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ES GESCHAH.../027: Der Anekdotenkammer siebenundzwanzigste Tür (SB)


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In einer Welt der Begründungen ist es nicht weiter verwunderlich, dass jedem Ding eine mutmaßliche Bestimmung und ein höchster Zweck zugeschrieben wird. Nichts steht für sich allein, die Blume strebt sehnsuchtsvoll zum Sonnenlicht und ihre Wurzel klammert sich haltsuchend ans dunkle Erdreich. Und so scheint auch das Schach, von dem es heißt, dass es keinem anderen Spiel vom Wesen her gleicht und Herz und Verstand gleichermaßen erfreut, ein Geheimnis zu bergen. Den Urquell, dem diese Kunstfertigkeit im Manövrieren von Steinen auf einem abgezählten Brett einst entsprang, aufzuspüren, müht man sich jedoch vergebens ab. Das Eigentümliche liegt unter einem Berg historischer Wandlungen und kognitiver Fehlschlüsse seit langem verschüttet.

Doch zu Zeiten, als die Frage nach der Reichweite menschlichen Denkens sich nicht ausschließlich auf die Bewältigung existentieller Nöte in Gestalt von Hunger und Kälte, Feuer und Flucht warf und sich in der Wiederkehr gleicher Ziele erschöpfte, könnte, was wir heute Spiel nennen, früher einmal ein machtvolles Ringen um Zugriffe ganz anderer Art gewesen sein. Doch so, wie jede Abstraktion von Gefahr zu einem bloßen Signal verkommt und die Zeichnung eines Säbelzahntigers in einem Buch über die Frühgeschichte der menschlichen Spezies in keinster Weise mehr den blutgefrierenden Schrecken unserer Vorfahren beim jähen Anblick dieser jagenden Bestie authentisch wiederzugeben vermag, fehlt dem menschlichen Geist die Nähe zum Streit. Was bleibt, ist die Kulturgeschichte einer sich im Kreise drehenden Vergeblichkeit, die außerstande ist, die vergessenen oder verlorengegangenen Anfänge einer Auseinandersetzung, deren Motive nicht in Zeitvertreib und Selbstbestätigung gipfelten, wieder aufzudecken.

Märchen, Mythen und die frühen Erzählungen aller Kulturen waren seit jeher das Vehikel dieser allenfalls notdürftig durch Sprache und Symbole tradierten Erinnerungen, deren Merkmal allerdings immer schon die Distanz war zu jenen Kräften und Zusammenhängen, die sich dem Blick des Menschen auf die Wirklichkeit entziehen. Fasst man all diese Relikte zu einem menschheitsgeschichtlichen Archiv zusammen, markieren sie die Nahtstelle zwischen dem Streben nach verwaltbarem Wissen und dem, was sich jedem Vor- und Rückgriff der Bibliotheken zutiefst verweigert. Mit diesem Vorwort öffnet sich die Pforte zur siebenundzwanzigsten Anekdotenkammer, wo unter dem Putz altorientalischer Ornamentik und märchenhaften Glanzes gewiß eine amüsante Schachgeschichte aufblüht, zugleich aber auch ein tieferer Blick geworfen wird auf die Anfänge der nicht selten von Irrtum und Verwechslung geprägten Historie der Schachkunst.

Zivile Regeln und das Schrifttum der Vernunft bildeten seit jeher die Regulative zur Eindämmung wehrhafter Renitenz, bohrender Zweifel und rebellischer Aufmüpfigkeit und entfalteten auf diesem Wege ihre eigene Dynamik der sozialen Kontrolle. So wie ein toter Hund Maden ausbrütet, sprudeln aus dem Harmoniekadaver, der die Widersprüchlichkeit von Krieg und Unterdrückung wie überhaupt die zahlreichen leidvollen Erscheinungsformen einer auf Gewalt basierenden Gegenseitigkeit in eine optionale Friedensperspektive bindet, die Beschwichtigungsphrasen des Gelehrtenstandes hervor.

*

Einst im fernen Arabistan, in der juwelenhell glänzenden Stadt mit dem Namen Bagdad, lebte der Kalif Hussein, der Herrscher eines großen Reiches, das sich von einem Zipfel des Himmels bis zum anderen spannte und hunderte Völker innerhalb seiner Grenzen vereinte. Der Kalif war berühmt für seine gewaltige Macht und seinen sagenumwobenen Reichtum. Edelsteine und Schmuck, Perlen, Elfenbein und kostbare Waffen als auch Münzen aus aller Herren Länder türmten sich vom Boden bis zur hohen Decke seiner Schatzkammer. Die Augen tränten, so sehr glitzerten Gold und Silber und Diamanten sternengleich aus überquellenden Truhen hervor.

Gebieterisch in einem weiten weißen Umhang gehüllt, bis zu den Sandalen herunterwallend, von Blütenduft bestäubt und mit Goldfäden durchzogen, stolzierte er in seinem Palast umher, und wenn er unter die Sonne trat, um sich in seiner majestätischen Herrlichkeit bewundern zu lassen, verstummte sein ganzes Volk, so prächtig war er anzuschauen. Und weise und gerecht war dieser Kalif, dass kein Unrecht herrschte hinter den hohen Mauern seiner Stadt.

Von überall her kamen Kamelkarawanen mit Damast aus Syrien, Weihrauch aus Jemen und Seide aus dem fernen China in dieses Zentrum der damaligen Welt. Keinen Ort gab es auf Erden, wo der Reichtum der Basare üppiger gedieh und wo die Menschen auf den schmalen Gassen mit glücklicheren Gesichtern umherliefen. Ein jedermann war zufrieden und lebte, wie er es für richtig hielt.

Nur einer aus Bagdads Volk, ein junger Kesselschmied, saß traurig auf den Stufen seines ärmlichen, grauen Hauses. Sie nannten ihn Omar den Einfältigen, weil er weder dem Gold blind hinterherjagte, noch dem Ehrgeiz verfallen war, in einem prunkvollen Haus mit vielen Zimmern und Bediensteten leben zu wollen. Gleichwohl hätte er es leicht zu hohem Ansehen und Vermögen bringen können, denn seine Handwerkskunst war graziös und von unnachahmlichem Stil und fand ihresgleichen nicht im ganzen Reich und über die Grenzen des Kalifats hinaus. Selbst die zauberkundigen Schmiede am Hofe der Götter Griechenlands hätten es mit seiner Meisterschaft nicht aufnehmen können. Weil er jedoch die götzenhafte Prunksucht der Edlen der Stadt verachtete und seinen eigenen Talenten zum Trotz lieber in einem schmucklosen Heim mit bescheidenem Auskommen lebte, schimpften ihn seine Zunftkollegen als einfältig. Von seinen Nachbarn hingegen wurde er für die Sanftheit seines Gemüts überaus geschätzt und geliebt.

Von Gestalt hochgewachsen, mit breiten Schultern und Beinen, die fest wie Säulen auf der Erde ruhten, war er so stark wie zehn Männer. Seine Arme hätten mit Leichtigkeit einen Elefanten hochheben und auf die höchste Turmspitze emporwerfen können. Ein dichter Bart umschlang sein energisch kantiges Kinn. Schwarz glänzten seine Augen wie poliertes Ebenholz. Und nie kannte man ihn anders, als mit höflicher Zunge redend und mit zuvorkommender Hand allen notleidenden Menschen helfend. Ungeachtet seiner Armut war er reich, denn sein Herz kannte nur Sanftmut und Friedfertigkeit. So übervoll quoll es daraus hervor, dass er seine Güte mit beiden Händen an Freunde und Fremde verteilen konnte, ohne dass sein Schatz geringer wurde.

Dass er nun so traurig war und sein Schicksal bitter beklagte, hatte einen bemitleidenswerten Grund. In seinem Herzen steckte nämlich Amors Pfeil, und dieser ließ sich nicht mehr herausziehen, so tief hatte er sich in Omar hineingebohrt. Entbrannt waren seine Gefühle für die schöne Danea, doch die, welche er mit jeder seiner Adern liebte und für die er gar einen tiefen Brunnen bis hinab zum Erdmittelpunkt gegraben hätte, dieses rehäugigste, rosenwangigste, ja wunderschönste aller zauberhaften Mädchen dieser Welt, war Gefangene im Harem des Kalifen.

Schon als Kind hatte er mit der gertenschlanken Danea unter den Dattelbäumen gespielt, so vergnügt und ungezwungen, dass beider Lachen in die Lüfte flog und gegen die Wolken stieß. Tief im Herzen hatte er sie zu seiner Braut erwählt, und auch Danea hätte ihn gerne zum Manne genommen.

Ein kleines Sümmchen hatte er sich schon zusammengespart für die Hochzeit. Alles war geplant und vorbereitet gewesen, doch dann eines Abends kam die Eunuchenwache des Kalifen und verschleppte Danea in den Palast, wo sie als Sklavenmädchen niedere Dienste verrichten musste. Der Kalif war ein mächtiger Mann, und er konnte in seinen Harem holen, wen er wollte. Sein Wort war Gesetz in Bagdad.

Und das machte aus Omar, der zuvor der glücklichste Mensch unter Allahs Sonne gewesen war, den größsten Herzensleider weit und breit. Eine Woche war inzwischen vergangen, als sie aus ihrem Elternhaus geraubt wurde, und Omars Augen waren noch immer voll Trauer und Tränen. Er konnte Danea nicht vergessen und wollte es auch nicht. Selbst das Sternenlicht, das über seinem Haupt funkelte wie brennende Saphire, konnte seinen Kummer nicht trösten. Ohne Danea war die Welt für Omar wüst und leer.

Aber warum war der Kalif plötzlich so grausam geworden?

Nun war im Volke bekannt, dass der Kalif nichts so sehr liebte wie das Schachspiel. Er war so vernarrt darin, dass er vom ersten Hahnenschrei am Morgen bis zum schaurigen Ruf der Nachtvögel am Schachbrett saß und all die großen und kleinen Geheimnisse des Königlichen Spiels studierte. Seine Kunstfertigkeit in diesem Spiel war ohne Beispiel, denn er hatte alle Meister von nah und fern besiegt. Auch die Schwalben, die in den Turmnischen ihre Nester bauten und schon überall in der Welt gewesen waren, kannten niemanden, der es mit der Geschicklichkeit des Kalifen im Schachspiel hätte aufnehmen können.

Tausend Dinar hatte er demjenigen als Lohn versprochen, der ihn in einer einzigen Partie zu besiegen vermochte. Viele waren daraufhin in seinen Palast gekommen, Große und Kleine, Dünne und Dicke, Alte und Junge, solche, die einen langen und strähnigen Bart trugen, und andere, die noch nicht einmal einen weichen Flaum an den Kinnbacken hatten. In den verschiedensten Kostümen und Trachten waren sie aus weit entfernten Orten herbeigeeilt, Gebildete, die hundert Sprachen beherrschten, und mutige Krieger, die auf ihr Glück vertrauten.

Aber keiner war unter den Tausend, der dem Kalifen etwas Neues zeigen konnte, und darum jagte er sie, nachdem sie ihm hoffnungslos unterlegen waren, mit Fußtritten aus dem Palast und fluchte jedem einzelnen hinterher wie ein übellauniger Kameltreiber. "Dummspatz, Pestbeule", rief er in seiner Enttäuschung und Wut, "haarloser Affe, kahlköpfiger Geier, stinkender Krötenfuß. Selbst meine Großmutter kann besser Schach spielen, und das, obgleich sie auf beiden Augen blind ist", und noch mit vielen anderen bösen Worten beschimpfte er die Verlierer.

Weil er aber keinen mehr fand, mit dem er Schach spielen konnte, denn er war ja unbesiegbar geworden, wurde ihm das Leben fade und er begann, grausam zu werden gegen seine Untertanen und sie um ihres bescheidenen Glückes willen zu beneiden.

Trotz seines unermeßlichen Reichtums, seiner schönen Gewänder, die er jeden Tag wechselte, weil er Hunderte von Truhen voll davon besaß, und trotz der süßesten Früchte und leckersten Spezereien, die ihm der beste Bäckermeister in ganz Arabistan buk, litt der Kalif also von Tag zu Tag entsetzlicher unter der Last der nie ermüdenden Langeweile.

Jeder kleine Vogel konnte einen Grashalm aus seinem Schnabel verlieren, und auch der Falke ging bei seiner Jagd einmal leer aus. Der Vogel freute sich jedoch wieder, wenn er einen neuen Grashalm fand, und auch der Falke hatte bald wieder Jagdglück, der Kalif aber kannte nur noch ein und dasselbe Gefühl für alle Augenblicke. In seinem Verdruß hatte er verlernt, sich am Leben zu erfreuen.

Mit finsteren Blicken schlurfte er in seinen goldbestickten Pantoffeln, die in diesem Lande Babuschen heißen, durch die Palasthallen und brüllte jeden, dem er begegnete, barsch und unfreundlich an. Aus dem weisen und gerechten Kalifen war ein jähzorniger Mensch geworden, den alle fürchteten. Selbst an den schönen Tänzen seiner Haremsfrauen fand er keine Freude mehr.

Und das machte ihn so verdrossen, dass er sich an den Menschen für sein Leid rächte. Nur aus diesem Grunde hatte es ihm eines Tages gefallen, den Befehl zu geben, die Tochter einer armen Witwe, nämlich Danea, in seinen Palast entführen zu lassen. Danach hatte er sie wieder vergessen und grollte in seinem vereinsamten Schmerz vor sich hin.

All das wußte Omar, und darum fasste er den verwegenen Entschluß, den Kalifen zu einer Partie Schach herauszufordern, nicht wegen des Geldes, nein, um seiner Geliebten willen wollte er sogar den Tod auf sich nehmen.

Um sich Rat zu holen, wie der Kalif zu besiegen sei, denn nur gering waren Omars Kenntnisse in der edlen Schachkunst, begab er sich in der Nacht zu Derwischbaba, der vor den Stadttoren, eine halbe Stunde Wegstrecke zu Fuß entfernt, in einer Felshöhle hauste. Von ihm hieß es, dass er über großes Wissen und gewaltige Zauberkräfte verfügte. So konnte er plötzlich verschwinden und an einer anderen Stelle wieder auftauchen. Auch die furchterregenden Geister, die die Nacht bevölkern, hörten auf sein Wort.

Und einen langohrigen Esel führte er mit sich herum, der hieß Jabbar und konnte reden wie ein Mensch. Viele vermuteten, dass dieser Esel einst ein Buchgelehrter gewesen sei, den Derwischbaba aus Verärgerung über dessen Dreistigkeit in ein Tier verwandelt hatte. Zu diesem Wüstenderwisch machte sich Omar nun auf.

Er konnte die Hand nicht vor Augen sehen, als er vor der Felsenhöhle des Alten ankam. Laut rief er: "Bist du zu Hause, Derwischbaba?"

Stille antwortete ihm. Ein zweites Mal schrie er sich die Kehle wund: "Hier ist einer, der deine Hilfe braucht, Derwischbaba!"

Die Verzweiflung trieb Omar Tränen in die Augen, weil er keine Antwort erhielt. Hineinzutreten in den Unterschlupf des Zauberers, wagte er jedoch nicht. Es hieß, Derwischbaba könne, einmal in Wut gebracht, schrecklich ungemütlich werden. Auch wollte Omar nicht in einen Esel oder Schlimmeres verwandelt werden. Also rief er ein drittes Mal, diesmal mit steinerweichender Stimme: "Derwischbaba, du bist das einzige Licht in meiner kargen Finsternis. Bitte hilf mir!"

Noch immer schwieg die Nacht um ihn herum. Es war still wie auf einem Friedhof und nicht weniger unheimlich. Man munkelte in der Stadt, bei den Felsen schlichen des Nachts Dämonen umher, das waren die einzigen Gefährten des Zauberers, die er bei sich duldete, und diese seien immer hungrig und versessen darauf, ahnungslose Wanderer aus den Schatten heraus zu verschlingen.

"Wer wagt es, meinen Schlaf zu stören? Sprich, Unverschämter!" dröhnte plötzlich eine keifende Stimme durch die Dunkelheit.

"Derwischbaba, ich bin es, Omar, der Kesselschmied."

"Willst du mir einen kupfernen Kessel verkaufen? He! Ich brauche nichts. Ich esse mit der Hand, was ich in der Wüste finde. Was willst du also von mir?"

"Einen Rat, Derwischbaba!", erwiderte Omar und duckte sich dabei, weil er, der sonst nichts fürchtete, es plötzlich mit der Angst bekam.

"Soso! Von einer einsamen Wüstenhyäne willst du einen Rat. Was könnte ich dir schon raten, mein Söhnchen? Die Welt ist eine offene Wunde und niemand will es wissen. Nun sag schon, was für ein Leid dich quält. Sprich geschwind, denn meine alten Knochen sind müde, die Nacht ist kurz und morgen habe ich noch vieles zu tun."

Und Omar erzählte, was ihm auf dem Herzen drückte, schilderte mit erstickter Stimme, was seiner Braut angetan wurde, und dass er entschlossen sei, den Kalifen auf Gedeih und Verderb zu einer Partie Schach herauszufordern.

"Er wird dir den Kopf abschlagen lassen, Omar, wenn er merkt, dass du wie ein Stümper Schach spielst. Was wirfst du dein Leben so achtlos weg."

"Um der Liebe willen wage ich alles, Derwischbaba", brach es wild aus Omar heraus.

"Ja, ja", murmelte der Alte, "das Herz ist eine Elster, die allem nachjagt, was betörend glänzt und eitles Glück verspricht. So ist denn auch viel Wahres dran, wenn die Propheten sagen, aus einem liebenskranken Auge ist jede Vernunft entwichen."

"Ich bin kein romantischer Schwärmer!", rief Omar erbost.

"Nein, du bist ein Holzkopf, und striche man dir auch mit Palmenblättern der Weisheit übers Haupt, so kämen doch nur schräge Melodien aus deinem Munde, aber da mich deine Dummheit gerührt hat, komm rein. Wir wollen beratschlagen, was zu tun ist, damit du deine Danea bald schon in die Arme schließen kannst."

Eine ganze Nacht und den Tag darauf und wieder bis zur Morgenröte blieb Omar beim Zauberderwisch. Omar kam es aber so vor, als seien Jahrhunderte vergangen. Nie hat er später darüber gesprochen, was ihm Derwischbaba während dieser Zeit an unheimlichen Dingen gelehrt hat.

Schließlich verabschiedete ihn der Derwisch, und damit er nicht allein gegen den Kalifen zu spielen brauchte, gab er ihm Jabbar als Ratgeber mit.

In aller Frühe, die Sonne sah gerade aus ihrem morgendlichen Wolkenhaus heraus, stellte sich Omar breitbeinig und mit wildem Feuer in den Augen vor die Palasttore hin. Neben ihm, mit den Lippen an seiner Pluderhose zupfend, stand Jabbar, der Esel, der einmal ein Buchgelehrter und Philosoph gewesen war.

Nach einer Weile trat ein Palastwächter zu Omar und giftete ihn wütend an: "Was stehst du hier wie ein Ölgötze da? Troll dich davon und nimm auch deinen Esel mit. Aber sag, bist du nicht der einfältige Kesselschmied?"

"Ich bin Omar und werde mich nicht eher rühren, bis der Kalif vor mich tritt, denn ich will mit ihm eine Partie Schach spielen. Beim Barte des Propheten, das ist mein fester Wille!"

"Du?", verhöhnte ihn der Obereunuch Shakir, der, vom Lärm angelockt, herbeigeeilt war. "Du kennst ja noch nicht einmal die Namen der einzelnen Figuren. Geh nach Hause, armer Narr, bevor dich der Kalif in einen Käfig stecken und am höchsten Turm von Bagdad verhungern läßt. Geh, sonst werden die Geier mit deinen blanken Knochen Schach spielen." Der Palastwächter und der feiste Eunuch bogen sich vor Lachen, dass ihnen der Rücken wehtat.

Omar aber dachte gar nicht daran, unverrichteter Dinge heimzukehren. So setzte er eine entschlossene Miene auf, trat fest mit dem Fuß auf den marmornen Boden und brüllte mit stolzer Stimme: "Ich bleibe, oder fürchtet sich der Kalif vor einem Kesselschmied?"

Shakir, den die Leute in der Stadt hinter vorgehaltener Hand den 'Köter des Kalifen' nannten, schüttelte ungläubig seinen glattrasierten Schädel. Gerade wollte er noch einmal versuchen, Omar zum Gehen zu überreden, doch als ihm dieser einen strengen Blick zuwarf, trottete der Eunuch davon und verschwand hinter dem Palasttor, das wuchtig hinter ihm zufiel.

Eine Stunde verging, ohne dass Omar auch nur mit einem Augenlid zuckte. Geduldig wartete er, und auch Jabbar kaute genüßlich am Zweig eines kleinen Zitronenbaums. Da flog plötzlich die Palasttür auf, und mitten unter dem goldverzierten Torbogen stand der Kalif mit einem Turban auf dem Kopf und zornrotem Gesicht, die Fäuste fest in die Seiten gestemmt, hinter ihm, mit scharfen, halbmondförmigen Schwertern in den Händen, fletschte die Kalifenwache grimmig mit den Zähnen.

Hinter dem Rücken der Kriegerschar hervor schlich der Eunuch Shakir kratzfüßig und mit einem gehässigen Lächeln auf den Lippen zum Kalifen Hussein und flüsterte dem Herrscher der Rechtgläubigen etwas ins Ohr. Daraufhin trat Hussein vor und rief zu Omar: "Du wagst es, mich herauszufordern, mich, den besten Schachspieler von ganz Arabistan, und schimpfst mich auch noch einen Feigling, du elender Schurke! Ich werde dich pfählen und dann vierteilen lassen für deine Unverschämtheit!"

"Hochwürdiger Kalif, Sonne der Welt und Stern ihrer Nächte", scharwenzelte der Eunuch um seinen Herrn herum, "das wäre zuviel Ehre für den Einfältigen und seinen Esel. Laßt ihn köpfen, dann gibt er schon Ruhe."

Omar, der bei diesen Worten nicht mit der Wimper gezuckt hatte, erwiderte darauf mutig: "So ist es also wahr, was die Leute in der Stadt raunen, dass nämlich der Kalif auf das Gebell eines Schakals mehr hört als auf die Stimme seines eigenen Herzens. Wohnt denn keine Gerechtigkeit mehr darin? Ich bin zu Euch gekommen, Kalif, um mit Euch das Schach der Zauberei zu spielen, darüber die alten Weisen sagten, wer es beherrsche, könne allein mit seinem Willen einen Berg bewegen."

Der Kalif hob erstaunt eine Augenbraue bis zu seinem Turban hoch. "Du lügst auch nicht, kennst wirklich die letzten Geheimnisse der Schachkunst?"

"Die Nacht war meine Lehrmeisterin, ich sprach mit Felsen und uralten Quellen. Ja, ich weiß, woher das Schachspiel stammt und wie seine Weisheit unter den Menschen verlorenging", antwortete Omar und benutzte exakt die Worte, die ihm Derwischbaba zu sagen empfohlen hatte.

"Wenn auch nur die kleinste Silbe von deiner Rede gelogen ist, Kesselschmied", der Kalif trat vor Omar und blickte ihn scharf ins Angesicht, "dann werde ich dem Rat meines Eunuchen folgen und dich köpfen lassen. Sagst du aber die Wahrheit und besiegst mich in einer Partie Schach, dann hast du einen Wunsch frei und bekommst obendrein tausend Dinar als Belohnung."

"So sei es!", entgegnete Omar kühl.

Der Kalif klatschte in die Hände und in Windeseile trugen kräftige nubische Sklaven mit Goldketten an Hand- und Fußgelenken einen kleinen, runden Marmortisch mit wunderschön geschwungenen Schachfiguren aus Jade und dunklem Kristall auf den Vorhof zum Palast und auch einen Holzblock, in dem steckte ein riesiges Henkersbeil.

Der Kalif knackte mit seinen Fingern, setzte sich auf ein weiches Seidenkissen und fragte Omar: "Was ist dein Wettpreis?"

"Mein Leben setze ich ein für meine Braut Danea!"

Der Kalif machte ein überraschtes Gesicht. "Wer ist diese Danea, für die du dein Blut wagst?"

"Euer Eunuch entführte sie von ihrem Bett weg in Euren Harem." Es fiel Omar schwer, in seine Worte nicht den Tautropfen eines Tadels einzumischen.

Der Kalif bemerkte jedoch die unterdrückte Wut und erwiderte halb versöhnend, halb belustigt: "So trage ich also Mitschuld an deinem verwegenen Mut. Nun gut, nach deinem Wunsch soll es geschehen. Siegst du, so ist sie frei, und mein Eunuch wird deinen Platz unter dem Henkersbeil einnehmen. Gewinne aber ich, soll dein Kopf deinen dreisten Worten zur Sühne dienen."

Omar nickte zustimmend und setze sich nieder auf ein breites Kissen. Jabbar, der Esel, rückte an seine linke Schulter und beschnüffelte mit aufgeblähten Nüstern seine lockigen Haare.

Ein wenig irritiert fragte der Kalif: "Ja, glaubst du wirklich, mit Eselsschach und Zinnober könntest du mich besiegen? Soviel Mut besaß noch keiner!"

Inzwischen war die Kunde von Omars Herausforderung durch die ganze Stadt gelaufen. Im Nu hatte sich eine Menge Schaulustiger um den Palast versammelt, und die lachte nun lauthals auf.

An den Fenstern zu den Haremsräumen drängten sich verschleierte Frauen und Sklavinnen. Omar erkannte an der äußersten Fensteröffnung seine geliebte Danea, und ein Stich brannte sich ihm durchs Herz.

Der Kalif machte, weil die Wahl der weißen Steine an ihn ging, den ersten Zug.

Ringsherum verstummte alles Volk. Nur hier und da wagte sich ein Flüstern, ganz leise, als ob es auf weichen Sohlen schlich, von einem Mund zum anderen Ohr. Und auch der Eunuch Shakir, dessen Kopf schließlich mit auf dem Spiel stand, reckte seinen feisten Hals über das Halbrund aus Schwertern, das die Wache um den Kalifen gebildet hatte, und beäugte die Partie mit argwöhnischer Scheu und unruhigen Gedanken. Vielleicht hatte der einfältige Kesselschmied, so dachte er mit einer ins Riesenhafte wachsenden Furcht, in der Nacht zuvor im Traum von mächtigen Dschinnen Beistand erfleht.

So jagten sich auf dem Brett die Züge. Der Springer drohte mit einer Gabel, der Turm wich erschrocken zurück, dann versperrte die Dame den Bauern den Weg und ein andermal eilten die Läufer auf flinken Füßen quer über das Feld. Auf dem Brett wechselten sich Angriff und Riposte, Finte und Belauern, drohendes Matt und Prophylaxe geschickt ab, wer die Oberhand behielt war nicht abzusehen, ein kopfschwindelndes Durcheinander von Plänen und Manövern, deren Sinn und Wert kaum zu enträtseln war.

Mal wanderten die Blicke der Zuschauer zum Kalifen hin, der unter seinem Turban mehr und mehr ins Schwitzen kam, dann flogen die Augen aller im Kreis zu Omar und Jabbar hin, die jedesmal, wenn sie an der Reihe waren, die Köpfe verschwörerisch zusammensteckten und aufgeregt miteinander tuschelten. So etwas hatte man selbst im märchenhaften Bagdad noch nie gesehen: Ein Mensch, der sich mit einem Esel beriet.

Auch als die Partie über viele Stunden ging, verließ das Volk den Platz vor dem Palastgebäude nicht. Die einzigen, die nie zur Ruhe kamen, waren die Brotfladen-, Käse-, Oliven-, Dattel-, Hammelfleisch- und Wasserverkäufer. Sie konnten gar nicht so schnell nachliefern, wie ihnen die Waren aus den Händen gerissen wurden.

Der Kalif und Omar aßen und tranken jedoch nichts. Schweigend wie eine Düne in der Wüste saß der Herrscher der Rechtgläubigen auf seinem himmelblauen Kissen, starr die Augen auf das Brett fixiert, während einzelne Schweißperlen von seiner Stirn herab über den Nasenrücken auf seine Lippen tröpfelten. So sehr war er in die verworrene Welt seiner Gedanken entrückt, dass er weder das Staunen der Zuschauer noch Shakirs schwere Atemzüge bemerkte.

Die Figuren schufen ein rätselschweres Labyrinth, darin sich der Kalif je und je verirrte. Omar, der sich wortgetreu an die Weisungen von Derwischbaba hielt und die Ratschläge des verzauberten Esels Jabbar auf den Buchstaben genau befolgte, verstand zwar nichts von dem, was auf dem Brett vorging, der Kalif freilich glaubte mit zunehmender Beklemmung, gegen einen wahren Meister der Schachkunst zu spielen, der Züge machte, die er, auch wenn er sich beflissentlich bemühte, nicht im geringsten begriff. Und so war es kein Wunder, dass er sich unbehaglich zu fühlen begann in seiner Haut.

Schon verdrängten die ersten Abendschatten den verdämmernden Sonnenglanz. Dunkelheit gähnte über den Dächern von Bagdad, so dass die Wache überall weithin leuchtende Laternen aufstellte. Das Spiel ging weiter im flackernden Schein der Lichter.

Plötzlich strahlte der Kalif über das ganze Gesicht wie ein aufloderndes Kohlefeuer. "Ha! Jetzt habe ich deine Dame gefangen! Gleich gehört mir dein Kopf!", rief er in heller Begeisterung auf, machte seinen Zug und verharrte in siegestrunkener Erwartung.

Durch Omar fuhr ein leibhaftiger Schrecken. So blitzartig entwich das Blut seinen Lippen und Wangen, dass er bleich wie ein Leichnam aussah. Ein ängstliches Murren und Grummeln, ein Jammern und Gestöhne ging durch die Menge. Schon weinten die ersten Frauen hinter ihren Schleiern, schon schlugen die ersten Männer die Hände über ihren Köpfen zusammen. Und auch Danea, die die ganze Zeit über mit bebenden Gliedern am Fenster ausgeharrt hatte, schrie entsetzt auf, glaubte sie doch, ihren Liebsten für immer verloren zu haben.

Der einzige, der von dem plötzlichen Tumult völlig unberührt blieb, war Jabbar. Mit seinem kräftigen Kopf schubste er Omar an, der aus seinem Schreck erwachte und freudestrahlend zuhörte, was ihm Jabbar ins Ohr flüsterte.

"Kalif", sagte Omar daraufhin mit bedächtiger Stimme, "ich möchte Euch nochmals an Euer Versprechen erinnern."

Der Kalif nickte großzügig und murmelte: "Der Kalif hält Wort." Insgeheim dachte er jedoch, 'nur ein Narr begrüßt sein Schicksal mit einem sonnenhellen Lächeln. Das Henkersbeil wird dich schon bald von deinem Irrtum heilen.'

Omar streichelte Jabbar über den buschigen Kopf und kramte hinter seinem Leibriemen eine dicke Karotte hervor, die er dem Esel zwischen die Zähne schob. Zum Kalifen gewandt fuhr er sodann fort: "Ich kündige ein Matt in 14 Zügen an!"

"Nein!" rief der Kalif erstaunt auf, und auch die Menge gab als Echo ein erstauntes "Nein" zurück. "So etwas hat es noch nie gegeben", stammelte der Kalif und hob die Hände zum dunklen Himmel empor.

Und in der Tat, Omar setzte, ohne dass der Kalif etwas dagegen unternehmen konnte, dessen König in 14 Zügen schachmatt.

Danach breitete sich ein großes Schweigen aus. Nicht einmal eine Maus wagte zu atmen. Das Antlitz des Kalifen wirkte im Feuerschein der Fackeln wie eine wachsbleiche Maske, so unausdeutbar, als blickte man auf die verschrumpelten Gesichtszüge einer ägyptischen Mumie. Die Glieder der Palastwache strafften sich in der Erwartung eines todbringenden Befehls, während Jabbars Gebiß die Karotte zerkaute.

Der Kalif erhob sich langsam von seinem Kissen und blickte aus finsteren Augen zu seinem Palast hin, der wie eine Perle, umgeben von Dunkelheit, aufschimmerte. "Wo ist der Schurke Shakir? Holt ihn mir herbei!", fluchte er vor wildem Zorn.

"Kalif", begann Omar mit milder Zunge zu reden, "habt Ihr heute nicht die schönste Partie Eures Lebens gespielt? Zeigt Euch großzügig und schenkt dem Eunuchen das Leben. Kein Blutvergießen soll diesen Freudentag schänden."

Ehe der Kalif antworten konnte, lief ein Palastwächter herbei und erklärte, dass der Eunuch auf einem Kamel auf und davon geritten sei.

"So trage ich die Schande allein", wandte sich der Kalif ironisch lächelnd an Omar und sein Volk. "Weil ich so vermessen war, zu glauben, es gäbe für mich nichts mehr auf der Welt zu lernen, mussten mich ein Esel und ein Kesselschmied erst belehren. Ja, Freund Omar, du hast mir die Augen geöffnet. Zu tun, was es noch nie gegeben hat, das ist die wirkliche Zauberei."

Ganz Bagdad feierte am nächsten Tag das Hochzeitsfest. Später begannen überall in Arabistan und auf der ganzen Welt Menschen damit, das Schachspiel zu ergründen, das einst ein Esel und ein einfältiger Kesselschmied ersonnen hatten. Seltsam, aber bei alledem hat sich bis auf den heutigen Tag niemand jemals ernsthaft gefragt, was Omar, der nie wieder zu den Schachfiguren griff, in der Höhlengrotte tatsächlich gelernt hatte.

7. Februar 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 171 vom 12. Februar 2022


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