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REZENSION/015: Thomas Luther - Schachtaktik und Schachstrategie (SB)


Thomas Luther


Schachtaktik und Schachstrategie

Fundamentales Schachwissen mit GM Thomas Luther



Strategie ist ein nobles Wort für eine ganze Reihe vielzügiger Manöver und Pläne, deren Zweck es ist, eine bestimmte vorteilhafte Stellung auf dem Brett anzustreben. Einen einmal ausgewiesenen Vorteil sodann sukzessive auszubauen und in einen gewinnbringend verdichteten Plan zu transferieren, setzt die Kenntnis taktischer Motive als auch eine zielorientierte Intuition voraus. So gesehen ist Strategie immer auch der Ausdruck eines Standes von entwickelter Meisterschaft, sozusagen die Visitenkarte eines Profispielers.

Ein solches Wissen hinlänglich oder gar in vollem Umfang erklärbar zu machen, würde zweifelsohne mehr Seiten verschlingen als eine Enzyklopädie über den Kulturwert eines philosophischen Denksystems. Vom Erfahrungswissen eines Großmeisters in einem überschaubaren Buchformat zu profitieren, verlangt daher neben der Bündelung der Inhalte vor allem eine Didaktik der kleinen Schritte. Diese sollten nachvollziehbar, lernimmanent und stets so angelegt sein, dass sich neu erlangtes Wissen nicht in einem Strudel von Wiederholungen verliert. Schnelle Aha-Effekte sind nett, aber nicht unbedingt entwicklungsrelevant.

Eben weil eine komplizierte Stellung auf dem Brett für einen Anfänger in den Rätseln einer Sphinx spricht, braucht es eine Methodik zur Dechiffrierung und, was nicht zu unterschätzen ist, eine lange Reifezeit des Stolperns über Erfahrungen, bis man in der Lage ist, den tatsächlichen Nährwert einer Position über die Spannbreite eines optionalen Kalküls hinaus treffgenau bestimmen zu können. Wer jedoch annimmt, Strategie wäre eine Art Schlüssel zur allgemeingültigen Anwendung für eine Reihe von markanten Stellungstypen, wird sich zuletzt nur selbst beschwindeln. Niemand öffnet die Tür zu den Geheimnissen des Schachspiels ohne harte Arbeit. Bücher über Strategie funktionieren nicht wie Kochrezepte oder das Verinnerlichen eines Katechismus.

Ein strategisches Lehrbuch kann dem Leser jedoch eine sinnvolle Anleitung zur Hand geben, um sich mit den vielfältigen komplexen Elementen des strategischen Spiels vertraut zu machen. Dass er dabei mit Fragestellungen konfrontiert wird, mit denen er sich im wahrsten Sinne des Wortes herumschlagen muss und die ihm mehr abfordern als das bloße Wälzen von Lehrsätzen und Fallbeispielen, liegt in der Natur eines echten Lernschritts begründet. Anders ist ein Fortschritt auf Dauer nicht zu generieren.

Der zweite Band zu "Fundamentales Schachwissen mit GM Thomas Luther" ist der "Schachtaktik und Schachstrategie" gewidmet. Darin erweitert der Autor nicht nur das Spektrum taktischer Motive aus dem ersten Band. Viel wichtiger ist ihm, dem Leser ein aufbaufähiges Basisverständnis von Strategie zu vermitteln, um komplizierte Brettsituationen künftig besser verstehen und analysieren zu können, und ihm gleichzeitig Anreize zu bieten für eine weiterführende Neugierde. Didaktiker müssen Führer durch die Finsternisse sein. So vermeidet es Luther mit Bedacht, eine kathederhafte Definition von Strategie zu liefern. Welchen Wert hätten etwa eine komprimierte Weltformel oder ein Blick ins Lexikon für jemanden, der sich in orientierungsloser Dunkelheit zurechtfinden muss? Beides wäre nicht hilfreich und trüge unnötigerweise zur Verwirrung bei.

Bestenfalls ließe sich sagen, dass Strategie einen tieferen Blick auf das Brettgeschehen ermöglicht. Man erkennt strukturelle Zusammenhänge zwischen Figuren- und Bauernformationen, was die Fähigkeit erhöht, das eigene planvolle Spiel mehrere Züge in die Zukunft zu verlagern. Strategie entspräche demnach für den Hausgebrauch eines Amateurs bzw. Hobbyspielers dem Studium einer Stellung, die in einer für ihn noch unverständlichen kryptischen Schrift geschrieben ist. Dieser Aufgabe, ein Rüstzeug für das Erlernen strategischer Zielsetzungen zu stiften, nimmt sich der Autor mit viel Feingefühl und Kenntnisschärfe an. Schließlich ist er diesen Weg selbst gegangen und weiß als Senior-Trainer der FIDE (International Chess Federation), welche Mittel auf der Ebene der Ausbildung geeignet sind, um das strategische Fachwissen auch für weniger geübte Spieler plausibel zu machen.

Wie schon im ersten Band geht Luther den bewährten Weg über die Taktik, wenn er beispielsweise das Motiv der Hin- und Weglenkung erläutert. Diese beinhaltet keinen typischen taktischen Schlag, sondern beschreibt vielmehr eine Methode, um "eine Drohung zum Einsatz zu bringen" (S.33). Drohungen schlummern versteckt in vielen Stellungen, aber sie müssen geweckt werden. Das ist der eigentliche Sinn von Strategiemanövern. Gewissermaßen kreieren sie Wendepunkte, die das Spiel in eine bestimmte Richtung lenken, um einen konkreten Vorteil greifbar zu machen. Drohung ist ein anderes Wort dafür, den Gegner unter Druck zu setzen.

Luther eröffnet die strategische Schulung nicht zufällig mit kombinatorischen Mustern und Mechanismen, auf die er immer wieder exemplarisch zurückkommt. Hier zeigt sich die Nahtstelle zwischen Strategie und Taktik in unabweislicher Deutlichkeit. Augenscheinlich lernt der Leser, sein taktisches Repertoire um eine Handvoll Waffen aufzustocken. Luthers Vorgehensweise greift jedoch tiefer. Seine Lehrmethode zielt darauf ab, das Auge des Lernenden für die strukturellen Feinheiten als auch neuralgischen Knotenpunkte einer Stellung zu schärfen, konfrontiert ihn damit, dass die Bühne des Sichtbaren nur die Manifestation eines Plans bzw. einer Absicht ist, die viel früher beginnen. Im Schach eilen die Gedanken der Gegenwart voraus. Für einen Anfänger wäre diese Hürde und Herausforderung jedoch kaum zu bewältigen. Sein Denken ist vielmehr lösungs- und ergebnisfixiert.

Indem Luther diese natürliche Vorliebe für taktische Zieloperationen - beispielsweise Matt oder substantieller Materialgewinn in einer begrenzten Anzahl von Zügen - ganz bewusst an den Anfang seiner Lehrtätigkeit stellt, ermutigt und ermuntert er den Leser dazu, sich mit den verschiedenen strategischen Konzepten, die jeder zählbaren Taktik vorangehen, gezielt auseinanderzusetzen. Gerade diese indirekte Art, erste Schritte in die Strategie hinein zu lehren und gleichzeitig darauf aufmerksam zu machen, dass hinter dem scheinbar freien Spiel der Züge ein konkreter Plan und Sinnzusammenhang steckt, macht dieses Buch so wertvoll. Der Leser lernt über den Umweg taktischer Pointen ein intuitives Gespür für den strategischen Überbau einer Partie zu entwickeln. Dies ist das Primärziel im Aufbau der einzelnen Kapitel im Buch.

Praktische Aufgaben zu allen Phasen einer Partie, von der Eröffnung übers Mittelspiel bis zum Endspiel, die drei oder mehr Züge zur Lösung beanspruchen, sollen den Lernstoff aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten und gestaffelt nach Schwierigkeitsgraden vertiefen. Und Luther streut immer wieder Ratschläge und Empfehlungen ein, die den Lernerfolg erleichtern und bestens dazu geeignet sind, Stresssituationen zu entspannen, wenn er beispielsweise betont, dass es nicht darum geht, "viele Aufgaben zu lösen, sondern dein schachliches Denken zu verbessern" (S.65).

Bündig und informativ werden über 313 Buchseiten die wichtigsten Hauptfelder der Strategie erarbeitet. In dem Abschnitt "Figuren in der Falle" geht Luther auf typische Eröffnungsfehler ein und zeigt Beispiele für den eklatanten Verlust der Dame auf. Begrüßenswert ist ferner, dass dem Patt als Sonderregel des Remis ein eigenes umfangreiches Kapitel gewidmet ist, das alle Elementarformen in Bauernendspielen abdeckt und zur weiteren Anregung auf teils studienhafte Rettungsmanöver nicht verzichtet. In einem späteren Kapitel werden Dauerschach, Zugwiederholung und andere Arten von Remis ausgiebig behandelt.

Wie schwache Felder vermieden bzw. erkennbar genutzt werden können, was rückständige und isolierte Bauern ausmacht, wie sich Bauerndurchbrüche und der Minoritätsangriff organisieren lassen und welchen Wert offene Linien und das Eindringen eines Turms in die 7. bzw. 2. Reihe haben, findet ebenso seinen Platz wie die Bedeutung des Vorpostens bei der Gewinnführung oder der Angriff auf die Grundreihe. Luther geht auf all diese strategischen Elemente, die eine Partie zu einem Kunstwerk an Kreativität machen, beflissentlich ein und scheut auch nicht davor zurück, kritische Momente des strategischen Plans mal von dieser und mal von jener Richtung aus in den Griff zu nehmen. Dabei bleibt Luther in seinen Ausführungen stets verständlich und zeigt sich verständig darin, auf Augenhöhe mit dem Leser zu kommunizieren. So entsteht tatsächlich ein Lehrgespräch, wo dem freien Fluss des Wissens nichts im Wege steht.

"Eine Partie ist ein Märchen aus tausend und einem Fehler." (S.209) Dieser Ausspruch stammt vom russischen Großmeister Alexei Suetin. Dass Luther ihn zitiert, dient nicht allein der prosaischen Ausschmückung oder Mystifizierung schachlicher Meisterschaft. Vielmehr steckt in dieser Sentenz, vielfach umschlungen, ein ariadneischer Leitfaden. Ihn zu bestimmen hat sich die Kulturgeschichte vieler Jahrhunderte und Epochen in allen Regionen der Welt rechtschaffen abgemüht.

Jeder, der Schach spielt, betritt ein Labyrinth und wird darin mit den eigenen Denkgewohnheiten konfrontiert. Wie gewinne ich Material, wie setze ich Matt - das sind die erste Schritte. Manch einer kommt, egal, welche Geschicklichkeit er auch entwickelt, nicht über diesen Anfang hinweg und verliert sich in den Gängen. Am Minotaurus kommt niemand vorbei.

Taktik bestraft Fehlzüge, wie sie sich in jeder Partie finden lassen. Sie markieren die gebrochenen Endpunkte unseres Strebens nach Erfolg. Taktische Reinfälle sind betrüblich und zuweilen auch ärgerlich. Allzu menschlich, aber nicht märchenhaft. Das Märchen, von dem hier die Rede ist, geht über die tausend und einen Fehler hinaus, indem es die Wiederholung einer Partie, also die Borniertheit, das Richtige tun zu wollen und so stets von neuem die Fortsetzung der Fehler zu betreiben, von Grund auf in Frage stellt. Das hat der Märchenerzähler Suetin, der ein hervorragender Taktiker und Stratege war, wohl gemeint.

Luthers Buch vermittelt Lernschritte in gebotener Systematik. Stets auf den Punkt gebracht und ohne überflüssiges Latein. Dem Leser wird es so leicht gemacht, der Handschrift der Strategie in allen Kapiteln zu folgen und das erworbene Wissen treffsicher in seine Praxis einzubinden. Was das Buch über alledem einzigartig macht, ist, dass die Wissbegier des Novizen einen freundschaftlichen Stoß und Ansporn nach vorne erhält und keineswegs mit einem billigen Versprechen abgespeist wird. Die Leidenschaft fürs Schachspiel bindet Leser und Autor aufs Engste zusammen.

8. April 2022


Thomas Luther
Schachtaktik und Schachstrategie
Fundamentales Schachwissen mit GM Thomas Luther
Joachim Beyer Verlag 2022
313 Seiten, 24,80 EUR
ISBN 978-3-95920-146-9
 
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 173 vom 9. April 2022


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