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KIRCHE/1322: Die US-Kirche im Jahr der Präsidentenwahl (Herder Korrespondenz)


Herder Korrespondenz
Monatshefte für Gesellschaft und Religion - 2/2012

In Sorge um die Religionsfreiheit
Die US-Kirche im Jahr der Präsidentenwahl

Von Ferdinand Oertel



Die katholische Kirche in den USA sieht ihren verfassungsmäßig geschützten Raum für freie Gestaltung ihres Lebens nach den Grundsätzen des Glaubens durch mehrere gesetzliche Anordnungen der jüngsten Zeit bedroht. Die Bischöfe haben daher ein Jahr vor der Präsidentschaftswahl ein Ad Hoc-Komitee für Religionsfreiheit gegründet.


In der zweiten Adventswoche 2011 hielt der Vorsitzende der amerikanischen Bischofskonferenz, Erzbischof Thimothy M. Dolan von New York - demnächst Kardinal -, eine bemerkenswerte Rede zur Eröffnung des neuen Studienprojektes der Notre Dame University in Southbend bei Chicago über die Menschenwürde. Bemerkenswert war bereits der Ort, denn Notre Dame hatte vor zwei Jahren heftigen Protest von Bischöfen hervorgerufen, als Präsident John Jenkins vom Orden des Heiligen Kreuzes den neu gewählten demokratischen US-Präsidenten Barack Obama zur Jahresabschlussfeier einlud und ihm die Ehrendoktorwürde verlieh.

Grund für die Kritik war die politische Haltung Obamas in Fragen des Lebensschutzes, etwa bei Abtreibungen und aktiver Sterbehilfe. Jenkins hatte die Einladung damit verteidigt, dass die Universität Notre Dame immer ein Ort des offenen Dialoges gewesen sei. Andererseits hatte er ein Jahr später das katholische Profil der Universität durch die Gründung eines Studienprojektes über den Lebensschutz gestärkt und bekräftigte dies erneut Ende vorigen Jahres mit dem Projekt über Menschenwürde und die Einladung an den Vorsitzenden der Bischofskonferenz.


Erzbischof Dolan nutzte die Gelegenheit, um die Position der Kirche in Fragen von Menschenwürde und Menschenrechten in der Öffentlichkeit unter einem neuen Aspekt darzulegen. Er frage sich, so Dolan, warum die Kirche bislang unter den Dogmen ihrer Glaubenslehre neben der Dreifaltigkeit, der Menschwerdung Jesu, der Erlösung und der Eucharistie nicht auch die Menschenwürde aufgenommen habe: Sie sei ein Grundwert und noch mehr als das, nämlich normativ. "Meine Identität, meine Persönlichkeit", so der Erzbischof, "hängt nicht davon ab, ob ich eine Green Card besitze, ein Aktienportfolio, ein Haus oder ein akademisches Diplom", auch nicht von dem den man liebt und weder von Rasse, Religion, Geschlecht, sozialem Stand, Besitz, Pass oder Gesundheitsversicherung, sondern "allein von meinem Wesen als ein Geschöpf Gottes".

Die Kirche sei kein "launischer und pessimistischer Meckerer", sondern lade vielmehr jeden dazu ein, die Wahrheit, Schönheit und Güte in sich selbst zu entdecken. Dolan wurde konkret, als er unterstrich, dass die Lehre von der unveräußerlichen Würde jedes Menschen die Kirche zu ihren Positionen des Lebensschutzes verpflichte, etwa in der Frage der Abtreibung und der Todesstrafe, ebenso bei der Integration der Einwanderer und in allen sozial-karitativen Bereichen.


Ein Dauerkonflikt mit der Regierung

Aufschlussreich war, wie der New Yorker Erzbischof in einer offenen Diskussion mit dem Publikum auf die Frage eines Studenten nach der Lehre der Kirche über die Gewissensfreiheit antwortete. Der Student hatte darauf hingewiesen, dass in Notre Dame auch viele Nichtkatholiken studieren, die im Gegensatz zur Lehre der Kirche glaubten, dass Verhütungsmittel und Sterilisation moralisch verantwortbar seien. Nun wollte er wissen, wie der Konflikt zwischen zwei Gewissenshaltungen entschieden werden kann, ohne dass gegen die für beide Seiten geltende Menschenwürde verstoßen wird. Dolan erklärte, die Kirche erkenne jedem das Recht auf seine persönliche Gewissensentscheidung zu, erwarte von ihren Gläubigen aber, gemäß der kirchlichen Lehre zu entscheiden. Das sei keine Verurteilung derjenigen, die nicht dem katholischen Glauben anhängen, vielmehr gehe es darum, dass keine Regierung jemals das Recht auf Gewissensfreiheit beschneiden dürfe. Das wiederum sei nicht nur ein katholisches Prinzip, sondern ein allgemeines.

Damit spielte Dolan auf das Problem an, das die amerikanischen Bischöfe gegenwärtig als das vordringlichste in ihrem Land ansehen: die Bedrohung der Gewissensfreiheit durch gesetzliche Maßnahmen der Regierung. Dadurch sehen die Bischöfe die Religionsfreiheit als ein Grundprinzip der amerikanischen Demokratie bedroht. Die katholische Kirche hatte seit der Gründung der Vereinigten Staaten mit der Trennung von Staat und Kirche im Rahmen des verfassungsgeschützten kirchlichen Wirkens eine stabile Subkultur entwickelt, in der sie ein eigenes Erziehungs- und Gesundheitswesen frei entfalten konnte. Nach der fortschreitenden Verschmelzung dieser Subkultur in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts mit dem Mainstream der Bevölkerung hatte die gesellschaftspolitische Entwicklung immer wieder zu Einzelkonflikten zwischen Regierung und Kirche geführt, die sich in den letzten Jahrzehnten auf den Lebensschutz konzentrierten.


Seit dem Amtsantritt von Barack Obama geriet die Kirche mit seiner demokratischen Regierung jedoch in einen anwachsenden Dauerkonflikt. Als im vergangenen Jahr neben einer ganzen Reihe von einschränkenden Ausführungsmaßnahmen zur staatlichen Gesundheitsreform auf Staatsebene und in mehreren Bundesstaaten gesetzliche Regelungen über gleichgeschlechtliche "Ehen", aktive Sterbehilfe und Embryonenforschung traten, von denen viele im Gegensatz zu kirchlichen Positionen stehen, sowie staatliche Spar- und Kürzungsmaßnahmen ihre sozial-karitative Arbeit einzuschränken drohten, gründeten die Bischöfe im Oktober ein Ad Hoc-Komitee für Religionsfreiheit.

In einer Presse-Erklärung stellte Erzbischof Dolan fest: "Nie zuvor sind wir in unserer Fähigkeit so herausgefordert worden, uns auf dem Markt der öffentlichen Meinung als Gläubige und Helfer in unserer Gesellschaft zu engagieren. Wenn wir jetzt nicht handeln, werden die Folgen schwerwiegend sein." Dolan kündigte an, dass das zehnköpfige Komitee mit einer Reihe nationaler karitativer und sozialer Organisationen, mit ökumenischen und interreligiösen Partnern und Wissenschaftlern zusammenarbeiten werde, um die Religionsfreiheit zu verteidigen.

Der Vorsitzende der Bischofskonferenz nannte eine Reihe verschiedener Maßnahmen, die die freie Ausübung religiöser Überzeugungen bedrohten: Die kürzliche Stellungnahme des Justizministeriums, dass der im "Defense of Marriage Act" geregelte gesetzliche Schutz der Ehe als traditionelle Verbindung von Mann und Frau überholt sei; die Regelung des Gesundheitsministeriums, dass alle privaten Krankenversicherungen die Versorgung mit Verhütungsmitteln und Sterilisationen als Pflichtleistungen abdecken müssen; dass auch kirchliche Einwanderer- und Flüchtlingshilfen Verhütung und Abtreibung in Kooperationsverträgen mit Regierungen einbeziehen müssten.


Religion nur noch als Privatangelegenheit?

Zum Vorsitzenden wurde Bischof William E. Lori von Bridgeport, Connecticut, ernannt, der bereits im Oktober 2010 in einem Hirtenbrief "Lasst die Freiheitsglocken läuten" darauf hinwies, dass die Religionsfreiheit auf Bundes- und Landesebene durch "unfreundliche Gesetze oder Regelungen bedroht wird, die die Arbeit der Kirche bedrohen oder zu bedrohen scheinen". Das betreffe nicht nur Katholiken, aber eine Reihe von Gesetzesmaßnahmen schienen direkt gegen die katholische Kirche gerichtet.


Worum es prinzipiell geht, war beim traditionellen jährlichen Treffen der Bar Association, eines Verbandes der Höheren Anwaltschaft, Ende September in Washington DC deutlich geworden. Beim Dinner bezog Bischof Thomas J. Paprocki von Springfield, Illinois, sich auf eine zugespitzte Äußerung von Kardinal Francis E. George von Chicago, der zwischen dem Kommunismus und der gegenwärtigen Säkularisierung die gleiche Haltung gegenüber der Religionsfreiheit festgestellt hatte. Beide Systeme strebten nach Ansicht des Chicagoer Kardinals eine Gesellschaft an, in der Gott in der Öffentlichkeit keinen Platz mehr habe, Religion als reine Privatangelegenheit angesehen werde und kirchliches Auftreten außerhalb des Kirchenraumes sowie Mitwirken an der Gesellschaftspolitik verboten sei.


Das Vorgehen solcher politischer Systeme gegen Kirchen, so Bischof Paprocki, der als Jurist selbst seit 30 Jahren Mitglied des örtlichen Verbandes der Anwaltschaft ist, zeige sich in der Gestalt von Gesetzen gegen angebliche Diskriminierungen Nichtgläubiger. Als Folge werde den Kirchen vorgeschrieben, wen sie überhaupt beschäftigen dürfen und unter welchen Voraussetzungen, bei deren Nichtbeachtung sie staatliche Förderungen verlieren. Der Bischof brachte die in der amerikanischen Verfassung verankerte Religionsfreiheit auf den Punkt: Der erste Verfassungszusatz der USA schütze "freie Ausübung der Religion", was sowohl Erziehung als auch Gesundheitsfürsorge und überhaupt jedes Mitwirken in den Bereichen umfasse, das dem Wohl des Menschen diene und seiner Würde entspreche. Diese Freiheit stehe jetzt in Amerika auf dem Spiel

Die Bekanntgabe der Gründung einer eigenen Bischofskomission für die Religionsfreiheit führte in der Washingtoner Politik zu hektischen Aktionen. Noch vor der Herbstkonferenz der Bischöfe Mitte November kam es zu zwei außerordentlichen Ereignissen: Am 26. Oktober 2011 fand eine Anhörung in einem Unterkomitee des Justizministeriums zur Religionsfreiheit statt, und am 8. November empfing Präsident Obama den Vorsitzenden der Bischofskonferenz im Weißen Haus zu einem Gespräch über dieses brennende Thema der Kirche.


Zu der Anhörung war Bischof Lori eingeladen sowie der Geistliche Barry W. Lynn als Generalsekretär des Verbandes "Americans United for Separation of Church and State" und Direktor Coley vom Washingtoner Büro des "American Center for Law and Justice". Nach der üblichen Vereidigung trug Bischof Lori vor, dass die Unabhängigkeitserklärung und die amerikanische Bill of Rights die Regierung verpflichteten, "Religionsfreiheit als fundamentales Recht anzuerkennen und zu schützen, unabhängig von zeitbedingten moralischen und politischen Entwicklungen". Die katholischen Bischöfe und die Kirche hätten in der letzten Zeit jedoch alarmierende Anzeichen dafür gesehen, die dieses nationale Erbe bedrohen.

Auf eine Zwischenfrage aus dem Anhörungskomitee, ob die Kirche einen Unterschied sehe zwischen Staatsangestellten, die sich gegen rassenverschiedene Ehen aussprechen, und Gläubigen, die sich gegen Homo-Ehen wenden, antwortete der Bischof, die Rassenfrage sei etwas grundlegend anderes als die Frage der Ehe in Form der einmaligen Verbindung eines Mannes und einer Frau. Es sei "verwirrend", wenn man eine Parallele zwischen Rassendiskriminierung und Opposition gegen gleichgeschlechtliche Ehen ziehe.


Bischof Lori forderte das Repräsentantenhaus auf, drei Gesetzesvorhaben voranzutreiben, die langfristig Religions- und Gewissensfreiheit für Gläubige in allen Arbeits- und Lebensbereichen garantieren, vor allem im Gesundheitswesen: den "Protect Life Act", den "Abortion Non-Discrimination Act" und den "Respect for Rights of Conscience Act". Unglücklicherweise liege gerade die Anwendung des Rechts auf Gewissensfreiheit bei den Bundesstaaten, sodass eine gesamtstaatliche Gesetzgebung notwendig sei. Außerdem drängte der Bischof die Abgeordneten darauf, Gesetzesinitiativen zu widersprechen, die den "Defense of Marriage Act" aufheben wollen, der die Ehe zwischen Mann und Frau gesetzlich schützt.


Das Gespräch zwischen Präsident Obama und Erzbischof Dolan

Rechtsberater Codey erklärte, dass angesichts dauernder Änderungen in der Diskriminierungs- und Belästigungs-Gesetzgebung Gläubige oft vor die schwierige Wahl gestellt würden, entweder gegen ihre Glaubensauffassung zu verstoßen oder von staatlichen und örtlichen Behörden bestraft zu werden. Er wies auch darauf hin, dass jüngste Gerichtsentscheidungen die Religionsfreiheit auch an öffentlichen Schulen und Colleges beschränkt hätten.

Im Gegensatz dazu widersprach der Generalsekretär des Verbandes für Trennung von Kirche und Staat der Behauptung, dass Religionsfreiheit eingeschränkt werde. Die größten Probleme in Bezug auf die religiöse Freiheit, so Reverend Lynn, hätten vielmehr diejenigen, die kleinen Religionsgemeinschaften und Sekten angehörten, beziehungsweise Ungläubige: "In einem der Länder der Welt, in denen es die größten religiösen Verschiedenheiten gibt, sehen sich Angehörige weniger bekannter Glaubensrichtungen und Atheisten religiöser Nötigung und Diskriminierung am Arbeitsplatz gegenüber." Die Anhörung galt wie üblich der Information eines Kongressausschusses für weitere Erörterungen im Justizministerium.


Der Vorsitzende der Bischofskonferenz ging noch einen Schritt weiter und bat um ein Gespräch mit Präsident Obama. Dieses fand am 8. November im Weißen Haus als "Privatgespräch" statt. Offizielle Verlautbarungen gab es darüber deshalb nicht, doch auf der Vollversammlung der Bischöfe berichtete Dolan, dass er das Oval Office hinsichtlich des Themas Religionsfreiheit "etwas beruhigter verlassen habe als beim Eintritt". Der Präsident sei "sehr vertrauensvoll" und habe versprochen, sich "ausführlich und intensiv" mit den Konflikten zwischen Kirche und Staat zu befassen, die in letzter Zeit von den Bischöfen als Bedrohung der Religionsfreiheit angesehen würden. Es habe Bereiche gegeben, in denen beide übereinstimmten, und andere, in denen sie geteilter Meinung seien. Doch, so der Vorsitzende der US-Bischofskonferenz, "ich fand den Präsidenten der Vereinigten Staaten sehr offen für die Sensibilität der Katholiken" hinsichtlich der freien Ausübung ihrer Religion. Aufgrund dessen sehe er für die aktuellen Fragen zur Religionsfreiheit "einen Raum für Kompromisse - solange wir nicht unsere Prinzipien kompromittieren".


Bei der Eröffnung der Vollversammlung hatte Erzbischof Dolan ein ernüchterndes Bild der innerkirchlichen Situation in den USA gezeichnet: Wenn man die Kirche "im Talk-Show-Vokabular als spirituelle Familie" betrachte, leide sie "an einigen Funktionsstörungen". Man könne die ernüchternden Statistiken nicht ignorieren, wonach immer mehr Gläubige die Kirche nicht mehr in Übereinstimmung mit Jesus ansähen, ganz zu schweigen von Nichtgläubigen. Viele Gläubige entfernten sich von der Kirche, verzweifelten an ihr, würden lasch, träten zu einer anderen Kirche über oder gäben ihr religiöses Leben ganz auf. "Wenn uns dies alles nicht erschaudert", so Dolan wörtlich, "weiß ich nicht, was uns sonst noch erschüttern könnte." Er rief seine Bischofskollegen auf, der Welt zu vermitteln, dass die Sündhaftigkeit von Mitgliedern der Kirche kein Grund dafür sei, der Kirche und ihrer ewigen Wahrheit den Rücken zuzukehren. Die vordringlichste pastorale Herausforderung für die Bischöfe bestehe darin, "die Wahrheit, die Leuchtkraft, die Glaubwürdigkeit und die Schönheit der Kirche" zurückzugewinnen.


Als die Bischofskonferenz zum "business as usual" überging, standen auch diese Punkte ganz im Zeichen eines neuen Aufbruchs. Im liturgischen Bereich soll die Einführung des neuen Missale, dessen englische Übersetzung nach zehnjährigen Verhandlungen mit dem Vatikan endlich genehmigt worden war, mit dem neuen Kirchenjahr zu einer Verlebendigung des Gottesdienstes genutzt werden. In allen Bistümern und Pfarreien ist dafür eine halbjährige intensive Vorbereitung für Kleriker, Organisten, Vorbeter, andere Ehrenamtliche und Gemeindemitglieder durchgeführt worden. Im pastoralen Bereich ist der Schwerpunkt auf Familie und Glaubensunterweisung verstärkt worden. Und für den gesellschaftspolitischen Bereich wurde eine ständige Unterkommission für die Gesundheitsreform eingerichtet, die sich speziell mit den inkriminierenden Gesetzen befassen will. Politisch intensiviert werden sollen auch die Bemühungen um gesetzliche Initiativen für die illegalen Einwanderer, die in der Mehrzahl katholisch sind.

Für diese Wege in die Zukunft fanden die amerikanischen Bischöfe Rückenstärkung bei den seit Ende November 2011 laufenden Ad Limina-Besuchen in Rom bei Benedikt XVI. Erzbischof Dolan, der die erste von 15 Gruppen anführte, gab in seinem Bericht nicht nur einen Überblick über positive Entwicklungen in der Evangelisierung, der Priesterausbildung und der Integration der zahlreichen Hispanics in die Kirche, sondern brachte auch die Herausforderungen durch die fortgeschrittene Säkularisierung und die Gefahren für die Demokratie durch die Bedrohungen der Religionsfreiheit zur Sprache.


Appell an die Bischöfe

Der Papst thematisierte in seiner Ansprache zunächst den Missbrauchsskandal, dessen Ausmaß und Folgen ihn bei seinem Besuch 2008 tief betroffen hätten. Er hoffe, dass die gewissenhaften Anstrengungen der Kirche, dieser Realität zu begegnen, der ganzen Gesellschaft helfen werde, die Gründe, das wahre Ausmaß und die zerstörerischen Auswirkungen des sexuellen Missbrauchs zu erkennen und "auf diese Plage, die alle Bereiche der Gesellschaft betrifft", wirkungsvoll zu reagieren. Erst danach ging Benedikt XVI. auf die speziellen gesellschaftspolitischen Bedrohungen der Kirche in den USA ein und machte klar, dass die Kirche diesen nur begegnen könne, wenn sie selbst sein eigenes größtes Anliegen verfolge: die Neuevangelisierung.

Der Papst wies darauf hin, es gebe nicht nur für die Gläubigen die Herausforderung der ständigen christlichen Zeugenschaft, sondern auch viele Menschen unabhängig von ihrer religiösen oder politischen Haltung seien um die Zukunft der demokratischen Gesellschaft besorgt. Trotz der Versuche, die Stimme der Kirche auf dem öffentlichen Marktplatz zum Schweigen zu bringen, erwarteten viele Menschen guten Willens von ihr Weisheit, Einsicht und gesunde Führung in der weitreichenden gegenwärtigen Krise. Das, so wandte Benedikt XVI. sich direkt an die Bischöfe, könnte auch positiv gesehen werden als ein Ruf nach den prophetischen Dimensionen ihres Hirtendienstes: demütig, aber inständig die moralische Wahrheit auszusprechen und ein Wort der Hoffnung zu sagen, das die Herzen und Gedanken öffnet für die Wahrheit, die frei macht. Neuevangelisierung sei nicht nur etwas, was nach draußen getragen werden müsse, sondern "wir selbst sind die ersten, die eine Neuevangelisierung brauchen".


Schließlich sprach der Papst den amerikanischen Bischöfen seine Anerkennung dafür aus, dass sie gemeinsam und individuell ihre pastoralen Visionen in die Öffentlichkeit tragen. Ausdrücklich erwähnte er neben der Stellungnahmen zur Institution der Ehe die Erklärung "Forming Conscience for Faithful Citizenship", das jüngste Statement der Bischöfe zu den diesjährigen Präsidentschaftswahlen, in dem sie zusammenfassen, was sie als größte Herausforderung ihres gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Auftrags ansehen.


Wahlhirtenbrief ohne Echo?

Um nicht eines unerlaubten aktuellen Eingriffs in die Novemberwahlen 2012 bezichtigt zu werden, hat die US-Bischofskonferenz bereits im Oktober 2011 ihre Erklärung zur Gewissensbildung veröffentlicht. Es war nicht überraschend, dass es sich prinzipiell um den gleichen Text wie vor der letzten Präsidentenwahl handelte, der allerdings in einer neuen Einleitung Bezug auf aktuelle gesellschaftspolitische Fragen nimmt. Zu Anfang wiederholen die Bischöfe, dass ihr Statement kein "voter's guide", kein "Wahlführer" sei und den Gläubigen nicht sagen wolle, wen sie zu wählen hätten. Vielmehr gehe es um moralische Prinzipien, die an eine Reihe von wichtigen politischen Themen angelegt werden müssten. Gewarnt wird vor "fehlgeleiteten Gewissensaufforderungen", fundamentale moralische Forderungen zu ignorieren, sie nur auf ein oder zwei Gebiete anzuwenden oder die Wahlentscheidung damit zu rechtfertigen, sie betreffe überparteiliche, ideologische oder persönliche Interessen.

Unter sechs aufgelisteten Themen für moralische Grundsatzentscheidungen steht nicht mehr - wie von einigen Bischöfen vor der letzten Wahl als entscheidend betont - allein die Abtreibung an der Spitze, sondern sie ist ergänzt durch "andere Bedrohungen des Lebens und der Würde derer, die verwundbar, krank und ungewünscht sind". An zweiter Stelle steht die Gewissensfreiheit für diejenigen, die in katholischen Gesundheitsdiensten, in der Erziehung und im sozialen Bereich tätig sind. Auch der dritte Punkt betrifft die gegenwärtige Bedrohung eines moralischen Grundwertes: die Bestrebungen, den gesetzlichen Schutz der Ehe als dauerhafte und auf Fortpflanzung angelegte Verbindung eines Mannes mit einer Frau aufzuheben zugunsten gleichgeschlechtlicher Verbindungen.


Die drei anderen Bereiche betreffen den Umgang mit den Folgen der Wirtschaftskrise, die viele Menschen in Arbeitslosigkeit, Armut und Hunger geführt hat; die menschenunwürdige Behandlung der Einwanderer; und schließlich die Folgen von Krieg, Terror und Gewalt, wobei besonders auf fehlende Gerechtigkeit, Sicherheit und Frieden im Heiligen Land und im Mittleren Osten hingewiesen wird. Im Statement wird betont, nicht alle sechs Punkte seien von gleichem Gewicht, sondern differenziert werden müsse zwischen Angelegenheiten, bei denen die eindeutige Verpflichtung besteht, sie als nicht zu rechtfertigende Übel abzulehnen (womit die ersten drei Punkte gemeint sind) und denjenigen, die zum Handeln für Gerechtigkeit und Gemeinwohl verpflichten (was die letzten drei betrifft).

So ab- und ausgewogen diese Wahlerklärung auch ist, so wenig Illusionen können die Bischöfe sich über ihre Akzeptanz machen. Schon 2008 waren sie enttäuscht worden, dass die Mehrzahl der Katholiken erstmals die demokratischen Kandidaten und damit Barack Obama zum Präsidenten gewählt hatten, dessen politische Positionen gerade in wesentlichen Moralfragen von der kirchlichen Lehre abweichen. Eine Umfrage des CARA-Instituts an der katholischen Georgetown University in Washington hat jetzt ergeben, dass sich vor vier Jahren nur wenige Katholiken an den Wahlkriterien der Bischöfe orientiert haben. Nur 16 Prozent hatten überhaupt von der Erklärung zur Gewissensbildung gehört, nur ein Prozent hatte sie ganz, nur weitere zwei Prozent hatten Kurzfassungen davon gelesen.


Deshalb will die Kommunikationsabteilung der Bischofskonferenz diesmal für eine größere Verbreitung in allen katholischen Medien sorgen, angefangen bei der Kirchenpresse bis zu Internet-Plattformen. Erste Erfolge sind bereits aus der üblichen Umfrage des Catholic News Service CNS zum Jahreswechsel über die zehn Top-Stories 2011 in den katholischen Medien zu erkennen: Dem Spitzenreiter "Einführung des neuen Missale" folgen bereits auf den Plätzen 4 und 6 die Themen Gewissensfreiheit im Gesundheitssystem und Religionsfreiheit.


Ferdinand Oertel (geb. 1927) promovierte mit einer Arbeit über Thomas Wolfe. Seine berufliche Laufbahn im katholischen Journalismus führte ihn zur Katholischen Nachrichtenagentur, zur Zeitschrift "Die christliche Familie", zur Aachener Kirchenzeitung und zu "Leben und Erziehen". Seit dem Studium in St. Louis regelmäßig Aufenthalte in den USA. Langjährige Mitarbeit bei der Herder Korrespondenz.

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Quelle:
Herder Korrespondenz - Monatshefte für Gesellschaft und Religion,
66. Jahrgang, Heft 2, Februar 2012, S. 78-82
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. Juni 2012