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STANDPUNKT/096: Fürchtet euch besser doch!? (Ingolf Bossenz)


Fürchtet euch besser doch!?

Die Verkündigung des Engels, die Schlacht von Adrianopel und die Botschaft der Betonblöcke.

Von Ingolf Bossenz, Dezember 2017


Der HERR schickte seinen besten Mann. Zumindest, wenn man der seinerzeit üblichen maskulinen Zuordnung dieser numinosen Geistwesen, Boten und Künder folgt. Die Alternative war das Geschlechtslose, das Weibliche blieb eher selten. Wie auch immer: Es war »des HERRN Engel«, der - so das Lukas-Evangelium - zu den Hirten trat, die sich »sehr« fürchteten. Denn »die Klarheit des HERRN leuchtete um sie«. »Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der HERR, in der Stadt Davids.«

Und die Hirten überwanden ihre Furcht, gingen »gen Bethlehem« und »fanden beide, Maria und Joseph, dazu das Kind in der Krippe liegen«. Warum waren die Hirten dem HERRN so wichtig, dass er ihnen seinen Engel sandte, um ihre Ängste zu zerstreuen und sie zu bewegen, den Ort des Geschehens der Heiligen Nacht aufzusuchen? Der Evangelist gibt die Antwort: »Da sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, welches zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. ... Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott um alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.« (Lk 2,8-20)

Die Hirten, so war demnach der Plan Gottes, sollten Zeugnis ablegen von dem Welt und Zeit zerwirbelnden Ereignis in einem Dorf Judäas am Rande des römischen Imperiums. In einer agrarisch ausgerichteten Gesellschaft, in der große Viehherden Prosperität sicherten, waren Hirten Hüter, Wahrer und Mehrer dieses Wohlstands. Sie galten als bodenständigehrbare Vertrauenspersonen, deren Wort von besonderem Wert und Gewicht war. Der Hirte als Metapher für den verlässlich und zuverlässig Leitenden und Führenden - Jesus war der »Gute Hirte« - hat im christlich-pastoralen Kontext nie seine zentrale Stellung verloren. Diese treuen Arbeiter, die auch des Nachts für den Zusammenhalt ihrer Herde sorgten und sie vor Gefahren schützten, waren zweifellos bestens beleumundete Zeugen für die Kundgebung des Wunderbaren der Heiligen Nacht - glaubwürdig und gewissenhaft.

Doch die Hirten fürchteten sich zunächst, da »die Klarheit des HERRN« um sie leuchtete. Es handelte sich offenbar um ein mystisch-spirituelles Erleben, eine Gotteserfahrung, die sie nicht einordnen noch einschätzen konnten, da sie ihnen neu, unbekannt, fremd war und sie deshalb besorgte. Doch dem Engel, der die Hüter der Herden als Multiplikatoren der Massen gewinnen musste, gelang es, die Ängste zu zerstreuen, indem er »große Freude« verkündigte, gespeist aus der Geburt des »Heilands«.

Die Heilige Familie wurde gewarnt und konnte sich - gelobt sei der Ratgeber Angst - rechtzeitig in Sicherheit bringen. Und rettete damit Weihnachten.

Neben den zahlreichen sakralen und auch profanen Aspekten, die der Weihnachtsgeschichte des Lukas eignen, haben wir es in diesem Stück religiöser Reflexion mit einem klassischen Paradigma der Propaganda zu tun, das bis heute funktioniert: Ein Mächtiger (der HERR) will eine Botschaft verbreiten. Er beauftragt seine Subalternen (Engel), die Botschaft an entsprechend zuverlässige Multiplikatoren (Hirten) interessant und glaubhaft zu vermitteln, damit diese die Botschaft mit Überzeugung - ihrer Überzeugung - der finalen Zielgruppe (»allem Volk«) implementieren. Man versteht, was Nietzsche meinte, als er schrieb: »Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen.« Jedenfalls machte der Engel den Weg frei für die himmlische Botschaft, indem er die Hirten von ihrer Furcht befreite.

Die Welt, so viel ist klar, war schon immer eine furchterregende. Und eine, deren Wächter und Wahrer (wahre und vermeintliche) des Abwiegelns nicht müde wurden. Ein Blick in Altes und Neues Testament zeigt einen biblischen Ballungsraum der Beschwichtigungen. Der eifrige und aufmerksame Leser trifft daselbst auf Dutzende von »Fürchtet euch nicht ...«. Wovor auch immer: »vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können« (Mt 10,28); »vor ihrem Drohen« (1Petr 3,14); »vor den Drohungen des Frevlers« (1Mak 2,62); »vor ihrer großen Menge und vor ihrem Ansturm« (1Mak 4,8); vor »anderen Göttern« (2Kön 17,38).

Doch die Heilige Schrift lässt auch keinen Zweifel aufkommen, wem veritable Furcht zu jeder Zeit und Gelegenheit zu gelten hat: Gott, dem HERRN. Gottesfurcht oder »die Furcht des HERRN«, wie es bei Hiob (28,28) heißt, überstrahlt machtvoll das Dasein des unten wimmelnden Gezwerges und verweist dessen sonstiges Gefürchte ins Minderrangige. Fürchte das/den/die da oben und du bist gerechtfertigt vor Gott: Insbesondere mit Luthers Reformation fraß sich dieser Wahn, symbiotisiert mit einem zuinnersten Schuldkomplex, tief in die politischen Eingeweide des Abendlandes. Eine solche, ethnopsychologisch verfestigte sakrale Sozialisierung über Generationen zeigt sich hierzulande unter anderem in der rastlosen Suche von Individuum und Volk nach immer neuer, immer umfassenderer Schuld, eigener und kollektiver: an den Katastrophen der Geschichte, am Elend der Welt, an den Defekten des Menschlichen. Ehr-Furcht nach oben und Selbst-Anklage nach innen - das sind die unverzichtbaren Agenzien jeder Be-HERRschung. Damit diese stabil funktioniert, darf das Fürchten allerdings nicht willkürlich wabern und die Sinne vernebeln oder gar in gefährliches Trachten führen. Deshalb werden Inhaber der Macht sowie jene, die das gern wären, über ihre Medien und Multiplikatoren immer die Definitionshoheit beanspruchen, was zu fürchten und was tunlichst nicht zu fürchten ist.

Im 376. Jahr nach jener von der »Klarheit des HERRN« erleuchteten Nacht in Bethlehem kam es im Römischen Reich zu einem Ereignis, dessen Folgen ebenso erschütternd wie die der Geburt des Heilands zum Untergang des als ewiglich geltenden Machtgebildes beitragen sollten: Auf der Flucht vor den Horden der Hunnen erschienen an der Donaugrenze des Imperiums gotische Verbände. Man gewährte ihnen - in Abkehr von bisheriger römischer Politik - bereitwillig Aufnahme, weil Kaiser Flavius Valens »diese entwurzelte Menschenflut als große Bereicherung betrachtete«. So der britische Historiker Peter Heather in seinem 2005 erschienenen Buch »Der Untergang des Römischen Weltreichs«. Skeptiker und Warner wurden abgebügelt. Es galt - wieder einmal - die Parole »Fürchtet euch nicht«. Heather zitiert den spätantiken römischen Historiker Ammianus Marcellinus: »Die Angelegenheit erweckte mehr Freude als Furcht, und kultivierte Schmeichler priesen das Glück des Fürsten, das ihm unverhofft so viele junge Rekruten vom Ende der Erde beschert habe, mit überschwänglichen Worten.«

Doch »die Angelegenheit« ging gründlich schief. Roms Inkompetenz und Kurzsicht, politische Falschwertungen und militärische Fehleinschätzungen, ungeschützte Reichsgrenzen und innere Unruhen führten zum sogenannten Gotenkrieg, der 378 in der Schlacht von Adrianopel kulminierte, in der 20.000 Kämpfer fielen (einschließlich Kaiser Valens) und Roms Truppen die schwerste Niederlage gegen germanische Verbände seit der Arminiusschlacht im Jahr 9 n. Chr. erlitten. Es war zweifellos ein Fall jener von Karl Marx erwähnten »geschichtlichen Ironie«, bei der »fromme Wünsche in ihrer Realisation ins grade Gegenteil umschlagen«.

Warum diese vor über anderthalb Jahrtausenden stattgehabten Ereignisse gerade jetzt wieder von diversen, durchaus diametralen, Seiten einer eindringlichen Exegese unterzogen werden - kategorische Konsequenzen oder dezidierte Dementis inklusive -, bedarf keiner expliziten Erklärung. Allerdings sind solche historischen Pseudo-Parallelen für die aktuelle Lage ebenso wenig erkenntnis- und hilfreich, wie es der gebetsmühlenhafte Verweis auf einstige europäische Migrationsbewegungen ist, so auf die Einwanderung von französischen Hugenotten nach Preußen im 17. Jahrhundert oder die von Polen ins Ruhrgebiet im 19. Jahrhundert.

Indes: Gerade angesichts gänzlich anderer und anders zu bewertender ethnischer, religiöser, politischer, ökonomischer und sozialer Konditionen und Konstellationen der neuen Großen Wanderung überrascht das forsche »Fürchtet euch nicht«, das in verschiedenster Verpackung vom medialen Hauptstrom in die Kanäle der veröffentlichten Meinung gedrückt wird. Unangemessen, ja, grundlos (in zweifacher Hinsicht) sei die Angst - vor: steigender Kriminalität, sinkender Sicherheit, importiertem Antisemitismus, sukzessiver Islamisierung, schrumpfenden Sozialkassen, Parallelgesellschaften und No-go-Zonen. Und immer davor: das Epitheton »angeblich«. Als Konsequenz aus offenen Staatsgrenzen werden Boulevards und Weihnachtsmärkte mit Placebo-Pollern umstellt, eine gleichsam in Beton gegossene Botschaft: Wir schaffen das! Wer Gegenteiliges verlautbart, gehört - bestenfalls - zu den Kleinmütigen, Besorgten, Ängstlichen. Schlimmstenfalls: zu den einer klandestinen Strategie folgenden Angstmachern, den erklärten Feinden des globalen Humankollektivs.

Die Gemeinplätze über die Angst sind Legion, über ihre Gründe und Abgründe, ihre Formen und Folgen, ihre Lehrkraft und Kraftleere. Einer davon ist der neuerdings wieder politische Weihen genießende Plattsatz, Angst sei ein schlechter Ratgeber. Hätten seinerzeit die Bewohner Bethlehems, statt sich nach der Verkündigung »großer Freude« in geradezu göttlicher Simplizität sicher zu wähnen, umgehend alle Säuglinge männlichen Geschlechts vor den Häschern des Herodes versteckt, wäre das biblisch bezeugte Massaker an diesen Kindern wohl verhindert worden. Der Despot von Roms Gnaden wollte gewährleisten, den neugeborenen »König der Juden« als möglichen Machtkonkurrenten zu eliminieren. Doch die Heilige Familie, und nur diese, wurde von oben (durch einen Engel, der Joseph im Traum erschien) gewarnt. Sie konnte sich - gelobt sei der Ratgeber Angst - rechtzeitig in Sicherheit bringen. Und rettete damit Weihnachten.

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Quelle:
Ingolf Bossenz, Dezember 2017
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.
Erstveröffentlicht in Neues Deutschland vom 23./24. Dezember 2017
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1074216.fuerchtet-euch-besser-doch.html


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Dezember 2017

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