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REZENSION/016: Karsten Müller, Jerzy Konikowski - Die besten Kombinationen der Weltmeister (SB)


Karsten Müller, Jerzy Konikowski


Die besten Kombinationen der Weltmeister

Band 1 Von Steinitz bis Tal

Band 2 Von Petrosjan bis Carlsen


Der erste Eindruck ist irritierend. Hatte ich dieses Buch nicht früher schon einmal in Händen gehalten? Das Cover mit den Köpfen der Weltmeister von Steinitz bis Tal (Band 1) bzw. von Petrosjan bis Carlsen (Band 2) weckt eine vertraute Erinnerung, nur die Farbe des Umschlags und der Titel passen nicht zu meiner Reminiszenz.

Und tatsächlich: Karsten Müllers neues Buchprojekt, diesmal in Kooperation mit Jerzy Konikowski, behandelt nicht die Endspielkunst - ein entsprechender Doppelband erschien unter der alleinigen Autorenschaft Müllers im Joachim Beyer Verlag im Jahr 2021 -, sondern die besten Kombinationen der Weltmeister. Im Vorwort von Michail Marin findet sich ein schöner Kommentar zum Buch. Es wäre schade, lässt der renommierte rumänische Großmeister wissen, "wenn der reiche Schatz, den uns die ehemaligen Weltmeister hinterlassen haben, in Vergessenheit geriete" (S. 7).

Aber sind, so könnte man einwenden, die Partien der Weltmeister nicht längst bis aufs Gerippe ausanalysiert, so dass sie bei allem Respekt mittlerweile kaum mehr darstellen als museale Fragmente? Gewiss, über die Zeiten haben sich ganze Legionen von Theoretikern mit den Strategemen und taktischen Verwicklungen in den WM-Partien auseinandergesetzt und sie auf ihre Stichhaltigkeit hin abgeklopft, aber bis in die Gegenwart hinein entdecken findige Köpfe bisher unerschlossene Nuancen als auch knifflige Korrekturvarianten. Diese Quelle versiegt nie. Doch darum geht es in dem neuen Doppelband nicht, auch wenn die Referenz der Weltmeister und die Geschichte ihrer Kämpfe unzweifelhaft von unvergesslichem Wert sind.

Es geht um spezifische Kombinationen der Weltmeister und darum, dass Taktikaufgaben, sei es zur Erbauung, für den eigenen Fortschritt oder zur lernhaften Durchdringung dieses schwierigen Terrains, nach wie vor "zu den effektivsten Trainingsmethoden" (S. 7) gehören. Was eignet sich dazu besser, als den Partien der gekrönten Häupter zu folgen? Auf den didaktischen Übertrag kommt es freilich und schlussendlich an. Nur in die Welt ihrer Gedanken einzutauchen, wäre kaum mehr als ein Zeitenflimmern, hätte bestenfalls nostalgischen Flair.

Was diese zweiteilige Reihe über ein übliches Taktikbuch hinaus so empfehlenswert macht, ist sein innerer Aufbau und dass der Novize beflissentlich an die Grauzone seiner taktischen Reichweite herangeführt wird. Talent, das nie gefordert wird, verkümmert, verblasst zu einem morgendlichen Schatten, aber es bricht unverhofft entzwei durch die Konfrontation mit überspannten Herausforderungen. Auf die Balance zwischen Unter- und Überforderung kommt es an. Den kritischen Moment in einer Partie zu erkennen, macht den Sinn von Taktikaufgaben aus. Taktik ist das Nadelöhr, durch das der Lernende hindurch muss, um höhere Weihen zu erreichen. Doch geht es niemals ums reine Auswendiglernen; jeder, der auf der Schulbank gesessen hat, weiß dies. Lernen fängt mit dem Anflug einer Ahnung an, die sich allmählich wie in einem Reifeprozess zu einem tieferen Gespür verdichtet und sich schließlich mit Blick auf das Ganze zu einer vollumfänglichen Intuition entwickelt. Um es vorwegzunehmen: Diese Schritte werden in den "Kombinationen der Weltmeister" entlang einer didaktischen Struktur treffsicher nachvollzogen.

Jeder Weltmeister wird mit einer kurzen Biographie und seinen individuellen Leistungen innerhalb der Schachhistorie vorgestellt. Hinzu kommt, dass Müller und Konikowski die Weltmeister durch die Spielertypen Aktivspieler, Theoretiker, Reflektor und Pragmatiker charakterisieren, was ihrer Ansicht nach einen bestimmenden Einfluss auf das Brettgeschehen hat, auf jeden Fall jedoch einen erweiterten Blick auf ihr spielerisches Profil zulässt. Müller hat gemeinsam mit Luis Engel für den Joachim Beyer Verlag 2020 das Buch "Spielertypen" verfasst, und so fiel es ihm nicht schwer, das Wesentliche auf ein bündelndes Kürzel zu bringen, ohne dass der Informationswert dabei verlorengeht.

Im Anschluss daran folgt ein signifikantes Partiebeispiel aus der Praxis des Weltmeisters, inklusive einer richtungsweisenden Kommentierung. Bis hierher ist alles altvertraut, doch dann kommt auch schon der Sprung ins kalte Wasser. Im nächsten Kapitel werden eine Anzahl von Kombinationen abgefragt, die nur mit einem einzigen Hinweis gefüttert sind: Weiß gewinnt/Schwarz gewinnt. Mehr erfährt der Leser nicht. Es gilt, die Kombinationen selbst aufzuspüren. Dazu muss er vorweg die Struktur der Stellung auf die taktischen Potentiale hin durchdringen und mögliche Ideen zur Lösung entwickeln. Die Aufgaben weisen verschiedene Schwierigkeitsgrade auf. Jeder wird früher oder später an seine Grenzen stoßen. Und um nichts anderes geht es. Alles Vorherige diente der Motivation.

An der eigentlichen Arbeit und Analyse kommt niemand vorbei. Die Mühe wird einem unterdessen leicht gemacht, man weiß, dass einige Seiten weiter die Lösungswege verzeichnet sind, aber das berührt nicht das Kernmoment der Auseinandersetzung. Tatsächlich verschwindet das penetrante Streben nach der Lösung bald schon vollständig aus dem Bewußtsein, wird zu einer Nebensächlichkeit, bestenfalls zu einem entfernten Ansporn. Viel wichtiger ist das Ringen mit den eigenen Vorstellungen. Wie verbinde ich die Richtung meines Angriffs, welche Hürden stehen meinem Ziel im Wege? Der Leser muss ständig verwerfen und neu konzipieren, und wo er sich in eine Sackgasse verrennt, muss er wieder an den Anfang der Aufgabe zurück. Dabei ist es völlig unerheblich, ob er am Ende die ganze Lösung findet oder nur Etappen des Weges. Sich konsequent mit einer bestimmten Problematik zu befassen, durch Untiefen und seichte Gestade hinweg, trägt den Nutzen in sich und wiegt den klassischen Erfolg mehr als auf. Denn er begreift: Die Lösung ist nur ein Teilaspekt, man lernt in der Analyse viel mehr. Forschen und dauerhaftes Hinterfragen entzünden den Funken des Prometheus.

Und das nächste Kapitel vertieft und erweitert dieses essentielle Lernen, indem das Autorengespann mit einer Reihe von Spezialaufgaben aufwartet, die auf den jeweiligen Weltmeister zugeschnitten und mit präzisen Fragestellungen versehen sind. Die Analyse bekommt eine deutlichere Richtung, unsinnige Zugfolgen werden von vornherein ausgeschlossen, vor dem Auge entsteht ein Bild. Tausend Gedanken vermitteln etwas über das Wesen der Analyse.

Alle Taktikaufgaben sind mittels QR-Code auf ein Smartphone oder Tablet übertragbar. Ältere Semester werden die Stellung wohl lieber auf dem Brett nachbauen. Jeder Weltmeister wird mittels der gleichen Struktur abgehandelt. So trifft der Leser auf ein weites Spektrum von Kombinationen und lernt taktische Wege zu gehen, die er in seiner Praxis vorher nicht gekannt hat.

Die Programmatik der Doppelbände leistet weit mehr als ein übliches Taktikbuch, wo das Motiv der Lösung stets in engen Grenzen verläuft und überhaupt der Lösungsweg im Zentrum einer kurzfristigen Belehrung steht. Müller und Konikowski haben dagegen die Analyse und das Abenteuer ganz bewusst an den Anfang gestellt. So wird der Leser ganz unmittelbar eingebunden in die Arbeit und hört auf, ein Beobachter und Zaungast zu sein. Klassische Vorgaben wie: Finde das Matt in vier Zügen! reduzieren das Lernen auf einen selektiven Auswahlprozess. Die Lösung steckt quasi schon in der Frage. Die didaktische Linie von Müller und Konikowski vermeidet gezielt das Abzählen der Züge. Weiß gewinnt/Schwarz gewinnt ist von genialer Einfachheit. Man analysiert zunächst und immer eine Stellung und diese beinhaltet auch strategische Schwächen und Stärken, die bei der Taktik von fundamentaler Bedeutung sind.

Dass die in den Bänden eingefasste Didaktik über die Partien der Weltmeister geht, hat noch einen weiteren Reiz und Nutzen. So begegnet man wie beiläufig der "petite combinaison" von Capablanca, stößt auf Euwes Geheimnis der dynamischen Transformation, findet taktische Lösungen für strategische Probleme, was Botwinnik vorbildhaft praktiziert hat, oder steht staunend vor der hohen Virtuosität in den Partien von Smyslow bzw. durchlebt das stille Vergnügen der tiefangelegten Qualitätsopfer Petrosjans und dergleichen mehr.

Ein blutjunger Novize wird vielleicht so seine Schwierigkeiten mit diesem Doppelband haben, ein erfahrener Spieler wird sie dagegen mit Begeisterung umschlingen. Der Zugang zu Taktik und Kombination war immer schon steinig und schwer zu vermitteln. Um so mehr ist es zu begrüßen, dass die Autoren einen didaktischen Pfad gefunden haben, die Notwendigkeit der Mühe mit der Lust an der Analyse zu verbinden.

27. Juni 2022

Karsten Müller, Jerzy Konikowski
Die besten Kombinationen der Weltmeister
Joachim Beyer Verlag 2022
Band 1 Von Steinitz bis Tal
192 Seiten, 29,80 EUR
ISBN 978-3-95920-158-2

Band 2 Von Petrosjan bis Carlsen
232 Seiten, 29,80 EUR
ISBN 978-3-95920-159-9


veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 175 vom 2. Juli 2022


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