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INTERNATIONAL/223: Von Frontex zur Frontera Sur (poonal)


poonal - Pressedienst lateinamerikanischer Nachrichtenagenturen

Deutschland / Europa / Mexiko
Von Frontex zur Frontera Sur

Von Wolf-Dieter Vogel


(Berlin, 06. November 2016, npl) - Zunächst sind da nur die Schuhe. Schritt für Schritt schreiten sie voran, und es scheint so, als ob ihre Träger ganz genau wissen, wohin sie wollen. Dann taucht ein junger Mann auf. "Ich bin kein Verbrecher, sondern einfach ein Mensch", sagt er. Ein Mensch auf der Suche nach einer Zukunft. In dem Film "Viacrucis Migrante" von Hauke Lorenz berichtet er von seinem Erlebnissen, Träumen und Hoffnungen.

Der Mann ist einer von Hunderttausenden, die sich jährlich aus Honduras, Guatemala und El Salvador auf den Weg machen, um ihr Glück in den USA zu suchen. Für seinem Dokumentarfilm über Migrantinnen und Migranten an der mexikanischen Südgrenze hat Lorenz ihn sowie zahlreiche weitere Reisende interviewt.


Film "Viacrucis Migrante"

Nicht zufällig stand "Viacrucis Migrante" am Anfang einer Tagung über die Grenzregime der EU und der USA Mitte Oktober in Berlin, die von der Heinrich-Böll-Stiftung, dem Böll-Bildungswerk, Medico International, borderline-europe und der Autorin Erika Harzer organisiert wurde. Denn die Schuhe, die auf der Leinwand zu sehen sind, könnten ebenso die eines Syrers, einer Afghanin, eines Nigerianers oder einer Somalierin sein. Egal, auf welcher Route sie sich befinden: Geflüchtete und Migranten sind dies- und jenseits des Atlantiks ähnlichen Gefahren ausgesetzt. Und sie werden mit gleichen Mitteln daran gehindert, ihr Ziel zu erreichen.

"Was in Mexiko geschah, war die Vorankündigung dessen, was nun in Europa passiert. Man hat die Grenzen in den Süden verlagert und viel Geld in Guatemala, Honduras und El Salvador investiert", erklärt der italienische Aktivist Guanfranco Crua. Mit Unterstützung der USA seien Mauern gebaut und Soldaten an die guatemaltekische Nordgrenze geschickt worden. Obwohl das nicht verhindert habe, dass die Menschen auf dieser Route reisen, gingen europäische Regierungen genau gleich vor, kritisiert Crua. "Sie schicken viel Geld in die Türkei oder geben es einem Diktator in Eritrea, damit die Leute auf der anderen Seite des Meeres bleiben."


Der EU-Deal: Wer kooperiert, erhält Handelsvorteile

Schon seit dem Frühjahr 2016 sorgt die Türkei dafür, dass Geflüchtete nicht mehr europäischen Boden erreichen. Dafür bekommt sie Gelder von der EU. Für viele Geflüchtete aus Syrien, Iran oder Afghanistan bedeutet dieser "Türkei-Deal", dass sie unter teils menschenunwürdigen Bedingungen perspektivlos in dem Land festhängen. Dennoch gilt die Abmachung als Blaupause für weitere Vereinbarungen. Derzeit verhandelt die EU mit Ländern wie Äthiopien, Libyen oder Eritrea.

Kriegsverbrecher wie der sudanesische Staatschef Omar Al Bashir sollen Geflüchtete an der Weiterreise hindern. Es geht um Mauern, Überwachungstechnik und Auffanglager. Wer kooperiert, erhält Handelsvorteile, wer nicht, dem könnten Entwicklungsgelder gestrichen werden. So will man die illegale Migration eindämmen. "Konkret heißt das zum Beispiel in Eritrea, dass Menschen dem Diktator ausgeliefert werden, vor dem sie eigentlich fliehen wollten", kritisiert Harald Glöde von der NGO borderline-europe.


USA hat Südgrenze geschlossen und schiebt massiv Menschen ab

Wer dennoch bis in die Nähe eines Mitgliedsstaats der Europäischen Union gelangt, muss damit rechnen, dass ihn Beamt*innen der EU-Grenzschutzagentur Frontex zurückweisen. Tausende Tote auf dem Mittelmeer sprechen für sich. Mit einem ähnlichen Projekt wartet die US-Regierung auf. Im Rahmen des Programms "Frontera Sur" liefert Washington der mexikanischen Regierung Geld und Ausrüstung. Mexiko soll im Gegenzug Arbeits- oder Schutzsuchende aus dem Süden stoppen.

"Die USA hat ihre Südgrenze geschlossen und betreibt zugleich eine Politik der Verfolgung und massiven Abschiebung", erklärt der Franziskanermönch Fray Tomás. "In Mexiko sagen wir: Wer zahlt, befiehlt." Und in der Migrationspolitik befehle die USA. Washington kontrolliere die Bewegungen und schließe die Grenzen. "Mit großer Scham muss ich sagen, dass einige Mexikaner die dreckige Arbeit Washingtons übernehmen", räumt der Geistliche ein. Im Jahr 2015 habe Mexiko mehr Mittelamerikaner abgeschoben als die USA selbst.

Fray Tomás erlebt täglich die Konsequenzen der Abschottung. Nahe der guatemaltekischen Grenze betreibt er eine Herberge für Migrantinnen und Migranten. Dort sind die Reisenden sicher vor den vielen Gefahren, die auf dem Weg drohen. Etwa hunderttausend Menschen sind in den letzten Jahren verschwunden. Einige werden von Mitgliedern des Kartells "Los Zetas" zu Prostitution oder illegaler Arbeit gezwungen, für andere fordern die Kriminellen Lösegeld. Immer wieder werden Gräber entdeckt, in denen Verschleppte verscharrt wurden.


"Das Problem ist global, und wir müssen es global lösen",

Seit 2006 kämpft eine Gruppe von Müttern verschwundener Frauen und Männer aus Mittelamerika mit einer Karawane dafür, dass aufgeklärt wird, was mit ihren Kindern passiert ist. Jedes Jahr ziehen sie durch Mexiko und suchen nach ihren Angehörigen. Marta Sanchez-Soler war von Anfang an dabei. Mittlerweile, so sagt sie, reisten nicht mehr nur Migranten aus Honduras, El Salvador oder Guatemala ein. Aus Brasilien seien 40.000 Menschen gekommen und wollten weiter in die USA, erklärt die Mitsiebzigerin. "Diese Leute sind von ganz unterschiedlicher Herkunft. Viele stammen aus Haiti und haben auf den Baustellen der Fußball-Weltmeisterschaft und der Olympiade geschuftet." Nun hätten sie keine Arbeit mehr und machten sich deshalb auf den Weg Richtung Norden. "Andere kommen aus afrikanischen Staaten oder Ländern wie Pakistan und Afghanistan. Auch sie versuchen, in die USA einzureisen, um dort Asyl zu beantragen", erklärt sie.

"Das Problem ist global, und wir müssen es global lösen", ist Sanchez überzeugt. Deshalb arbeitet sie mit Aktivistinnen und Angehörigen aus Italien, Tunesien, Südamerika und den USA zusammen. "Mit den Italienern verbindet uns eine besondere Beziehung. Sie hatten gehört, dass wir uns mit der Karawane auf der Route der Migranten bewegen", sagt sie. Seit 2013 werden nun zeitgleich Karawanen in Italien und Mexiko durchgeführt.

Rom 2015: Eine Gruppe von Frauen und einigen Männern sind vor die Botschaften Mexikos und Tunesiens gezogen. Tunesische und mittelamerikanische Mütter wollen wissen, was mit ihren Kindern passiert ist. Denn auch im Mittelmeerraum gibt es Verschwundene. "504 Familien aus Tunis suchen ihre Angehörigen. Sie besitzen Fotos und Fernsehaufnahmen, die ihrer Meinung nach beweisen, dass ihre Kinder in Sizilien ankamen und danach verschwanden", erklärt Aktivist Gianfranco Crua, der zu den Organisatoren solcher Aktionen zählt.


Illegalisierte Flüchtlinge in Italien schuften für einen Hungerlohn

Viele in Italien lebende Geflüchtete sind gezwungen, für einen Hungerlohn auf Orangen- oder Tomatenplantagen zu arbeiten. Wer sich illegal im Land aufhält, läuft große Gefahr, von Kriminellen abhängig zu werden. Crua verweist darauf, dass im Süden Italiens die organisierte Kriminalität sehr präsent ist. "In Sizilien, Kalabrien, Puglia und Campania kontrolliert sie wichtige Teile des Gebietes", sagt er. Die Mafia verdiene viel Geld mit Drogen, aber auch immer mehr durch den Menschenhandel. "Genauso wie die mexikanische Drogenmafia."

Längst arbeiten die mexikanischen Zetas und die kalabrische Mafiaorganisation 'Ndrangheta eng zusammen. Auch das ist ein Grund, sich gemeinsam für legale Einreisewege in die EU und die USA einzusetzen. Nur so kann der kriminellen und staatlichen Gewalt ein Ende gesetzt werden. Darauf verweisen auch die Menschen, die am Karfreitag 2015 vor einer Herberge im Süden Mexikos stehen, wie Hauke Lorenz in "Viacrucis Migrante" zeigt. "Ningún ser humano es ilegal", rufen sie: "Kein Mensch ist illegal."

Wer den Film "Viacrucis Migrante" sehen will, findet hier einen Veranstaltungskalender:
http://viacrucismigrante.com/events/

Zu diesem Artikel gibt es einen Audiobeitrag:
http://viacrucismigrante.com/events/


URL des Artikels:
https://www.npla.de/poonal/von-frontex-zur-frontera-sur/


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Quelle:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. November 2016

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