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MELDUNG/098: Informationswoche - Weltweiter Hungerstreik kurdischer Aktivisten (Civaka Azad)


Civaka Azad - Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V. - 25. März 2019

Informationswoche - Weltweiter Hungerstreik kurdischer Aktivisten


Seit mittlerweile 138 Tagen befindet sich die kurdische Politikerin Leyla Güven im Hungerstreik. Rund 7.000 politische Gefangene in der Türkei haben sich diesem Hungerstreik angeschlossen. Auch in Europa befinden sich dutzende Aktivistinnen und Aktivisten zum Teil seit fast 100 Tagen im Hungerstreik. Sie alle vereint die Forderung nach einem Ende der Isolationshaft des kurdischen Repräsentanten Abdullah Öcalan. Die Hungerstreikenden in der Türkei veröffentlichten jüngst eine Deklaration [1].

Zahlreichen Hungerstreikende befinden sich mittlerweile in einem kritischen Gesundheitszustand. Doch national wie international herrscht weitgehendes Schweigen über die Situation der Hungerstreikenden und ihren Forderungen. Wir als Civaka Azad - Kurdische Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit haben uns aus diesem Grund dazu entschieden, bis einschließlich Freitag eine Informationswoche durch zu führen, in deren Rahmen Hintergrundberichte, Stimmen aus der Zivilgesellschaft und aktuelle Entwicklungen zum laufenden Hungerstreik der interessierten Öffentlichkeit bereit gestellt werden sollen.

In dieser Woche werden wir täglich Pressemails mit den aktuellen Meldungen zum Hungerstreik an Sie senden*. Wir werden per Mail und telefonisch an Politikerinnen und Politiker auf Landes- und Bundesebene herantreten, um Sie dazu zu bewegen, zu diesem Thema aktiv zu werden. Wir werden den Kontakt zu der hiesigen Zivilgesellschaft und Kirchen suchen, um mit ihnen über die Situation der Hungerstreikenden sprechen. Und wir werden über unsere Social Media-Kanäle vielseitig über den Hungerstreik informieren.

Warum wir uns zu diesem Schritt entschieden haben? Das allgemeine Schweigen und die Untätigkeit im Fall der Hungerstreikenden haben tödliche Folgen. Um der Forderung der Hungerstreikenden "Nachdruck zu verleihen", beendeten innerhalb einer Woche die politischen Gefangenen Zülküf Gezen, Ayten Beçet und Zehra Sağlam aus Protest gegen die anhaltenden Haftbedingungen auf Imrali ihr Leben. Vor wenigen Tagen erlag auch der kurdische Aktivist Uğur Şakar seinen schweren Verletzungen, die er sich Ende Februar bei seiner Selbstverbrennung vor dem Gebäude des Krefelder Gerichts hinzugezogen hatte. Wir möchten daher einen Beitrag dazu zu leisten, dass dieses Schweigen durchbrochen wird. Wir sind fest davon überzeugt, dass internationale Aufmerksamkeit und politischer Druck die türkische Regierung dazu bewegen können, ihre ignorante Haltung gegenüber den Forderungen der Hungerstreikenden aufzugeben. Natürlich hoffen wir mit unserer Öffentlichkeitsarbeitskampagne auch, dass wir in den Medien und in der Politik Menschen erreichen, die sich diesem Thema annehmen und mit Berichten, Statements oder Erklärungen Sensibilität für dieses Thema schaffen. Unser Minimalziel ist, dass keiner der politisch Verantwortlichen in Deutschland letzten Endes sagen kann, er oder sie habe nichts von dem Hungerstreik der kurdischen Aktivistinnen und Aktivisten gewusst.


Anmerkung:
[1] https://anfdeutsch.com/aktuelles/deklaration-der-pkk-und-pajk-gefangenen-zum-hungerstreik-10287

*

Factsheet:
Zeit zum Handeln - Weltweiter Hungerstreik kurdischer Aktivisten
Warum ein Hungerstreik?

Hungerstreik als Mittel des politischen Protestes wird in Deutschland von vielen Menschen abgelehnt und stößt häufig auf Unverständnis. In der Geschichte der oppositionellen, demokratischen Bewegung in der Türkei haben Hungerstreiks allerdings Tradition. Sie werden oftmals aus Gefängnissen heraus gegen die Repressionen des Staates als letzte Protestmöglichkeit angewendet. Am 7. November 2018 begann die Abgeordnete der HDP (Demokratische Partei der Völker) und Ko-Vorsitzende des zivilgesellschaftlichen Zusammenschlusses DTK (Demokratischer Kongress der Völker), Leyla Güven, im Gefängnis von Amed (Diyarbakir) einen unbefristeten Hungerstreik. Die 54-jährige Politikerin fordert die Aufhebung der Isolation Abdullah Öcalans auf der Gefängnisinsel Imrali. Am 25. Januar 2019 wurde Leyla Güven aus dem Gefängnis entlassen. Sie setzt ihren Hungerstreik seither in ihrer Wohnung in Amed fort.

Leyla Güven hat eine Protestbewegung initiiert, der sich tausende Menschen angeschlossen haben. Da es in der Türkei keinerlei Raum mehr für offene politische Artikulation gibt, bleibt den politischen Aktivistinnen und Aktivisten nur noch der Versuch, durch einen unbefristeten Hungerstreik die internationale Öffentlichkeit wach zu rütteln und Druck auf die türkische Regierung aufzubauen, damit sie ihre eigenen Gesetze und internationalen rechtlichen Normen umsetzt.

Welche Forderung haben die Hungerstreikenden?

Die gemeinsamen Forderungen der Hungerstreikenden haben alle die Aufhebung der Totalisolation von Abdullah Öcalan zum Ziel. Am 22. März 2019 wurde eine Deklaration der politischen Gefangenen mit sieben Forderungen veröffentlicht. In der Deklaration wird deutlich gemacht, dass der Hungerstreik bis zur Erfüllung der Forderungen fortgesetzt wird:

1. Die aktuelle Gesetzgebung der Türkei besagt, dass unserem Vorsitzenden das Recht zusteht, regelmäßig den Besuch seiner Angehörigen zu empfangen. Dieses Recht darf nicht außer Kraft gesetzt werden.

2. Die regelmäßigen Visiten der AnwältInnen unseres Vorsitzenden auf der Gefängnisinsel Imrali müssen gestattet werden. Dieses Recht darf nicht ausgesetzt werden.

3. Im Rahmen der Gesetzgebung hat unser Vorsitzender das Recht mit seinen Familienangehörigen Telefongespräche zu führen. Auch steht ihm das Recht zu, Briefe und Faxe zu senden und zu empfangen. Diese Rechte dürfen nicht außer Kraft gesetzt werden.

4. Das Recht unseres Vorsitzenden Fernsehen zu schauen, Radio zu hören, Zeitungen, Zeitschriften und Bücher, die er wünscht, zu erhalten, darf in keiner Weise eingeschränkt werden.

5. Das regelmäßige Zusammenkommen unseres Vorsitzenden mit seinen Mithäftlingen darf nicht eingeschränkt werden.

6. Um die gesundheitliche Unversehrtheit unseres Vorsitzenden zu gewährleisten, müssen Bedingungen geschaffen werden, die seine regelmäßige Untersuchung durch unabhängige ÄrztInnengruppen erlauben.

7. Damit unser Vorsitzender seiner Rolle für eine demokratische und friedliche Lösung der kurdischen Frage und die Demokratisierung des Mittleren Ostens gerecht werden kann, müssen alle hierfür bestehenden Hindernisse aus dem Weg geräumt werden. Es müssen die Bedingungen für ein freies Leben und Arbeiten geschaffen werden.

Warum steht Abdullah Öcalan im Fokus des Hungerstreiks?

Der Vordenker der kurdischen Befreiungsbewegung, Abdullah Öcalan, befindet sich seit seiner völkerrechtswidrigen Verschleppung im Februar 1999 auf der türkischen Gefängnisinsel Imrali. Elf Jahre war er der einzige Häftling auf der Insel - bewacht von mehr als tausend Soldaten. Der letzte Besuch seiner Anwälte fand am 27. Juli 2011 statt. Somit wird ihm seit fast acht Jahren jeglicher Rechtsbeistand verwehrt. Öcalan hält den "Europa-Rekord" für Haft ohne Zugang zu Anwälten. Nach dem letzten Familienbesuch am 11. September 2016 war sein Bruder Mehmet Öcalan erstmalig wieder am 12. Januar 2019 für ein 15-minütiges Gespräch auf Imrali. Öcalans Freiheit ist essentiell für eine friedliche und politische Lösung der kurdischen Frage. Der Umgang des türkischen Staates mit Abdullah Öcalan ist immer ein Spiegelbild für seine Politik gegenüber der kurdischen Bevölkerung. Bevor die Friedensgespräche zwischen Herrn Öcalan und Vertretern des türkischen Staates Ende Juli 2015 endgültig für beendet erklärt wurden, setzte die AKP bereits im April 2015 auf die erneute Totalisolation Öcalans. Auf die Isolationshaft seit dem 5. April 2015 folgte ein umfassender Krieg des türkischen Staates in den Städten Nordkurdistans.

Öcalan ist weiterhin sehr einflussreich. Er wird als die Stimme des Friedens anerkannt und gilt als legitimer Sprecher für die kurdische Gesellschaft. Der Hungerstreik zielt auf ein Ende der Isolation Öcalans, damit er sich wieder für den Frieden in der Türkei und dem Mittleren Osten einsetzen kann.

Wie viele Personen befinden sich im Hungerstreik?

7. November 2018: Leyla Güven beginnt ihren Hungerstreik im Gefängnis von Amed. Sie setzt den Hungerstreik seit ihrer Freilassung in ihrer Wohnung fort.

16. Dezember 2018: 331 politische Gefangene aus 67 verschiedenen türkischen Gefängnissen schließen sich dem Hungerstreik an.

21. November 2018: Das HDP-Mitglied Nasir Yağiz tritt in Hewlêr (Südkurdistan/Nordirak) in den Hungerstreik.

17. Dezember 2018: 14 kurdische politische Aktivistinnen und Aktivisten, darunter auch der Ko-Vorsitzende des europaweiten kurdischen Dachverbandes "Kongress der kurdischen demokratischen Gesellschaft Kurdistans in Europa" (KCDK-E) Yüksel Koç, die ehemalige HDP-Abgeordnete Dilek Öcalan und die Journalistin Gülistan İke beginnen einen Hungerstreik in Straßburg (Frankreich).

17. Dezember 2018: Der kurdische Aktivist İmam
Şiş tritt in Wales in den Hungerstreik.

13. Januar 2019: Der kurdische Aktivist Yusuf İba tritt in Toronto (Kanada) in den Hungerstreik.

13. Januar 2019: Der kurdische Aktivist Mustafa Tuzak tritt in Duisburg (Deutschland) in den Hungerstreik.

15. Januar 2019: Die HDP-Abgeordnete und Ko-Vorsitzende des "Demokratischen Partei der Regionen" (DBP) Sebahat Tuncel und die ehemalige HDP-Abgeordnete Selma Irmak treten im türkischen Gefängnis Kandira in den Hungerstreik.

27. Januar 2019: Der kurdische Aktivist Şiyar Xelil tritt in Nürnberg (Deutschland) in den Hungerstreik.

19. Januar 2019: Der kurdische Aktivist Hüseyin Yİldİz tritt in Den Haag (Niederlanden) in den Hungerstreik.

20. Januar 2019: Der kurdische Aktivist Hasbi Çakici tritt in Den Haag (Niederlanden) in den Hungerstreik.

29. Januar 2019: Die kurdischen Aktivisten Ömer Bağdur und Cemal Kobanê treten in Kassel (Deutschland) in den Hungerstreik.

1. Februar 2019: Die kurdischen Aktivisten Şivan Ağaoğlu und Sultan Yiğit treten in Wien in den Hungerstreik.

20. Februar 2019: Der kurdische Aktivist Mehmet Ali Koçak tritt in Genf (Schweiz) vor dem Sitz der Vereinten Nationen in den Hungerstreik.

1. März 2019: Der Hungerstreik wird auf alle türkischen Gefängnisse ausgeweitet. Damit befinden sich laut Medienberichten ca. 7000 politische Gefangene in den Gefängnissen im Hungerstreik.

3. März 2019: Die HDP-Abgeordnete Dersim Dağ und die HDP-Mitglieder Salih Cansever, ısmet Yİldİz, Sevican YaŠar, Salih Tekin und Bilal Özgezer treten in den Hungerstreik.

8. März 2019: Die beiden HDP-Abgeordneten Tayip Temel und Murat Sarisaç sowie die HDP-Mitglieder A. Halik Kurt und Yusuf Ataş treten in den Hungerstreik.

14. März 2019: Die AktivistInnen Nahide Zengin, Mehmet Sait Yİlmaz und Ali Poyraz treten in London in den von der kurdischen HDP-Politikerin Leyla Güven initiierten Hungerstreik.

Wie ist die Resonanz auf den Hungerstreik?

Während sich der türkische Staat bemüht alle öffentlichkeitswirksamen Aktionen zum Hungerstreik gewaltsam zu unterbinden, herrscht in Europa überwiegend Schweigen. Es werden immer mehr Menschen, die sich dem Hungerstreik anschließen, jedoch mangelt es an einer öffentlichen und politischen Wahrnehmung. Obwohl auch die kurdische Community in Deutschland und hierbei vor allem die Familienangehörigen der Hungerstreikenden betroffen sind und es hunderte Protestaktionen in Deutschland zum Hungerstreik gab, findet der Appell in den deutschen Medien kaum Wiederhall. Auf zahlreiche Anfragen an die Bundesregierung antwortete diese sehr ausweichend. Während weltweit zahlreiche bedeutende VertreterInnen der Zivilgesellschaft, u.a. 50 NobelpreisträgerInnen, ihre Solidarität mit dem Hungerstreik bekundet haben, blieben konkrete politische Maßnahmen der Regierungen bisher aus.

Handlungsvorschläge an die deutsche Zivilgesellschaft und Politik

Als Civaka Azad - Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V. sind wir darum bemüht die Forderungen der Hungerstreikenden und der kurdischen Community in Deutschland in die Öffentlichkeit zu tragen, die seit Monaten ihren Protest und ihre Solidarität durch Kundgebungen und Demonstrationen tagtäglich kundtun. Wir sind dabei eine Art Brücke zwischen den kurdischen Community in Deutschland und der deutschen Öffentlichkeit und Politik.

Die Bundesregierung bezog am 16. Januar mit folgenden Worten Stellung zu der Frage, in wieweit sie sich mit den Hungerstreikenden befasst: "In seinem Bericht aus dem vergangenen Jahr äußert das Antifolter-Komitee klare Kritik an der Abschottung der auf Imrali Inhaftierten. Die türkische Regierung wird darin aufgerufen, Besuche von Verwandten und des Rechtsbeistands zu ermöglichen und Beschränkungen des Umgangs der Häftlinge untereinander abzubauen. Die Bundesregierung begrüßt diese Forderungen."

Seit dieser Stellungnahme sind über zwei Monate vergangen, in denen die Bundesregierung und das Auswärtige Amt offensichtlich keinerlei Anstrengungen unternahmen, Druck auf die Türkei zur Erfüllung der Forderungen nach Aufhebung der Isolation Öcalans auszuüben. Aufgrund der strategischen Partnerschaft zwischen den beiden Ländern hat die deutsche Bundesregierung reale Möglichkeiten diese Forderungen gegenüber der Türkei stark zu machen.

In diesem Sinne möchten wir einige konkrete Handlungsvorschläge für die Öffentlichkeit und Politik in der Bundesrepublik nennen:

• Die Zivilgesellschaft in der Bundesrepublik ist dazu aufgerufen, Verständnis und Empathie für Forderungen der kurdischen Community in Deutschland zu entwickeln. Es gilt anzuerkennen, dass Medien und Politik, aber auch zivilgesellschaftliche Akteure noch zu häufig Perspektiven vertreten, die sich nicht deutlich genug von denen der deutschen Bundesregierung abgrenzen.

• Die deutschsprachigen Medien könnten mit einer Berichterstattung über die Hungerstreikaktionen sowie die Forderungen und Beweggründe der Beteiligten eine Rolle zur differenzierten öffentlichen Wahrnehmung der Proteste spielen.

• Die zivilgesellschaftlichen Organisationen (Stiftungen, Gewerkschaften, Kirchen, Dachverbände etc.) laden wir dazu ein, Delegationen in die Türkei zu entsenden, um die Haftbedingungen der Hungerstreikenden zu dokumentieren und die Einhaltung internationaler Verträge sowie der Menschenrechte zu überprüfen.

• Zivilgesellschaftliche Organisationen als auch einzelne Verantwortungsträger können mithilfe von Appellen, Aufrufen und Stellungnahmen die Bundesregierung dazu animieren, Druck auf die türkische Regierung aufzubauen, damit diese den Forderungen der Hungerstreikenden entgegen kommt.

• Künstlerinnen und Künstler könnten sich mit kreativen Projekten für die Durchsetzung der Forderungen der Hungerstreikenden einsetzen und auf diese Aufmerksam machen.

• Die Bundesregierung und die Verantwortlichen in der EU, im Europarat und dem Komitee zur Verhütung von Folter (CPT) sollten eine positive Rolle spielen und Druck auf die türkische Regierung ausüben, damit diese die Menschenrechte einhält und den Forderungen der Hungerstreikenden entspricht.

• Darüber hinaus kann die deutsche Bundesregierung als führendes Mitglied des Rats der Europäischen Union auf diesen einwirken, damit die Türkei zur Einhaltung internationalen Rechts bewegt wird.

• Die deutsche Bundesregierung könnte den türkischen Botschafter einbestellen, um ihm ihre Besorgnis über die menschenrechtliche Lage in der Türkei mitzuteilen.

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Quelle:
Civaka Azad - Kurdisches Zentrum für Öffentlichkeitsarbeit e.V.
Residenzstraße 54, 13409 Berlin
Tel.: 030/91446137
E-Mail: info@civaka-azad.org
Internet: www.civaka-azad.org


veröffentlicht im Schattenblick zum 27. März 2019

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