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KIRCHE/533: "Die Sorge der Päpste" (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion 8/2007

"Die Sorge der Päpste"
Das Motu Proprio Benedikts XVI. zur Wiederzulassung der alten Liturgie

Von Albert Gerhards


Ab dem 14. September dieses Jahres darf die Liturgie der katholischen Kirche auch nach dem Messbuch von 1962 gefeiert werden. Neben der "ordentlichen" Form der durch das Zweite Vatikanische Konzil erneuerten Liturgie gibt es dann auch die "außerordentliche". Es wird sich zeigen, ob dadurch in der Kirche insgesamt wie in den Gemeinden Gräben aufgerissen werden.


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Für die einen lang ersehnt, für die anderen seit langem befürchtet, erschien am 7. Juli 2007 das Schreiben des Papstes über den Gebrauch der römischen Liturgie in ihrer Gestalt vor der Reform Papst Pauls VI. Es löste erstaunlich breite Reaktionen in den Medien aus. Nach ersten, oft mit heißer Nadel gestrickten Stellungnahmen empfiehlt sich eine ruhige Prüfung dessen, was der Papst wirklich anordnet und was er zusätzlich in dem Begleitbrief an die Bischöfe als Begründung anführt. Das Schreiben beginnt mit der Feststellung, dass die Sorge um den "würdigen Kult" stets zu den zentralen Aufgaben der Päpste gehört hat, insofern das Gesetz des Betens (lex orandi) dem des Glaubens (lex credendi) entspricht. Damit stellt sich das Dokument in die Linie des Zweiten Vatikanischen Konzils, dessen programmatischer Auftakt, der Prolog der Liturgiekonstitution "Sacrosanctum concilium", die Erneuerung und Förderung der Liturgie ebenfalls als besondere Aufgabe nennt (Sacrosanctum Concilium 1).

Im Motu Proprio schließt sich ein kurzer Überblick über die Entwicklung der römischen Liturgie seit Gregor dem Großen (gest. 604) an, nach dem die Sakramentartradition der Papstliturgie sowie der Gesang der römischen Kirche benannt sind. Für deren Verbreitung hat sich insbesondere das benediktinische Mönchtum verdient gemacht. Der zweite namentlich genannte Papst, Pius V., gab 1570 das Missale Romanum nach der vom Konzil von Trient in Auftrag gegebenen Revision heraus, um dessen letzte, 1962 von Johannes XXIII. approbierte Fassung, es hier geht.

Das Missale Romanum ragt aus den liturgischen Büchern hervor aufgrund seines stadtrömischen Ursprungs und der bei aller organischer Weiterentwicklung konstanten "großen Ähnlichkeit". Dabei wird ausdrücklich auf die liturgische Reformtätigkeit der Päpste in der Zwischenzeit, insbesondere im Barockzeitalter und seit Beginn des 20. Jahrhunderts, hingewiesen. In dieses kontinuierliche Mühen um die Erneuerung der Liturgie fügt der Papst auch den Reformanstoß des Zweiten Vatikanischen Konzils und die Reformtätigkeit Pauls VI. ein, deren Resultat überall auf der Erde "bereitwillig angenommen" worden sei. Zuletzt hat Johannes Paul II. mit der dritten Editio typica des römischen Missale von 2002 an der Fortschreibung der Reform gearbeitet. Immer ging es den Päpsten darum, dass "dieses 'liturgische Gebäude' in seiner Würde und Harmonie neu" erstrahlte.


Ordentliche und außerordentliche Form des Ritus

In der Folge begibt sich das Schreiben auf eine pastorale Argumentationsebene, wenn es von den Gläubigen "in manchen Gegenden" spricht, die den "früheren liturgischen Formen" mit großer Liebe und Empfindung anhängen. Für sie hat Johannes Paul II. 1984 und 1988 Bestimmungen für die bedingte Zulassung der Feier nach dem Messbuch von 1962 erlassen, die nach eingehender Beratung nun neu gefasst werden. Dabei geht es im Wesentlichen um folgendes:

Zunächst wird eine fundamentale Sprachregelung getroffen: Das Missale Romanum Pauls VI. ist die ordentliche Ausdrucksform (ordinaria expressis) der "lex orandi" der katholischen Kirche des lateinischen Ritus, das Missale Romanum Pauls V. in der Fassung von 1962 die außerordentliche Ausdrucksform (extraordinaria expressis) derselben "lex orandi". Als zwei Anwendungsformen (usus) des einen Ritus können sie demzufolge auch nicht zur Spaltung der "lex credendi" führen.

In verschiedenen Paragraphen geht es um die konkreten Möglichkeiten der Feier nach dem Missale von 1962. Diese sind bei der "Messfeier ohne Volk" jederzeit möglich - hier sind die beiden "Ausdrucksformen" des Ritus gleichrangig, mit Ausnahme des Triduum Sacrum (das nicht ohne Volk gefeiert werden darf).

Eine weitgehende Erlaubnis zur Feier nach dem Missale 1962 erhalten die Gemeinschaften der Institute des geweihten Lebens und die Gesellschaften des apostolischen Lebens in den eigenen Oratorien. Wenn sie die Feier nach der älteren Fassung des Ritus "oft, auf Dauer oder ständig" so halten wollen, ist die Entscheidung der höheren Oberen einzuholen. Zu diesen Feiern können auch auswärtige Gläubige zugelassen werden, wenn sie dies wünschen.

In Pfarreien hat der Pfarrer die Bitten einer Gruppe von Gläubigen um die Feier der früheren liturgischen Tradition "bereitwillig aufzunehmen". Dabei hat er zugleich dafür zu sorgen, dass dies in Einklang mit der "ordentlichen Hirtensorge" steht und die Einheit nicht gefährdet wird. Die Feier nach der traditionellen Form kann an allen Werktagen sowie einmal an Sonn- und Feiertagen stattfinden. Dabei ist nicht nur für die Messfeier, sondern auch für die Feier der Sakramente (Trauung) und Sakramentalien (Beerdigung) sowie für besondere Feiern (Wallfahrten) die jeweils frühere Form erlaubt.

Die Lesungen dürfen auch in der Volkssprache verkündet werden, "unter Gebrauch der vom Apostolischen Stuhl rekognoszierten Ausgaben".

Wenn der Pfarrer den Bitten einer Gruppe nicht nachkommt, kann sie sich an den Bischof wenden. Sorgt er nicht dafür, ist dies der 1988 eingerichteten Päpstlichen Kommission "Ecclesia Dei" mitzuteilen. Auch der Bischof, der an der Erfüllung seiner Hirtenaufgabe gehindert wird, kann an die Kommission appellieren.

Der Pfarrer kann auch die Erlaubnis zur Spendung der Sakramente Taufe, Ehe, Buße und Krankensalbung erteilen, der Bischof die Firmung nach dem alten Pontifikale spenden. Alle Kleriker können das Römische Brevier in der ebenfalls 1962 zuletzt promulgierten Ausgabe benutzen.

Der Ortsordinarius kann eine Personalpfarrei für die Feiern nach der älteren Form des römischen Ritus einrichten. Die Päpstliche Kommission "Ecclesia Dei" wird mit der Bewachung der Beachtung und Anwendung der Anordnungen betraut.

In seinem an die Bischöfe gerichteten Begleitbrief begründet der Papst seine im Motu Proprio getroffenen Entscheidungen, da dieses bereits vor seiner Bekanntgabe in die Debatte geraten war. Zwei im Lauf der Diskussionen geäußerten Befürchtungen tritt der Papst entgegen: Zum einen wird die Besorgnis, mit den neuen Bestimmungen werde die Autorität des Zweiten Vatikanums und seiner wesentlichen Entscheidungen in Frage gestellt, als unbegründet hingestellt. Die spätere Fassung bleibt ja die Normalform, während die ältere, die im Prinzip immer zugelassen blieb, als Forma extraordinaria nun einer besonderen Regelung bedarf.

Es habe sich herausgestellt, "dass vor allem in Ländern, in denen die Liturgische Bewegung vielen Menschen eine bedeutende liturgische Bildung und eine tiefe innere Vertrautheit mit der bisherigen Form der liturgischen Feier geschenkt hatte, nicht wenige stark an diesem ihnen von Kindheit auf liebgewordenen Gebrauch des Römischen Ritus hingen." Nun wird auf die Spaltung der Bewegung um Erzbischof Lefebvre Bezug genommen, deren Gründe unter anderem in der Sehnsucht konzils- und kirchentreuer Gläubigen nach der ihnen vertrauten Gestalt der Liturgie gesehen werden, "zumal das neue Missale vielerorts nicht seiner Ordnung getreu, sondern geradezu als eine Ermächtigung oder gar als Verpflichtung zur 'Kreativität' aufgefasst wurde, die oft zu kaum erträglichen Entstellungen der Liturgie führte."

Der Papst bezieht sich hier auf eigene Erfahrungen solcher Eigenmächtigkeiten und der dadurch hervorgerufenen Verletzungen. Diese hatten Johannes Paul II. zu der Rahmenordnung von 1988 veranlasst mit dem Ziel, der "Priesterbruderschaft des heiligen Pius X." entgegenzukommen. Zwar sei dies nicht geglückt, doch zeigte sich, dass zunehmend jüngere Menschen sich zur älteren Form der römischen Messe hingezogen fühlen, so dass ein Bedarf zur rechtlichen Regelung entstanden sei, nicht zuletzt zur Entlastung der Bischöfe.

Die zweite Befürchtung, der der Papst entgegentritt, betrifft die möglichen Unruhen oder gar Spaltungen, die durch die erweiterte Möglichkeit zum Gebrauch des Missale von 1962 entstehen könnten. Dies sei allein durch die erschwerten Zugangsbedingungen - ein gewisses Maß an liturgischer Bildung und ein Zugang zur lateinischen Sprache - auszuschließen, so dass das neue Messbuch ganz von selbst die Forma ordinaria bleiben werde. Der Papst erhofft sich eine gegenseitige Befruchtung beider Formen des Ritus Romanus: Der ältere Usus könne und solle neue Heilige und einige der neuen Präfationen aufnehmen, der jüngere könne stärker die von vielen vermisste Sakralität erscheinen lassen durch "ehrfürchtigen Vollzug seiner Vorgaben, der seinen spirituellen Reichtum und seine theologische Tiefe sichtbar werden lässt".

Als eigentlichen positiven Grund für die Abfassung des Motu Proprio gibt Benedikt XVI. die "innere Versöhnung in der Kirche" an. Hier räumt er Versäumnisse der Verantwortlichen in Bezug auf die Wahrung der Einheit ein. Daher fühlt er sich der Wiederherstellung der Einheit in besonderem Maß verpflichtet.

Der Weg für die Wiederherstellung der Einheit durch die Neuregelung beruht auf der Prämisse, dass es keinen Widerspruch zwischen der einen und der anderen Ausgabe des Missale Romanum gebe. "In der Liturgiegeschichte gibt es Wachstum und Fortschritt, aber keinen Bruch." Daher kann das Alte auch nicht schädlich sein. Dies gilt freilich auch umgekehrt: Die Priester, die nach dem alten Usus zelebrieren, können die Zelebration nach den neuen liturgischen Büchern "im Prinzip nicht ausschließen."

Abschließend betont der Brief, dass durch die neue Regelung die Verantwortlichkeit der Bischöfe nicht geschmälert werden solle. Diese sei allerdings "in völliger Übereinstimmung mit den im Motu Proprio festgelegten neuen Bestimmungen" wahrzunehmen.


Pastorale Motive für die Neuregelung

Vergleicht man die vorliegenden Schreiben mit gelegentlichen früheren Äußerungen des Papstes und einigen im Vorfeld artikulierten Befürchtungen, so sind zunächst folgende Punkte festzuhalten:

Anders als von manchen erwartet spricht der Papst nicht von zwei lateinischen Riten der katholischen Kirche (neben dem orientalischen Zweig), sondern nur von einem Ritus in zwei Usus, einem ordentlichen und einem außerordentlichen. Mit dieser Zuordnung wird der Befürchtung entgegnet, eine völlige Gleichstellung im Sinne zweier Riten könne einer Glaubensspaltung Vorschub leisten. Beide Stufen sind gleichermaßen Ausdruck des einen Glaubens der Kirche.

Verhindert wird damit auch der Eindruck, die Aufwertung des alten Ritus geschehe aufgrund von dogmatischen Unzulänglichkeiten des neuen. Freilich wird nicht gesagt, worin der Unterschied zwischen den beiden Stufen des Ritus besteht, der ja die Voraussetzung für die getroffene Neuregelung ist. Vermieden werden soll die Vorstellung, der neuere Ritus sei etwas ganz anderes als die gesamte ältere Tradition.

Dies wird gestützt durch die vom Papst schon früher geäußerte Auffassung eines organischen Wachstums der Liturgie, zu dem im Motu Proprio auch die jüngste Stufe gerechnet wird. Das Messbuch von 1970 ist demnach also keine Neukonstruktion aus den Trümmern des vorherigen, ein "Neubau gegen die gewachsene Geschichte" (Joseph Ratzinger, Aus meinem Leben, Stuttgart 1997, 173).

Leitmotiv neben der Sorge um die innere Versöhnung in der Kirche ist die Sorge um einen würdigen Vollzug. Diesen sieht der Papst in der streng rubrizistisch geregelten älteren Version gewährleistet und erhofft sich von dort aus eine positive Ausstrahlung auf den Umgang mit der Forma ordinaria.

Damit ist nicht die Liturgiereform Papst Pauls VI. als solche, sondern der unwürdige Vollzug der Liturgie nach der neueren Fassung das Problem. Einige der neuen Errungenschaften (Lesungen in der Landessprache, zusätzliche Feste und Präfationen) sollen sogar in die ältere Form übernommen werden.

Die Motive für die Neuregelung sind also vornehmlich pastoraler Natur. Die Regelungen hinsichtlich der Verwendung der älteren Fassung der liturgischen Feiern sind freilich in manchem weiterreichend als bisher angenommen und stellen vor nicht wenige theologische Probleme, die noch eingehender Studien bedürfen, nicht nur von Seiten der Liturgiewissenschaft, sondern etwa auch der Dogmatik und des Kirchenrechts. Auf einige der Probleme sei im Folgenden hingewiesen.

In Bezug auf die Messfeier wird nicht nur der Ordo Missae des Missale von 1962 rehabilitiert, sondern auch die Ordnung des Kirchenjahres (beispielsweise mit Vorfastenzeit und Pfingstoktav), der alte Heiligenkalender mit seinen abweichenden Daten sowie die frühere Leseordnung mit ihren historisch bedingten Verkürzungen. So werden in den Pfarreien mit beiden Formen an einem und demselben Tag unterschiedliche Festzeiten oder Feste gefeiert und unterschiedliche Schrifttexte verkündet.

Unklar ist, ob der Papst mit der Erlaubnis volkssprachlicher Lesungen im alten Usus sich auf die alte oder auf die neue Leseordnung bezieht. Es wird sich erweisen, ob die Differenzen im Sinne berechtigter Vielfalt der Einheit dienen oder zu Entzweiungen führen. Wenn aber eine gegenseitige Vermischung stattfinden soll, ist zu fragen, warum man nicht gleich eine Editio quarta des Missale Romanum angestrebt hat, die die Vorzüge beider Stufen auf einer höheren vereint.

Auf ein besonderes Problem hat der Gesprächskreis "Juden und Christen" beim ZdK in einer Erklärung zu Ostern/Pessach am 4. April 2007 bereits aufmerksam gemacht: auf die Wiedereinführung der Fürbitte für die Juden in der Fassung von 1962, die im Unterschied zu der Fassung von 1970 noch die Bekehrungsbitte enthält. Die Unterzeichner sehen in der Wiederzulassung eine nachhaltige Störung des hoffnungsvoll begonnenen katholisch-jüdischen Dialogs.

Fragen ergeben sich auch in Bezug auf die Sakramentenfeiern. Hier galt die vom Zweiten Vatikanum geforderte Verbindung mit der Wortverkündigung als wegweisende Norm für die künftige Liturgie. Ist die Verkündigung des Wortes etwa bei der Tauffeier für die Anhänger der älteren Form weniger wichtig? Ein besonderes Problem stellt die Wiederzulassung des alten Firmritus dar, da hier die sakramentale Formel durch Papst Paul VI. geändert wurde. Fortan wird das Sakrament auf zwei im Kern voneinander abweichende Weisen gespendet. Auch dies ist nicht unbedingt ein Zeichen für die innere Einheit der Kirche.

Mit besonderem Interesse werden die Auswirkungen des Motu Proprio in Bezug auf den Kirchenraum zu beobachten sein. Hier gibt es bereits Initiativen zum "Rückbau" nachkonziliarer Raumordnungen. Bekanntlich war die Zelebration "versus populum" niemals vorgeschrieben, hat sich aber neben der Volkssprache als das Markenzeichen der Reform nach dem Zweiten Vatikanum durchgesetzt. Werden mit den "Volksaltären" auch die Ambonen wieder verschwinden (diese waren 400 Jahre zuvor zusammen mit den Lettnern ja dem "Vandalismus" des Trienter Konzils zum Opfer gefallen)? Und welche Auswirkungen wird das Motu Proprio auf die laufenden Erneuerungsarbeiten an den Liturgischen Büchern, insbesondere am neuen Gebet- und Gesangbuch haben? Wird die "außerordentliche Form" in den neuen Büchern Berücksichtigung finden?

Neben den praktisch-liturgischen Fragen stellen sich liturgie-theologische: Wie ist die prinzipiell uneingeschränkte Wiedereinführung des älteren Stadiums der Liturgie zu bewerten vor dem Hintergrund, dass Paul Vi. ein und dieselbe Liturgie authentisch fortschreiben wollte, wie dies 400 Jahre zuvor Pius V. getan hatte? Wenn einerseits Widersprüche ausgeschlossen und ein organisches Wachstum der Liturgie vorausgesetzt werden, kann man dann andererseits ein früheres Stadium nahezu gleichberechtigt neben das letztgültige stellen, ohne in Widerspruch zum bisherigen Traditionsverständnis der Kirche zu geraten? Oder bedeutet gleich gültig hier gleichgültig?

Das aber würde dem hohen Anspruch der Liturgie, als lex orandi der lex credendi zu entsprechen, kaum gerecht. Der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" war das Motu Proprio immerhin eine zweiseitige Kolumne im Wirtschaftsteil (!) wert unter dem Gesichtspunkt: "Die katholische Kirche entdeckt den Wettbewerb. Das religiöse Angebot wird sich dadurch verbessern" (Rainer Hank, Wort zum Sonntag: FAS 8. Juli 2007). Ist Benedikt XVI. ein Marktstratege?

Die Liturgiereform Pauls VI. wollte dem Glauben der Kirche durch eine aus der Tradition heraus erneuerte Liturgie einen unserer Zeit gemäßeren Ausdruck verleihen. Wenn dieser Glaubensausdruck nicht mehr für alle Gläubigen verbindlich zu sein braucht, so könnte man daraus folgern, dass jede Stufe des römischen Ritus (zum Beispiel der bonifatianisch-karolingischen Reform) und seiner "Dialekte" (beispielsweise der Kölner Diözesanliturgie) prinzipiell zulässig sei. Sie sind für diejenigen, die sie nicht mehr selbst erlebt haben, nicht ferner als die Liturgie nach den Büchern der Trienter Reform.

Kurz: Was ist das Kriterium für die Bewahrung der Tradition einerseits und deren Weiterentwicklung andererseits? Wie verhält sich das Postulat einer "organischen Liturgieentwicklung" zum neu geschaffenen Faktum des Nebeneinanders zweier Entwicklungsstufen? Wenn von interessierter Seite bereits die Abschaffung des "Novus Ordo Missae" bejubelt und die vollständige Rückkehr zur älteren Form gefordert wird, worum geht es denen, die die Abschaffung des Messbuchs Pius' V. beklagt haben, denn eigentlich? Es kann weder am Latein liegen (das auch nach der neueren Form Liturgiesprache ist), noch an der Kirchenmusik (die in Bezug auf das Ordinarium unverändert, auf das Proprium in neuer Ordnung substantiell dieselbe geblieben ist). Sind es die Gebete zum Offertorium, der andere Beginn mit dem Stufengebet, die Aura des Numinosen? Machen diese teilweise auch im Rahmen der jetzigen Normalform zu erfüllenden Desiderate einen solchen Aufwand notwendig? Oder geht es vielen unausgesprochen doch um Grundsätzlicheres als um die Gestalt des Ritus? Soll letztendlich mit der erneuerten Liturgie auch das ganze Zweite Vatikanum Episode werden?


Werden neue Gräben aufgeworfen?

In die Zeit der Vorbereitung des Zweiten Vatikanischen Konzils fiel der Eucharistische Weltkongress in München 1960. Im Dokumentarband reflektierte der junge Bonner Theologieprofessor Josef Ratzinger anhand des Gegensatzpaares Universalismus und Partikularismus seine Erfahrungen: "Die künftige Gestalt der Liturgie wird - das ist eine Lehre des Eucharistischen Kongresses - beiden Bewegungen Rechnung tragen müssen. Sie, die die Pax Dei verkündet, kann nicht nur im überzeitlichen Gewand der Pax Romana auftreten, sie muß den Menschen hier und heute ansprechen, und das heißt: sie muß zur muttersprachlichen Form greifen. Aber sie, die schon immer das Zeichen der Einheit der Menschheit von der Einheit Gottes her war, kann in einem Zeitalter, in dem diese Einheit auch im weltlichen Bereich immer mehr zur konkreten Tatsache wird, sich nicht an die jeweiligen Besonderheiten verlieren, sondern muß in und mit der Besonderheit auch die Einheit ausdrücken."

Dieses Verlangen nach Einheit steht auch hinter zahlreichen Äußerungen Ratzingers in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Vatikanum. Bei seinem Festvortrag anlässlich des 40. Jahrestages der Liturgiekonstitution am 4. Dezember 2003 in Trier sprach der damalige Kardinal Ratzinger von "Spannungen zwischen dem Verlangen, die Liturgie der alten Kirche wieder in ihrer Ursprünglichkeit zu erneuern und dem Bedürfnis, die Liturgie in der Gegenwart anzusiedeln; Spannungen zwischen dem konservativen und dem schöpferischen Element; Spannungen zwischen dem Anbetungscharakter der Liturgie und ihren katechetischen und pastoralen Aufgaben".

Der Kardinal betonte, dass diese Spannungen im Wesen der Liturgie selbst begründet seien und dass das Konzil sich um das innere Gleichgewicht zwischen diesen verschiedenen Aspekten bemüht habe; "aber in der Ausführung des konziliaren Auftrags konnte es leicht geschehen, dass die Balance des Konzilstextes in eine bestimmte Richtung aufgelöst wurde; deshalb ist Rückbesinnung auf die wirkliche Aussage des Konzils immer neu vonnöten".

Das Motu Proprio von Benedikt XVI. ist wie schon die unlängst erlassene Richtlinie über die rechte Übersetzung des pro multis" im Kelchwort des Einsetzungsberichts auf der Linie solch einer spannungsvollen, aber doch substantiellen Einheit zu interpretieren. Ob die erwünschten Ziele erreicht oder damit erst neue Gräben aufgeworfen werden, wird sich zeigen.

Die hier angedeuteten Probleme sollten nicht dramatisiert werden. Viel hängt davon ab, wie die Bischöfe - hoffentlich in gemeinsamer Abstimmung - das Motu Proprio umsetzen. Allerdings wird ihnen dafür wenig Spielraum zugestanden. Der Papst lädt die Bischöfe zu einem Erfahrungsbericht drei Jahre nach der Einführung der Neuregelung am 14. September dieses Jahres ein. Diese Zeit sollte genutzt werden, das Anliegen des Papstes nach Vertiefung der liturgischen Bildung aufzugreifen und umzusetzen. Manche Anliegen verbinden die Befürworter beider Formen miteinander, wenn ihnen die Liturgie der Kirche wichtig ist. Insofern geht von dem Motu Proprio ein Impuls aus, die geistlichen Reichtümer der liturgischen Tradition zu entdecken und sie als lebendiges Glaubensgut zu vermitteln.


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Albert Gerhards (geb. 1951) ist seit 1989 Professor für Liturgiewissenschaft an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Bonn. Studien in Innsbruck, Rom und Trier. Von 1984 bis 1989 war er Professor für Liturgiewissenschaft an der Universität Bochum. Mitherausgeber der Reihen "Praktische Theologie heute" und "Bild-Raum-Feier. Kirche und Kunst im Gespräch"; zahlreiche Publikationen, besonders in den Bereichen Geschichte, Theologie und Praxis der Liturgie (Schwerpunkt: Eucharistisches Hochgebet, Judentum und Christentum), Ökumene, Kirchenmusik, Kirche und Kunst.


Literatur:

Joseph Kardinal Ratzinger (Benedikt XVI.), Der Geist der Liturgie. Eine Einführung (Freiburg-Basel-Wien 2000).
Joseph Kardinal Ratzinger, 40 Jahre Konstitution über die heilige Liturgie. Rückblick und Vorblick: LJ 53 (2003) 209-221.
Albert Gerhards, Der Geist der Liturgie. Zu Kardinal Ratzingers neuer Einführung in den christlichen Gottesdienst: HerKorr 54 (2000)263-268.
Albert Gerhards, Erneuerung von innen. Die unabgeschlossene Wirkungsgeschichte der Liturgiereform: Das unerledigte Konzil. 40 Jahre Zweites Vatikanum = Herder Korrespondenz Spezial (2005) 30-34.
Albert Gerhards, Die "alte" und die "neue" Messe. Versuch einer Sondierung der Positionen: gd 41 (2007) 57-59.
Magnus Striet (Hg.), Gestorben für wen? Zur Diskussion um das "pro multis" (Freiburg 2007).

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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
61. Jahrgang, Heft 8, August 2007, S. 398-403
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veröffentlicht im Schattenblick zum 14. September 2007