaft mit ihrer Entscheidung geliefert, den 31. Deutschen Orientalistentag im Jahr 2010 in Marburg abzuhalten. Es handelt sich um den größten regelmäßig stattfindenden Kongress der deutschsprachigen Asien- und Afrikawissenschaft, der weit ins internationale Umfeld ausstrahlt - ein wissenschaftliches Großereignis, das viele hundert Teilnehmer aus dem In- und Ausland nach Marburg führen wird.


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Quelle:
Marburger UniJournal Nr. 30, Mai 2008, Seite 45-47
Herausgeber: Der Präsident der Philipps-Universität Marburg
gemeinsam mit dem Vorstand des Marburger Universitätsbunds
Redaktion: Pressestelle der Philipps-Universität Marburg
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juli 2008