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SCHACH-SPHINX/05643: Philosophischer Boulevard (SB)


Zeitlos sind die Worte eines Schachmeisters aus dem 19. Jahrhundert, der sich angesichts der zunehmenden Flut der Varianten und Theoriekomplexe so seine Gedanken machte: "Man kann heutzutage sehr viel lernen, viel mehr als früher und viel besser als früher - nur das eine will heute ebenso schlecht gelingen wie früher: ein Genie zu sein." Philosophischer Boulevard? Paranoia des Bildungsbürgertums, das sich stets auf den zweiten Platz der gesellschaftlichen Hierachie gedrängt fühlte? Man muß vorsichtig sein, zumindest in der Auslegung der Nuancen. Mit Genie war seinerzeit weniger der zum Wahn neigende Göttergünstling gemeint, als vielmehr das rundum in allen Satteln sicher sitzende Wissen um die Zusammenhänge im Großen. Dieser Panoramablick war zu gewissen Zeiten sicherlich verbreiteter und wurde auch stärker angestrebt als unter den Bedingungen des Spezialistentums. Auf kantige Kontraste legte man ab der Jahrtausendwende viel größeren Wert als je zuvor. Der Stellenwert einer Disziplin und auch eines Künstlers diktierte sich von seiner Unterscheidbarkeit zu anderen Künsten und deren Protagonisten her. Auch die Verwilderung des Konkurrenzgedankens trug dazu bei, daß das Schachspiel sich in der Breite verflüchtigte und mehr und mehr zum Trittbrett individualistischer, später sogar nationalistischer Interessen verkam. Wirtschaftliche Erwägungen ersetzen in der Moderne das Bild einer ausgefächerten Entwicklung. Der Einwand mit dem Genie war also nicht nur rhetorischer Natur. Wohin die Unkenntnis vom großen Gedanken führen kann, das wurde im heutigen Rätsel der Sphinx Dr. Lange plastisch vor Augen geführt. Gerade mal sechs Züge hatte er gespielt, als er mit 6.Sd2-b3? auch schon das Tintenfaß umstieß. Sein Kontrahent Rudolf Teschner überblickte freilich die Lücken im Langschen Denkgebilde und legte den Finger sogleich in die Wunde. Also, Wanderer, es lebe das Genie!



SCHACH-SPHINX/05643: Philosophischer Boulevard (SB)

Dr. Lange - Teschner
Düsseldorf 1951

Auflösung des letzten Sphinx-Rätsels:
Der penible, mehr schüchterne als von Natur schweigsame Carl Schlechter ließ sich nach 1.Ld2-e3 nicht aus der Fassung bringen, sondern führte den Faden der Notwendigkeit mit sicherer Hand durch das Nadelöhr: 1...Te8xe3! Schlechter tat seinem Kontrahenten Pillsbury natürlich nicht den Gefallen, die Stellung nach 1...Tb2xf2 2.Le3xf2 in remisliches Wohlgefallen aufzulösen. Nach 2.Tf2xb2 Lf8xc5 drohte dem amerikanischen Meister Matt durch 3...Te3-e1#, weswegen der bedrohte Springer auf a3 im Stich gelassen werden mußte. Pillsbury spielte 3.Kg1-h1 Lc5xa3 und noch einige belanglose Züge mehr, dann sah er endlich das Hoffnungslose seines Widerstands ein und gab sich geschlagen.


Erstveröffentlichung am 18. November 2002

30. Oktober 2015


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