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INTERNATIONAL/109: Leben im großen Käfig - Palästinenser in Ostjerusalem (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 17. Oktober 2012

Nahost: Leben im großen Käfig - Palästinenser in Ostjerusalem

von Pierre Klochendler


Blick auf die Mauer vom Hausdach der Shuruf - Bild: © Pierre Klochendler/IPS

Blick auf die Mauer vom Hausdach der Shuruf
Bild: © Pierre Klochendler/IPS

Ar-Ram, Ostjerusalem, 17. Oktober (IPS) - Ali Shuruf hat ein farbenfroh eingerichtetes Wohnzimmer. Umso öder ist der Anblick der grauen, acht Meter hohen Sperranlage, die sich vor dem Fenster aufbaut, Ostjerusalem umschließt und Palästinenser von Israelis trennt. "Vom Wohnzimmer, von der Küche und von der Terrasse sieht man nur das eine: die Mauer", so der erfolgreiche palästinensische Bauunternehmer. "Wir sitzen hier wie Vögel im Käfig."

Vom Dach des dreistöckigen Hauses, das er mit seinen Brüdern gebaut hat, deutet er in Richtung der Lichter jenseits der östlichen Seite der Sperranlage: "Hier verläuft die Trennlinie zwischen Arabern und Juden", sagt er. "Die Freiheit ist hier zu Ende."

Neve Ya'akov, das angrenzende jüdische Viertel, liegt wie Ar-Ram innerhalb der Stadtgrenzen Jerusalems, allerdings innerhalb des Mauerrings. Das palästinensische Viertel befindet sich davor.

Nachdem Israel 1967 Ostjerusalem eroberte, wurden dort im Zuge der Stadtplanung Begegnungsstätten, Geschäfte, Krankenhäuser, Sportzentren, Schulen, Synagogen und Spielplätzen gebaut. Die Wohnprojekte waren für die jüdische Bevölkerung bestimmt. Da Viertel wie Neve Ya'akov in dem besetzten Teil der Stadt liegen, wurde ein Schutzwall errichtet. "Früher haben wir zusammen Fußball gespielt. Jetzt sind wir voneinander getrennt", berichtet Fadhi Hijazi, ein Freund der Shuruf-Familie.

Der Trennwall wurde vor dem Hintergrund des Palästinenseraufstands von 2000 bis 2005 als Schutz vor Selbstmordattentaten gebaut. Zehn Jahre später verläuft eine 142 Kilometer lange Barriere um den größten Teil Ostjerusalems herum. Nur auf einer Länge von vier Kilometern folgt die Mauer der vor 1967 vereinbarten Waffenstillstandslinie. Israelische Soldaten bewachen auf beiden Seiten der Mauer Kontrollpunkte, von denen keiner auf der Waffenstillstandslinie liegt.

Die neue Grenze aus Beton trennt nicht nur jüdische Viertel von Städten und Dörfern im Westjordanland. Sie hat auch palästinensische Viertel durchschnitten, die innerhalb der Stadt liegen. Viele Palästinenser wie Shuruf, die auf der anderen Seite der Mauer leben, haben zwar blaue israelische Anwohnerausweise, kommen damit aber nicht nach Jerusalem hinein.


Eine Stunde vom Nachbarn getrennt

"Will ich meinen direkten Nachbarn besuchen, brauche ich eine Stunde", beschwert sich Shuruf. Die Mauer beschneide nicht nur die Bewegungsfreiheit vieler Palästinenser, sondern sei Teil einer Politik, die erreichen wolle, dass Juden weiterhin die Bevölkerungsmehrheit in Jerusalem bildeten. In Ostjerusalem leben derzeit etwa 200.000 Israelis und 300.000 Palästinenser. Ganze arabische Viertel wurden jedoch durch die Mauer von der Stadt abgetrennt.

"Die Mauer ist rassistisch und schürt Hass", schimpft Muhammad Turman, Shurufs Schwager. "Die Israelis sind nicht das Problem, wir könnten in Frieden miteinander leben. Das Problem sind diejenigen, die die Kontrolle über die Stadt haben."

Das 10.000 Einwohner zählende Viertel Ar-Ram liegt auf der Straße nach Ramallah im Westjordanland. Diejenigen, die die Familie Shuruf aus dem inneren Mauerkreis erreichen wollen, haben einen mühevollen Weg vor sich. Entweder müssen sie durch den jüdischen Vorort Pisgat Ze'ev über den Checkpoint Hizme fahren oder der Mauer zehn Kilometer lang in eine Richtung folgen, um dann zu wenden und auf der anderen Seite des Walls wieder zurückzufahren.

"Wir können keine städtischen Dienstleistungen für Gesundheit und Bildung in Anspruch nehmen, obwohl sie uns eigentlich zustehen", erläutert Shuruf. Seine Kinder musste er an einer schlechteren Schule anmelden, weil sie nicht auf die andere Seite der Mauer kommen.

Die palästinensischen Viertel leiden ohnehin schon unter den Folgen der Vernachlässigung, und die Mauer hat die sozio-ökonomische Notlage der dort lebenden Menschen weiter verschärft. Nach Angaben der Vereinigung für Bürgerrechte in Israel sind 78 Prozent der palästinensischen Einwohner von Ostjerusalem - und 84 Prozent der Kinder - arm. Rund 40 Prozent aller Männer und 85 Prozent der Frauen sind arbeitslos.

Als Shuruf vor zwei Jahren einen schweren Schlaganfall erlitt, wollte ihn der israelische Krankenwagen "aus Sicherheitsgründen" nicht mitnehmen, wie Hijazi berichtet. Vom Roten Halbmond sei ebenso keine Hilfe gekommen, weil dieser seinen Sitz in einem von Israel kontrollierten Gebiet habe. So brachte ihn die Familie selbst in das nächstgelegene israelische Hospital.

Die in den neunziger Jahren geschlossenen Osloer Friedensabkommen teilten das Westjordanland in drei Zonen: A (unter palästinensischer Verwaltung), B (unter israelischer Sicherheitskontrolle und palästinensischer Gemeindeverwaltung) und C (unter vollständiger israelischer Kontrolle). Ostjerusalem, das de facto von Israel annektiert worden war, wurde in den Abkommen nicht berücksichtigt.


Leben in der Grauzone

Die Palästinenser, die in Vororten wie Ar-Ram leben, befinden sich weiterhin in einer unklaren Lage - in 'Zone B13', wie Jugendliche auf Wände geschrieben haben. Die Mauer durchtrennt wichtige Verbindungen zwischen Ostjerusalem und den palästinensischen Wirtschaftszentren im Westjordanland wie Bethlehem im Süden und Ramallah im Norden. Früher war Ostjerusalem ein Drehkreuz für das Westjordanland, doch inzwischen kommen Palästinenser ohne israelische Genehmigung nicht mehr hinein. "Unser Leben spielte sich in Jerusalem ab, nicht im palästinensischen Teil", sagt Hijazi.

Wenn die Mauer auch ursprünglich das Ziel verfolgte, Palästinenser von Jerusalem abzuschneiden, erreicht sie inzwischen das Gegenteil. Die Menschen bewegen sich nach Israel hin, weil sie arbeiten, kommunale Dienstleistungen in Anspruch nehmen und nicht stundenlang an Kontrollpunkten warten wollen.

Shuruf zahlt zwar israelische Gemeindesteuern und andere Abgaben, hat aber vorsichtshalber ein weiteres Haus in Jerusalem gemietet, um seinen Ausweis zu behalten und in der Stadt zum Arzt gehen zu können. Dieses Privileg war früher eine Selbstverständlichkeit, als Shuruf vor dem Mauerbau noch als Bewohner von Jerusalem galt. (Ende/IPS/ck/2012)


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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Oktober 2012