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INTERNATIONAL/086: Libyen - Milizen kontrollieren Teile des Landes, Morde und Folter an der Tagesordnung (IPS)


IPS-Inter Press Service Deutschland gGmbH
IPS-Tagesdienst vom 17. Juli 2012

Libyen: Milizen kontrollieren Teile des Landes - Morde und Folter an der Tagesordnung

von Mel Frykberg

Wohnviertel von Minderheiten werden Angriffsziele von Rebellen, die gegen das Gaddafi-Regime gekämpft haben - Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Wohnviertel von Minderheiten werden Angriffsziele von Rebellen, die gegen das Gaddafi-Regime gekämpft haben
Bild: © Karlos Zurutuza/IPS

Tripolis, 17. Juli (IPS) - Die Menschenrechtslage in Libyen hat sich nach Einschätzung unabhängiger Beobachter seit dem Ende der Diktatur von Machthaber Muammar al-Gaddafi weiter verschlechtert. Milizionäre haben in weiten Teilen des Landes ihre eigenen Gesetze eingeführt.

"Mindestens 20 Menschen sind seit der Revolution im Militärgewahrsam totgeprügelt worden - und das sind konservative Schätzungen", sagt Nasser al-Hawary vom Libyschen Observatorium für Menschenrechte.

Hawary zeigt Fotos grässlich zugerichteter Menschen, die ihm deren Familienangehörige gegeben haben. Die Opfer wurden von Milizionären getötet, die seit Gaddafis Sturz weite Teile des nordafrikanischen Landes unter Kontrolle haben. Der Aktivist geht davon aus, dass die Dunkelziffer noch viel höher ist.

Zu Zeiten von Gaddafi war Hawary, ein ehemaliger Anhänger der Salafisten, überzeugter Gegner des Regimes. Von der Geheimpolizei wurde er mehrmals festgenommen und inhaftiert. Trotz aller ihm zugefügten Misshandlungen überstand Hawary die Gefängnisaufenthalte, ohne dass sein Wille gebrochen wurde.

Noch schlimmer erging es Freunden, die Islamisten waren und von Gaddafis Schergen daher gnadenlos verfolgt wurden. Hawary selbst gelang schließlich die Flucht nach Ägypten, wo er bis nach dem Umsturz blieb.


Milizen haben es auf Schwarze abgesehen

Doch auch nach der 'Befreiung' Libyens kommt es weiterhin zu Vergeltungsangriffen, Morden und Entführungen. Die Ex-Rebellen haben es nicht nur auf Gaddafi-Getreue, sondern auch auf Schwarze abgesehen, die verdächtigt werden, während des Krieges als Söldner auf der Seite des Diktators gekämpft zu haben.

Vor einigen Monaten wurde der 28-jährige Muhammad Dossah von bewaffneten Milizionären an einem Checkpoint in der nordlibyschen Stadt Misrata verschleppt. Er war auf dem Weg von Ras al-Amoud in die Hauptstadt Tripolis, um ein Fahrzeug seines Arbeitsgebers 'Forrester Oil' zu überführen.

"Ich weiß nicht, ob er noch lebt oder tot ist", sagt sein Bruder Hussam Dossah. "Seit seinem Verschwinden haben wir nichts mehr von ihm gehört. Die Polizei hat inzwischen seine Spur verloren." Zuvor war das Auto in mehreren Städten im Osten des Landes gesehen worden. "Möglicherweise wurde er entführt, weil er schwarz ist", meint Dossah. "Oder die bewaffneten Männer wollten sein Auto. Wir sind alle Libyer, nur mein Vater stammt aus dem Tschad."

Dossahs Geschichte ist kein Einzelfall. Verschleppungen, willkürliche Tötungen, Folter und Raubüberfälle sind in dem Land an der Tagesordnung. Zudem sind trotz anderslautender Zusicherungen des nach dem Sturz Gaddafis eingesetzten Nationalen Übergangsrats weiterhin mehr als 6.000 Menschen in Haft, die entweder auf ein Verfahren oder die Freilassung warten. Die Gräueltaten der Rebellen bleiben hingegen ungesühnt.

Bewaffnete Milizionäre überwachen die Straßen und setzen ihre Vorstellungen von Recht und Ordnung um. Dies ist selbst in den großen Städten der Fall, über die der Übergangsrat angeblich die Kontrolle gewonnen hat.

Auch in Tripolis ist in den Nächten und manchmal auch am Tag Gewehrfeuer zu hören. "Alle jungen Männer haben hier Waffen", berichtet der ehemalige Rebellenkämpfer Suheil al-Lagi. "Sie sind es gewohnt, politische Differenzen und kleinere Streitigkeiten auf diese Weise auszutragen. Oder sie rauben andere Menschen mit Waffengewalt aus. Die hohe Arbeitslosigkeit und die materielle Not verschärfen die Lage."

Außerhalb von Tripolis ist die Situation noch wesentlich schlimmer. Unrasierte, zerlumpte Milizionäre, die in zusammengewürfelten Uniformen herumlaufen, erpressen häufig Geld von Leuten, die ihre Checkpoints passieren. Ausländer und Schwarze gehören zu ihren bevorzugten Opfern.


Rivalisierende Banden erpressen Geld

Diejenigen, die über den Grenzübergang Salloum von Ägypten nach Libyen kommen, müssen Dutzende Kontrollpunkte der Milizen überwinden. Oftmals handelt es sich um Anhänger rivalisierender lokaler Clans.

An einem Checkpoint in Misrata entschied ein bärtiger Milizionär, dass alle Ausländer einen AIDS-Test machen müssten, bevor sie ihre Ausweise zurückbekämen. An mehreren Kontrollpunkten in der Umgebung von Tobruk wurden ägyptische Wanderarbeiter dazu gezwungen, für die Rückgabe ihrer Pässe Schmiergelder von bis zu 30 US-Dollar zu zahlen.

"Wir sind uns der Probleme in unserem Land bewusst und versuchen sie zu lösen", sagt Hassan Issa, der in der Stadt Ajdabia dem Übergangsrat angehört. Ein anderes Mitglied des Rats räumte ein, dass es nicht einfach sei, alle Gruppen unter Kontrolle zu bringen. "Das ist nicht das neue Libyen, für das wir gekämpft haben", beklagt Ex-Rebell al-Lagi. "Vielleicht müssen wir wieder zu den Waffen greifen, wenn Korruption und Gier weiter fortbestehen." (Ende/IPS/ck/jt/2012)


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http://www.ipsnews.net/2012/07/human-rights-worse-after-gaddafi/

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veröffentlicht im Schattenblick zum 18. Juli 2012