Schattenblick →INFOPOOL →RELIGION → CHRISTENTUM

KIRCHE/798: Statement Zollitsch - Anmerkungen zum Vermächtnis der deutschen Einheit (DBK)


Pressemitteilungen der Deutschen Bischofskonferenz vom 24.09.2009

Statement von Erzbischof Dr. Robert Zollitsch (Freiburg), Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, anlässlich des Pressegesprächs während der Herbst-Vollversammlung in Fulda am 24. September 2009

Zwanzig Jahre danach - Anmerkungen zum Vermächtnis der deutschen Einheit


- Es gilt das gesprochene Wort! -

Der 9. November 1989, der Tag, an dem die Mauer fiel, ist in der persönlichen Erinnerung einer großen Mehrheit der Deutschen und im Zeitgeschichtsbuch der deutschen Nation als ein Tag "grenzenloser" Freude verzeichnet. Die Bilder der emotional aufgewühlten, glücklichen Menschen vor und auf der Mauer in Berlin gehören zu den bleibenden positiven Eindrücken am Ende des Jahrhunderts zweier Weltkriege. Auch wenn wir vieles vergessen haben, was in den letzten 20 Jahren passiert ist, wissen die meisten von uns noch sehr genau, wo sie damals gewesen sind und wie sie von den sich überstürzenden Ereignissen erfahren haben.

Die individuelle Perspektive, das persönliche Glücksempfinden vor allem der DDR-Bürger über ein künftiges Leben in Freiheit und Selbstbestimmung, und die nationale Perspektive aller Deutschen nach 40 Jahren Trennung erfassen jeweils einen zentralen Aspekt des vielschichtigen 9. November 1989, müssen aber durch weitere Überlegungen ergänzt werden.

Die deutsche Wiedervereinigung war ein Geschenk, zu diesem Zeitpunkt sogar ein unverhofftes Geschenk. Daran erinnern wir in diesen Tagen mit bleibender Dankbarkeit. Noch im Sommer 1989 haben nur wenige damit gerechnet. Die deutsche Einheit stand weder in Bonn noch in Ost-Berlin, weder in London noch in Paris oder Washington an der ersten Stelle der politischen Tagesordnung. In einer Meinungsumfrage glaubten schon im Dezember 1986 gerade noch 7 Prozent der befragten Bundesbürger, sie würden die Wiedervereinigung noch persönlich erleben.

Der 9. November 1989 ist ein wichtiges deutsches Datum. Ohne die vorausgehenden Reformprozesse in anderen europäischen Staaten - in der Sowjetunion, in Polen und Ungarn - wäre es 1989 zu der Wiedervereinigung Deutschlands im Zentrum Europas aber nicht gekommen. Ohne diese europäischen Impulse und Erfahrungen hätte der politische Protest in Dresden, Leipzig oder Berlin sich wahrscheinlich nicht zu einer friedlich verlaufenden Revolution aufschaukeln können, sondern hätte möglicherweise vielen Deutschen das Leben gekostet.

Die deutsche Einheit hatte - wie wir aus heutiger Sicht wissen - ihrerseits dann positive Rückwirkungen auf Europa. Erstmals sind durch einen deutschen Nationalstaat im Herzen Europas nicht neue Spannungen entstanden, die vereinte Bundesrepublik Deutschland bedeutet kein Hindernis, sondern wurde 1989/90 zu einem hilfreichen Partner auf dem Weg zu einem erweiterten Europa in freier Selbstbestimmung, wie es nach dem Ende der kommunistischen Regime möglich geworden ist.

Im Abstand von 20 Jahren sehen wir heute, dass verschiedene Entwicklungen, die sich am 9. November 1989 bündelten, schon sehr viel früher begonnen hatten. An einer ganzen Reihe von Wegmarken treffen wir dabei auf Papst Johannes Paul II. Michael Gorbatschow schreibt in seinen Memoiren sogar: "Alles was in den letzten Jahren in Osteuropa geschehen ist, wäre ohne diesen Papst nicht möglich gewesen." Ich erinnere hier nur an den ersten Besuch von Papst Johannes Paul II. in seiner polnischen Heimat 1979. Am Vorabend des Pfingstfestes betete er: "Sende aus deinen Geist! Sende aus deinen Geist! Und erneuere das Angesicht der Erde! Dieser Erde!" Der Papst hat damals auf dem Siegesplatz in Warschau seinen Landsleuten Mut gemacht, sie ermuntert, sich für Freiheit und Menschenrechte zu engagieren, und mit seinem Gebet eine Bewegung der "Solidarität" in Gang gesetzt, die auch mit Gewalt und Kriegsrecht nicht mehr zu stoppen war.

Wie wichtig es für die deutschen Katholiken - 1,13 Mio in der DDR und 27,12 Mio in der (alten) Bundesrepublik 1990 - war, dass sich Johannes Paul II. als Papst die vatikanische Ostpolitik selbst vorbehalten hat, haben viele damals unterschätzt. Seine grundsätzliche Kursänderung von 1978 hat aber dazu geführt, dass die deutschen Diözesangrenzen nicht an die Staatsgrenze angepasst wurden und die katholische Kirche in Deutschland institutionell eine gesamtdeutsche Klammerfunktion behalten konnte.

In beiden deutschen Teilstaaten drängten die Christen nicht auf Veränderung, viele hatten sich darauf eingestellt, dass die Teilung noch eine unbestimmte, jedenfalls längere Zeit andauern würde. Die Zeitgeschichtsforschung wird uns darüber Auskunft geben, welche unterschiedlichen Wege die beiden großen Kirchen dabei beschritten haben, um in dem atheistischen Staat und der weithin gottfernen Gesellschaft der DDR zu überleben, und welchen Preis sie dafür bezahlt haben.

Es ist richtig, dass die deutsche Revolution 1989/90 im Ursprung keine christliche Revolution war. Man muss aber auch nicht verschweigen, dass die Kirchen offen standen, als die Krise 1989 dann da war, als die oppositionellen Gruppen zuerst zum Friedensgebet in die Kirche und dann zur Demonstration auf die Strasse gingen. Die evangelische Kirche hatte dabei die Vorteile der größeren Schwester, konnte z. B. besser geeignete Räume anbieten und war bei nichtreligiösen Veranstaltungen in Kirchenräumen insgesamt großzügiger. Es ist aber unstrittig, dass beide Kirchen Schutz und Schirm boten, als die Opposition in der DDR auf institutionellen Schutz und persönliche Hilfe angewiesen war. Bei ihrem Versuch, Freiheits- und Bürgerrechte durchzusetzen, setzte die Opposition vor allem auf die Kirchen, die Menschen suchten die Nähe zur Kirche und ihre Hoffnungen wurden nicht enttäuscht. Die mutigen Beispiele steckten an. So erklärt sich auch, dass eine überraschend große Zahl von DDR-Katholiken, die durch die jahrzehntelange politische Abstinenz wenig angreifbar waren, die Chance ergriff, sich für Freiheit und Einheit zu engagieren und politische Verantwortung zu übernehmen, angefangen bei der Moderation des Runden Tisches bis hin zur Kandidatur bei den bald durchzuführenden Wahlen.

Die überfüllten Kirchen weckten damals leise Hoffnungen, nach dem Offenbarungseid des Atheismus könnte die Stunde des Christentums in der DDR gekommen sein. Wir haben in den letzten 20 Jahren aber die Befürchtung bestätigt gefunden, dass die beiden religionsfeindlichen Diktaturen auf deutschem Boden seit 1933 die christlichen Grundlagen im Land der Reformation in einer Gründlichkeit zerstört haben, dass gerade die ostdeutschen Bundesländer noch auf lange Sicht Diasporagebiete sein werden. Es wäre aber unredlich, nicht gleichzeitig darauf hinzuweisen, dass in diesen beiden Jahrzehnten die Prägekraft des Christentums im Westen - aus ganz anderen Gründen - auch nicht gerade größer geworden ist.

Wenn wir in wenigen Tagen eine Zwischenbilanz ziehen - 20 Jahre danach -, zeigen schon diese wenigen Hinweise, dass der 9. November 1989 zugleich ein Abschluss und ein Aufbruch gewesen ist. Manche flüchten heute vor den Schwierigkeiten der Veränderungen in nostalgische Träume nach rückwärts. Es reicht aber auch nicht, die damals errungene Einheit in Freiheit nur festhalten zu wollen. Es geht vielmehr darum, auf der Basis der staats- und kirchenrechtlich wieder gewonnenen Einheit die Freiheit auszugestalten. Dazu gehört, wie wir aus den geschichtlichen Beispielen lernen könnten, Mut und Überzeugung, individuelles Engagement und institutionelle Hilfe, Vision statt Pragmatismus. Mit dieser Grundausstattung sollte uns für die Zukunft des Christentums in Deutschland nicht bange sein.


*


Quelle:
Pressemitteilung Nr. 122 vom 24. September 2009
Herausgeber: P. Dr. Hans Langendörfer SJ,
Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz
Deutsche Bischofskonferenz
Kaiserstraße 161, 53113 Bonn
Postanschrift: Postfach 29 62, 53019 Bonn
Telefon: 0228/103-0, Fax: 0228/103-254
E-Mail: pressestelle@dbk.de
Internet: www.dbk.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. September 2009