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SCHACH-SPHINX/05345: Halb Dämonin, halb Engelin (SB)



Auf grausame Weise liebt Caissa ihre Jünger, alles fordernd, nichts verzeihend, und so ist dem Spieler zuweilen zumute, als ob eine Dämonin in seinem Kopfe hockte und mit ihrem Lärmen den Ruf der Welt erstickte. Und in der Tat, Caissa ist halb Dämonin, halb Engelin. Süß ist ihr Kuß, schlimm der Entzug, und so zieht sie den Liebenden mit Macht immer wieder zurück zum Brett. Um sich von diesem bestrickenden Wahn zu lösen, griffen Meister hier und da zur Feder und schrieben sich ihre Qualen von der Seele. Im Jahre 1873 saß Hermann Lehner mit verzweifelter Stirn über einem weißen, unschuldigen Blatt Papier gebeugt und klagte mit bittersüßem Vorwurf seine 'Caïssa' an:

"Schlummerlos lieg' ich am Pfühle und zähle die nächtigen Stunden; nimmermehr, glaubt es mir nur, lockt mich das bunte Geviert.

Jahrelang bringt mich Caïssa um Morpheus' köstliche Gaben; schrecklich doch rächt er sich stets für den entzog'nen Tribut.

Siehe, dem grausamsten Spiele entlehnt er die schrecklichsten Bilder: Waffen und Wälle umdräu'n grausam den wehrlosen Mann.

Furchtbare Heere erschafft er, die mich allnächtlich bekriegen; quält das erhitzte Gehirn, bis mich Aurora erlöst.

Dennoch, naht sich der Abend, lenk' ich die gierigen Schritte wieder den nämlichen Weg, wieder zum magischen Hort.

Bald ist die Schwelle erreicht; es schwindet dem Geiste die Welt nun: über der wirklichen baut sich die symbolische auf.

Wandelbar ist die Neigung der Menschheit für alles Schöne, Hohe der Welt. Oft mißfällt heute, was gestern entzückt.

Langsam aber, doch dauernd, erwirbt seine redlichen Freunde sich das indische Spiel, die bis zum Grab sich erhält.

Jünglinge sah ich die Jugend, Männer die Vollkraft der Jahre, Greise die spärliche Glut opfern im geistigen Kampf.

Lor'lei bezaubert den Schiffer und zieht ihn hinab in den Abgrund; aber Caïssen genügt's, daß sie ihr Opfer bestrickt. -

Sklaven sind wir doch alle, auch da, wo wir Herrscher uns dünken: unwiderstehlich beherrscht uns das dämonische Brett."

Wanderer, wird dir da nicht klamm ums Herz; so furchtbar zu lieben, ohne Wahl, vervielfacht die sengende Qual! Ein Herrscher auf dem Brett zu sein, dünkt sich im heutigen Rätsel der Sphinx auch der FIDE- Weltmeister Anatoli Karpow. Ob er Caissa je bezwungen hat? Hier entflammte sein Blick die Diagrammstellung und aus dem lodernden Rauche empor stieg ein vierzügiges Matt!


SCHACH-SPHINX/05345: Halb Dämonin, halb Engelin (SB)

Iwantschuk - Karpow
Tilburg 1992

Auflösung letztes Sphinx-Rätsel:
Die Moral des Siegers ist der Triumph, und triumphal siegte auch Meister Kurho mit dem Turmopfer 1.Te1xe6! Nehmen durfte ihn sein Kontrahent Talasterä nicht. Schneller wäre er dem Matt nur erlegen. So zog Letzterer also 1...Sf6-h7, aber was half's, nach 2.Te6xg6+ Kg8-h8 3.Tg6-g8+! gab er einen Zug vor dem Matt auf.


Erstveröffentlichung am 31. Januar 2002

05. Januar 2015





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