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KIRCHE/617: Was bleibt in Kirche und Gesellschaft von 1968? (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 6/2008

Phantasie an die Macht
Was bleibt in Kirche und Gesellschaft von 1968?

Von Gotthard Fuchs


Die gesellschaftlichen Veränderungen der sechziger Jahre, die sich in der Jahreszahl 1968" bündeln lassen, haben auch das kirchliche Leben stark beeinflusst. Wie sieht die Bilanz nach 40 Jahren aus? Welche Impulse sind weiterhin aktuell, wo sind die Reformbewegungen über das Ziel hinausgeschossen?


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"Ihr seid die 68er, wir die 98er, wir halten's wieder mit der Tradition" - so der brustgeschwellte Spruch eines jungen Kollegen bei seiner Pfarreinführung. Keine untypische Momentaufnahme. Spürbar ist da nicht nur die in der Evolution übliche Reviermarkierung zwischen Alt und Jung; es klingen programmatisch Wendebewusstsein und Zukunftsanspruch durch. Tradition heißt da vor allem Ordnung, Treue zur Überlieferung und Einheit der Kirche. "Ihr", die Konzilsgeneration, dagegen stünde für Freiheit, Freizügigkeit, also Chaos und Willkür - welch ein grandioses Missverständnis! Prompt sind die Klischees von den "Alt-68ern" im Spiel - und von den "Neu-98ern" nicht minder.

Ich war damals, 1963 geweiht und nach einigen Jahren der Seelsorge, gerade zum Weiterstudium nach Münster gekommen. Zuvor schon hatte ich fasziniert dem jungen Joseph Ratzinger gelauscht, wenn er vom Konzil kam: theologische Werkstatt und Pressekonferenz in einem. Jetzt war der junge Walter Kasper da, Johann Baptist Metz brachte Ernst Bloch, Milan Machovec und andere in die Vorlesung mit. Historisch-kritische Forschung, dogmatische Überlieferung und kirchliches Selbstverständnis galt es angesichts der "Zeichen der Zeit" auszulegen und argumentativ zu verantworten. Wie selbstverständlich wuchsen die Kontakte zur evangelischen Fakultät, bis hin zu gemeinsamen Veranstaltungen. Das Studium Seit' an Seit' mit Kollegen aus den Niederlanden, Belgien, Spanien, Portugal und besonders aus Lateinamerika wurde internationaler, die Studentengemeinde war eine wichtige Drehscheibe, Asta und Aktionskreise nicht minder. Alle duzten sich; Hochschuldidaktik und Gruppendynamik kamen in Mode. Bewusstsein und Verhalten wurden politischer - sichtbarer Ausdruck dafür wurden Sit-ins, Mao-Bibel und Demos einschließlich der Ho-Chi-Minh-Rufe.

In der Antoniuskirche versuchten so unterschiedliche Theologen wie Werner Böckenförde, Paul Hoffmann und Franz Kamphaus neue Formen von Gottesdienstgestaltung und Predigtgespräch. Studentinnen meldeten sich auch in der Theologie mit neuem Selbstbewusstsein in Seminaren und Hochschulgemeinden zu Wort ("Schlangenbrut" wird bald der Titel einer Zeitschrift feministisch engagierter Theologinnen sein). Aufbruchstimmung allüberall - und dazwischen spürbar die beharrenden Kräfte voller Skepsis und auch Abwehr (in der Fakultät zum Beispiel in Gestalt der geschätzten Lehrer Erwin Iserloh und Bernhard Kötting), die über die "Orthodoxie" wachten.


Reflex makrosozialer Veränderungen

Was sich kirchlich und theologisch abspielte, war zunächst Reflex makrosozialer Veränderungen. Im Februar war der Vietnamkongress in Berlin, am 4. April wurde Martin Luther King ermordet, am 5. Juni Robert Kennedy. Am 11. April kam es zum Attentat auf Rudi Dutschke (an dessen Folgen er Weihnachten 1979 starb). Im August geschah das US-Massaker an 500 vietnamesischen Bauernfamilien in My Lai. Unvergessen das Foto des Jahres: der mit dem Revolver verlängerte Arm des vietnamesischen Generals, der einen Landsmann auf offener Straße erschießt. Der Prager Frühling geht in bitterkalten Winter über. Das politische Abblocken zwischen West und Ost verhärtet sich, der Süden gerät weiter in den Schatten. Im Kontrast dazu stehen neue Aufbrüche, jedenfalls bei Intellektuellen und jungen Leuten. Von den kalifornischen Studentenbewegungen herkommend und weltweit in merkwürdiger Gleichzeitigkeit explodierend, wurde (West-)Europa erdbebenartig erschüttert von Widerstand und Aufstand. Die Pariser Mai-Unruhen strahlen aus: "Die Phantasie an die Macht" - "Der Traum ist die Realität"!

Vietnam und Iran stehen im Fokus umstürzlerischer Hoffnungen. Eine Internationale gewaltigen Reformwillens entsteht wenigstens programmatisch. Der sprichwörtliche Staub unter den Talaren sollte weg: Schluss mit jeder Art "Untertanenkultur", mit "Spießertum, Staatsgläubigkeit und Politikabstinenz". Die aufgeschobene Auseinandersetzung mit der bisher verdrängten Nazi-Zeit wurde fällig, mit all den "Vatermorden" und Gegenabhängigkeiten im Gefolge. Im Protest gegen Vietnamkrieg und Konsumterror zündeten Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof und Andreas Baader zwei Frankfurter Kaufhäuser an. Mit den Notstandsgesetzen vom 29. Mai begann das Ende der außerparlamentarischen Opposition sowie die schließlich terroristische Abspaltung etwa der RAF. Der Traum von einem Aktionsbündnis zwischen Studenten, Intellektuellen und Arbeitern, kaum wach geworden, begann an der "Realität" zu scheitern. "Antifaschistisch" war ein Programmwort, "antiautoritär" nicht minder. Frauen erprobten und inszenierten ihre Befreiung vom Patriarchat. Die Gender-Debatte begann.

Die Kirche war - wie könnte es anders sein - mitbetroffen vom gesellschaftlichen Wandel (ein "dialektisches Verhältnis", heißt es seitdem im Jargon). Gerade im damaligen Kontext war der ökumenische Aufbruch durchaus typisch: Im Todesjahr von Romano Guardini und Karl Barth sind Initiativen wie das bald entstehende Politische Nachtgebet ebenso Indiz dafür wie verstärkte Dialogbemühungen in Theologie und Kirchen.

Das Konzil, zwei Jahre zuvor abgeschlossen, begann überhaupt erst zu wirken. Johannes XXIII. hatte auf dem Sterbebett sein Vermächtnis, den "Sprung nach vorn", prophetisch nochmals zusammengefasst: "Nicht das Evangelium ändert sich, wir sind es, die gerade damit anfangen, es neu zu verstehen". Es komme darauf an, "dem Menschen als solchem zu dienen, nicht bloß den Katholiken, darauf in erster Linie und überall die Rechte der menschlichen Person und nicht nur diejenigen der katholischen Kirche zu verteidigen".

In Gang kam ein kulturrevolutionärer "konziliarer Prozess" innerhalb der Kirche selbst. Von Ekklesiogenese war die Rede, von Kirche'werdung'. Die römischen Aufbrüche wirkten in der niederländischen Kirche und von dort nach Deutschland herüber, nicht nur nach Münster und Tübingen.


Fragen der Kirchenreform

Mit förmlichem Heißhunger wurde theologisch das Gespräch mit der Neuzeit gesucht: Kant und Schelling, Hegel, Feuerbach und Marx, Aufklärung und Idealismus - ganz mit dem frühmarxschen Willen zur Konkretion und im Horizont der Kritischen Theorie. Die gesellschaftliche und also kirchliche Basis rückte in den Mittelpunkt des Interesses. Kaum zu überschätzen sind die authentischen lateinamerikanischen Übersetzungen des Konzils, schließlich mit dem Höhepunkt in der Bischofsversammlung in Medellín vom August 1968.

Sie vollzog nämlich durch ihre Option für die Armen einen förmlich revolutionären Standortwechsel der Ortskirchen mit erheblichen Folgen für die Gesamtkirche. Die strukturelle Sünde globaler Nicht-Solidarität kam in den Blick, Kirche als Netzwerk alternativer Basisgemeinden hieß die Perspektive: Ernesto Cardenal mit den Bauern in Solentiname wurde ein prominentes Beispiel, Gustavo Gutierrez und Helder Camara waren Hoffnungsträger. In Münster wurde an einer neuen politischen Theologie gearbeitet, der Ruf nach einer deutschen Befreiungstheologie wurde lauter: "Heraus aus der bürgerlichen Gefangenschaft der Kirche". "Kampf und Kontemplation" klang es aus Taizé.

In Tübingen lag der Schwerpunkt derselben Bemühung zuerst auf Fragen der Kirchenreform: Hans Küng schrieb und sprach entschieden zur Ekklesiologie, Ratzinger hielt seine Vorlesung "Einführung ins Christentum" (und entschied sich zum Wechsel weg vom aufgeregten Tübingen ins ruhigere Regensburg). Zündend und bezeichnend wurde der Essener Katholikentag, das "Woodstock der deutschen Katholiken". Ganz im Sinne der beiden Kirchenkonstitutionen des Konzils ging es nach "innen" um mehr Demokratie und Partizipation in der Kirche und nach "außen" um Solidarität mit der so genannten Dritten Welt, um mehr Gerechtigkeit weltweit. "Kritischer Katholizismus" hieß programmatisch nicht nur eine Zeitschrift, sondern das Ziel der explosiven Gesamtdynamik.

In Essen wurden die Weichen gestellt für die "Synode der deutschen Bistümer" - angestiftet durch das niederländische Pastoralkonzil zwei Jahre zuvor. Alle (!) Katholiken wurden dafür dann befragt - Basisdemokratie war der Maßstab von außen, von innen das gemeinsame Priestertum aller Glaubenden, 'communio' aller Getauften einmal konkret und wortwörtlich. Von den 312 Synodalen, die sich schließlich am 3. Januar 1971 in Würzburg versammelten, waren 140 Laien, Männer und Frauen - keineswegs selbstverständlich. Solche (wortwörtlich) konziliaren Prozesse vor Ort lebten von Einzelnen wie Kardinal Julius Döpfner, Hans Werners und anderen - und nicht zuletzt von Basisgruppen.

Der Bensberger Kreis veröffentlichte sein Memorandum zur "Oder-Neiße-Grenze", ein Jahr später zum Krieg in Vietnam. Pax Christi war politisch versöhnend aktiv, das Zentralkomitee der deutschen Katholiken begann sich zu regen. Von traditionalen Gegenbewegungen, die es natürlich auch gab, war damals öffentlich noch wenig zu spüren (nur die Lefebvre-Kirche kündigte sich an). In vielen Diözesen bildeten sich Priester- und Solidaritätsgruppen, nicht ohne Analogie zu gewerkschaftlichen Verbünden. Kurz nach Erscheinen der Enzyklika "Humanae vitae" wandten sich zum Beispiel mehr als 75 Priester des Erzbistums Paderborn an Kardinal Lorenz Jaeger und erklärten: "Wir beabsichtigen, die Gläubigen nach wie vor zu einer verantworteten und freien Entscheidung bezüglich der Methoden der Geburtenregelung zu ermutigen." Alle Unterzeichneten wussten - nur einer von ihnen gab seinen Namen stellvertretend her, alle anderen Unterschriften waren beim Notar hinterlegt -, dass der Bischof sie suspendieren müsste. Wenig später dann kam es, noch kurz vor dem Essener Katholikentag, zur "Königsteiner Erklärung" der deutschen Bischöfe (deren Widerruf Johannes Paul II dann mehrfach forderte).

Im Ensemble kirchlicher Erneuerung spielten diese innerkirchlichen Reformgruppen eine nicht unbedeutende Rolle, ursprünglich nur von und für Priester, bald für alle Mitchristen zugänglich und auch ökumenisch geöffnet. 25 Gruppen schlossen sich bald zur so genannten AGP (Arbeitsgemeinschaft von Priestergruppen in der Bundesrepublik Deutschland und Österreich) zusammen. Bedeutsam wurde auch hier die Bemühung um internationale Verknüpfung und Solidarisierung der Reformgruppen, schließlich in programmatischen Treffen in Rom, Brüssel und anderswo. Die "SOG-Papiere" und "imprimatur" dienten der Diskussion und Verbreitung der Reformideen. "Ecclesia semper reformanda" war der Wahlspruch überall - die konziliare Kulturrevolution mit der "Aufhebung" der tridentinischen Kirchlichkeit und ihrer (neu-)scholastischen Theologie im Rücken. Noch im Dezember 1968 wurden 20.000 Fragebögen zum Pflichtzölibat verschickt - wichtiger Anstoß für eine schließlich bischöfliche Befragung nach holländischem Vorbild auch in Deutschland.

Nicht zufällig gerät die Frage nach Demokratie und Kirchengestalt ins Zentrum des Interesses: Gewaltenteilung womöglich, wenigstens Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Kirche; nach "Christenrechten" wurde gefragt. Arbeiterpriester trugen beispielhaft zur Überwindung bloß bürgerlicher Kirchlichkeit bei. Auch für die Priestergruppen werden persönliche Begegnung und inhaltliche Zusammenarbeit mit lateinamerikanischen Befreiungstheologen und Basisgemeinden zentral. Vergessen darf man, im Blick auf Deutschland, keinen Augenblick die Entwicklungen in der DDR und den unterströmig lebhaften Austausch zwischen Ost und West. Besonders wichtig ist diesbezüglich der "Aktionskreis Halle (AKH)" in der damaligen DDR. (Die Lage der verfolgten Kirche im Ostblock sonst fand sträflich wenig Aufmerksamkeit.) Im Umfeld der 1963 gegründeten Zeitschrift "Concilium" wurde 1968 eine "Erklärung für die Freiheit in der Theologie" veröffentlicht, die weltweit insgesamt 1360 "Betroffene" unterschrieben.


Es kommt auf die schöpferische Realisierung der Überlieferung an

Bei einer solchen farbtupfenden Erinnerung an 1968 sollte man die so genannte "Oberkirche" in ihrem Verantwortungsbereich und in ihren Initiativen, auch zur Reform, nicht unterschätzen (etwa bei der Liturgiereform, im Blick auf die Versöhnung mit Polen). Von unten aber gingen wesentliche Impulse aus, im "vorauseilenden Gehorsam" oft und nicht selten mit Sanktionen für die Betroffenen, die lebensgeschichtlich Verletzungen hinterließen und gar zur innerkirchlichen Ausgrenzung und Stigmatisierung führten. Wie viele so genannte "linke" Priester und Laien zum Beispiel wurden auf Jahrzehnte hin gesamtkirchlich eher isoliert, verdächtigt oder gar gebrandmarkt. Nicht zu vergessen ist die nicht geringe Zahl von laisierten Priestern und ihren Frauen, deren geistliche und pastorale Kompetenz dem Gesamtleben der Kirche durch Ausgrenzung meist verloren ging.

Die spontane Antwort an den jungen Priesterkollegen, der es "wieder mit der Tradition" halten wollte, lautete: "Du spinnst, auch wir haben es mit der Tradition gehalten, aber anders." In Fribourg beispielsweise hatte ich noch die Summa des Thomas von Aquin im Original lateinisch lesend erschlossen bekommen, die Confessiones des Augustinus ohnehin und Anselm von Canterbury - Erkenntnisgewinne, die manch Jüngerem zu wünschen wäre. Selbstverständlich leben Kirche und Glaube dank der geistgewirkten Tradition, deren treibende Kraft und deren Maßstab Gottes eigenes Wort in Schrift und Überlieferung ist. Aber entscheidend ist eben, wie Tradition konkret verstanden und praktiziert wird - denn "traditio" heißt bekanntlich, gerade nach kirchlichem Selbstverständnis, beides: Schöpferische Überlieferung und deren Verrat. "Die" Einheit "der" Kirche wird mit Recht auch heute beschworen: aber welche Kirchengestalt ist jeweils gemeint und "an der Zeit"? Das ist die zentrale Herausforderung an jede Generation - und dazu braucht es die ganze, lebendige Tradition.

Was also bewegt im Rückblick auf 1968 und mag bleibend wichtig sein für die nächsten Schritte?

Allgemein kann gelten, was Theodor W. Adorno, Vordenker und Opfer der Umbrüche zugleich, im Rückblick auf die 68er an seinem Todestag am 6. August 1969 noch formulierte: "Die Meriten der Studentenbewegung bin ich der Letzte zu unterschätzen. Aber es ist ihr ein Quäntchen Wahn beigemischt, dem das Totalitäre teleologisch innewohnt." Zu den Meriten der 68er insgesamt gehören ihr unbedingter Veränderungswille, ihr Gespür für falsche Verhältnisse und für anzugehende Aufgaben. Vermutlich ist erst dadurch die kreative Auseinandersetzung mit der (jüngsten) Vergangenheit in Deutschland in Gang gekommen. Man kam, wie mühsam auch immer, in der nicht mehr halbierten, der ganzen Moderne an. Auch der Provinzialismus der deutschen Nachkriegszeit wurde aufgesprengt. Viele Utopien, vor allem die vom Aktionsbündnis zwischen Arbeiterschaft und Intellektuellen, wurden freilich nicht umgesetzt und blieben Herausforderung.


Der Möglichkeitssinn des Glaubens

Im Doppelalphabet von Leidensdruck und Sehnsucht nach Veränderung zeigt der daraus entspringende Reformwille tatsächlich revolutionäre Züge mit einem "Quäntchen Wahn". Eine förmlich unbescheidene Selbstgewissheit und Traditionsverachtung, die bisweilen eine militante Gegenabhängigkeit vom "System" verriet, war im Spiel. Das Drama der begabten Kinder zwischen Grandiosität und Depression konnte zu jenem Realitätsverlust führen, der sich im schlimmsten Fall (auto-)destruktiv auswirkte. Die RAF offenbart Größe und Schrecken dieser förmlich (pseudo-)messianischen Selbstermächtigung. Trotzdem: "Mir scheint, die Kinder des nächsten Jahrhunderts werden das Jahr 1968 mal so lernen, wie wir das Jahr 1848", schrieb Hannah Arendt am 26. Juni 1968 an Karl Jaspers.

Gäbe es zum Beispiel das Europa nach dem Mauerfall ohne den Prager Frühling, gäbe es soziale, kulturelle und politische Verbesserungen in Deutschland ohne die 68er? Aber wie viel blieb unerledigt, wie viel scheiterte schließlich an Selbstüberschätzung und Kurzatmigkeit der Jungen, aber auch am Beharrungswiderstand der Alten mit ihren besonderen Netzwerken und Seilschaften. Woher heute die Kraft und den Mut nehmen, um wenigstens mittelfristig Visionen zu entfalten und entsprechend Optionen zu formulieren, die über den narzisstischen Tellerrand des eigenen Wohlfühlens hinaus gehen? Solche Fragen gelten auch kirchlich. Damals wusste "man" noch, wogegen man christlich sein musste. Visionen und Optionen waren vorhanden, der Mut und die Leidenschaft konkret Stellung zu beziehen und sich einzumischen. "Der Traum ist die Realität"/"Phantasie an die Macht": Solche Parolen der Pariser Mai-Unruhen sekundieren dem "Möglichkeitssinn" der Evangelien, der Traum- und Vorstellungskraft des Glaubens. Heute scheint die viel zitierte "Unübersichtlichkeit" zu einer diffusen Pluralisierung und Individualisierung zu führen, zu einer lähmenden und ohnmächtigen Unentschiedenheit auch. Deren Geschwisterpart sind dann resignative Anpassung und Unterwerfung unter "die" Verhältnisse oder auch forcierte, überanstrengende, schnelle Entschiedenheit bis hin zu fundamentalistischer Verhärtung im Guten.

Am Schlimmsten und Gefährlichsten ist das Sichabfinden mit dem Status quo, jener fatale Wirklichkeitssinn, der sich visionslos mit dem Bestehenden abspeisen lässt und es "spirituell" sublimierend überhöht und verdrängt. Es braucht heutzutage offenkundig eine besondere spirituelle Anstrengung, um Visionen zu entwickeln und beharrlich an ihrer Realisierung zu arbeiten.

Der 68er-Umbruch und das Konzil erscheinen in theologischer wie historischer Rückblende untrennbar. Die vier großen Konstitutionen des Konzils (Liturgie, Offenbarung und zweimal Kirche) samt den Dekreten über die Religionsfreiheit und die Weltreligionen markieren den "Anfang eines Anfangs" in der Geschichte der Kirche, die zur Weltkirche wird. Die damals epochal neu ausgelegte Spannung von Sammlung und Sendung, von Innen- und Außenperspektive der Kirchewerdung eröffnet einen Spannungsbogen, unter dem sich die 68er-Zeit wie eine Zukunftswerkstatt verstehen lässt - mit schöpferischsten Impulsen, mit unausgeschöpften Hoffnungen und zeitbedingten Verkürzungen.

Die Kirchengeschichte seit 1968 hat die Kompromiss- und auch Dilemmastrukturen des Konzils vielfältig zur Erfahrung gebracht (etwa die paradoxale Bestimmung der Kirche als "communio hierarchica" und damit die konkrete Bestimmung des einen Amtes in den vielen Ämtern im Gesamtgefüge der Gemeinschaft aller Glaubenden und ihrem Glaubenssinn). Für die Beurteilung der 68er sind dieselben hermeneutischen Kriterien in der Spannung zwischen Geist und Buchstabe von Bedeutung.

Die Aufbrüche von 1968 haben das Geschlechterverhalten verändert, den Frauen einen neuen Emanzipationsschub gebracht und Männern neue Herausforderungen. Die Königsteiner Erklärung gehört in diesen Kontext. Neue Freiheiten haben ihren Preis: ungekannte Egoismen werden möglich. Die mangelnde Akzeptanz kirchlicher Autorität hängt auf der anderen Seite auch mit der Tatsache zusammen, dass kirchliche Lehr- und Leitungsinstanzen den Liebenden das Leben schwer gemacht oder es gar zerstörerisch belastet haben. Die Frauenfrage als Ganze, die in Wahrheit auch damals bereits eine Männerfrage war, steht weiterhin bedrängend im Raum des kirchlichen Lebens.


Die emanzipativen und aufklärenden Impulse der Neuzeit sind christliches Erbe

Die Besonderheit des letzten Konzils im Rhythmus der Kirchengeschichte lässt sich als schöpferische Selbstkorrektur verstehen. Die Kirche erinnert sich der Reichtümer ihres ersten Jahrtausends, um ihre historisch gewordene Gestalt des zweiten Jahrtausends zu reformieren. Diese war im 11./12. Jahrhundert entstanden, im Kontext der gregorianischen Reform. Aus guten Gründen kam es damals beispielsweise zur radikalen Unterscheidung von Klerikern und Laien - Bischöfe und Priester nach dem "Modell" der Mönche geprägt. Die neu gewonnene Freiheit der Päpste gegenüber dem Kaiser bedurfte der rechtlichen Sicherung, mit einer ambivalenten Tendenz zur Verrechtlichung des Glaubenslebens überhaupt. Auch der römische Zentralismus war historisch durchaus wichtig, allerdings mit ambivalenten Entwicklungen in der Folgezeit.

Im Konzil nun erinnerte sich die Kirche selbstkritisch ihrer biblischen Wurzeln und der Communio-Theologie der ersten Jahrhunderte. Zudem wurde der Kirche bewusst, wie sehr die emanzipativen und aufklärenden Impulse der Neuzeit ganz wesentlich zu ihrem eigenen Erbe und Auftrag gehören (etwa die Menschenrechte). In den Theologien, Reformbewegungen und Impulsen der 68er wurde dies neu durchgespielt, erkämpft und erlitten. Das bedeutet einen bleibenden Zugewinn an christlicher Glaubwürdigkeit (allen auch vorhandenen Selbstherrlichkeiten und Selbstüberschätzungen zum Trotz).

Alle innerkirchlichen Aufbrüche damals lebten von dem konziliaren Impuls zur Entklerikalisierung und zur Wiederentdeckung des gemeinsamen Priestertums aller Getauften. Was von diesen Initiativen hat in das Kirchenrecht Eingang gefunden und damit Verbindlichkeit erlangt? Heute sprechen manche nicht ohne Gründe von einer neuen Klerikalisierung. Laien fühlen sich erneut bevormundet und eingeschränkt - bisweilen von den (ohnehin wenigen) jüngeren Priestern, die (allzu?) früh in leitende Ämter geraten und diesen menschlich wie geistlich öfter noch nicht gewachsen scheinen (was natürlich auch für Ältere gelten kann).

Umgekehrt bleibt die Frage, was Gott seiner Kirche sagen will, wenn es so wenige Priesterberufungen gibt oder zu geben scheint (und manche gar einen Priesterimport aus Indien und Afrika für gut halten). Nicht minder "spannend" ist die seit dem Konzil faktisch klärungsbedürftige Verhältnisbestimmung von Weltkirche und Ortskirche, von Papst und Bischof beziehungsweise Bischofskollegium. Sind die Bischöfe faktisch Generalvikare des Papstes? Können sie den Glaubenssinn der Glaubenden verbindlich wahrnehmen?

Damals wurde mit Leidenschaft an einer neuen schöpferischen Verbindung von Privatheit und Öffentlichkeit des Glaubens, von Mystik und von Politik gearbeitet. Zugleich geistliche wie soziale Bewegungen kamen in Gang. Sprichwörtlich war aber auch die Rede vom "Pietkong", der sich in seine Innerlichkeit zurückzieht und "die Welt" zum Teufel gehen lässt. Geistliche Gestaltung der persönlichen und der gesellschaftlichen (wie der kirchlichen) Verhältnisse stand programmatisch im Zielpunkt aller Überlegungen: Das Synodendokument "Unsere Hoffnung" ist ein programmatisches und kirchengeschichtliches Dokument für diese Einheit von Mystik und Politik.

Besteht heute nicht die Gefahr einer Privatisierung und Verinnerlichung des Glaubens, einer Halbierung nicht nur des Evangeliums, sondern auch der Kirchenrealität und ihres Dienstes für die Mitmenschen allüberall? Bleibt in der fast schon selbstläuferhaft emphatisch empfohlenen Rede von einer missionarischen Kirche genau diese Synthese genügend im Blick? Die Gefahr der Reprivatisierung und einer faulen Verinnerlichung des Glaubens scheint angesichts der erfahrenen und erlittenen Ohnmacht gegenüber "den Verhältnissen" im Ganzen erheblich. Gewiss waren die 68er oft einäugig politisch, zumal Karl Marx als fast einziger Kirchenvater galt.

Trotz fruchtbarer Ansätze, psychologische und soziologische Aspekte der Wirklichkeitsbestimmung zu verknüpfen, fielen "Innerlichkeit" und "Äußerlichkeit", "Individualität" und "Sozialität" der Verhältnisse auseinander. Politisierung war das Leitwort, Beachtung der ökonomischen Verhältnisse auch. "Innerlichkeit" galt als bürgerlich und tendenziell überholt, die intendierte Synthese von Marx und Freud gelang kaum. Ist es heute umgekehrt? Mystik wird groß geschrieben - aber "Politik"? Gestaltung der persönlichen Verhältnisse, etwa therapeutisch und spirituell, ja - aber die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Verhältnisse? Es ist wohl kein Zufall, dass neuerdings Karl-Marx-Lesebücher erscheinen und Bestseller werden. Viele Intentionen katholischer Soziallehre und Befreiungstheologie sind neu zu entdecken. Dazu braucht es jenen Möglichkeitssinn, der allein aus der Bekehrung zum Evangelium kommt: Keine Mission ohne Mystik.


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Gotthard Fuchs (geb. 1938), Dr. theol. Priester des Erzbistums Paderborn. Vielfältige Seelsorge-, Lehr- und Bildungsarbeit, zahlreiche Veröffentlichungen zum Verhältnis von systematischer und praktischer Theologie mit dem Schwerpunkt Grundfragen christlicher Spiritualität und Mystik.


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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
62. Jahrgang, Heft 6, Juni 2008, S. 281-286
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juli 2008