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STANDPUNKT/089: Rechtsbruch in den griechischen Flüchtlingslagern beenden - Aufnahme statt Symbolpolitik (RAV)


Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e. V. - 16.06.2020

Rechtsbruch in den griechischen Flüchtlingslagern beenden: Aufnahme statt Symbolpolitik


Über 30.000 Menschen leben weiter in den griechischen Flüchtlingslagern unter katastrophalen und menschenunwürdigen Bedingungen. Auf der heutigen Bundespressekonferenz (BPK) in Berlin hat auch der RAV Stellung genommen und die Evakuierung der Flüchtlingslager sowie ein Ende der anhaltenden Rechtsbrüche gefordert.

Die griechische Rechtsanwältin Giota Massouridou, ELENA-Koordinatorin für Griechenland und Vize-Präsidentin der Europäischen Demokratischen Anwältinnen (EDA) erklärt: »Die unmenschlichen Bedingungen in den griechischen Hotspots werden auf nationaler Ebene in vielen EU-Mitgliedsstaaten weithin kritisiert, auch in Griechenland. Zahlreiche Berichte und Medieninformationen belegen die katastrophale Lage. Es geht ja nicht nur Moria, sondern um insgesamt fünf Hotspots (Leros, Kos, Samos, Chios und Lesbos). An jedem dieser Orte wird seit Jahren die Menschenwürde vergessen«.

Seit Monaten wird durch selbstorganisierte Gruppen, Kirchen, Kommunen, Flüchtlingsorganisationen sowie der griechischen und internationalen Zivilgesellschaft gefordert, Geflüchtete aus Griechenland aufzunehmen. Martina Mauer vom Flüchtlingsrat Berlin e.V. berichtet dazu: »Wir bekommen laufend Anfragen von Menschen, die entsetzt sind über die Situation in den griechischen Lagern und fragen, was sie tun können, damit Menschen nach Deutschland kommen«.

Die Bundesregierung sieht sich so massiv mit der Forderung nach Aufnahme konfrontiert, dass sie in einer zutiefst beschämenden Aktion wenige Kinder aus Griechenland einfliegen lässt, die Deutschland im Rahmen des Familiennachzugs größtenteils sowieso hätte aufnehmen müssen.

Einige Bundesländer wollen nun Landesaufnahmeanordnungen nach § 23 AufenthG verabschieden. Diese erfordern das Einvernehmen des Bundesinnenministeriums. Wird dieses nicht erteilt, müssen diese Länder den Rechtsweg beschreiten und das Bundesinnenministerium verklagen.

Hierzu Rechtsanwältin Berenice Böhlo, Bundesvorstandsmitglied des RAV: »Der Bund wird weiter jede echte Aufnahme blockieren. Dieses Nichthandeln ist konsequente Folge der Vorschläge des Bundesinnenministeriums, wonach das Recht auf Schutz und Asyl in Zukunft nur noch Gegenstand von Grenzverfahren sein soll. Das Leiden in den Hotspots ist Ergebnis zielgerichteter Politik, die auf Abschreckung um jeden Preis setzt«.

Die Bundesländer sollten alle ihnen zur Verfügung stehenden Wege ausschöpfen, um eine Aufnahme von Geflüchteten aus Griechenland durchzusetzen und sich nicht zum Komplizen des Bundes machen. Dazu Rechtsanwalt Dr. Matthias Lehnert (RAV): »Wenn die Länder wirklich Menschen aufnehmen wollen, müssen sie alle rechtlichen Spielräume jenseits der Aufnahme im Einvernehmen des Bundes nutzen. Sie können etwa Stipendienprogramme zur Ermöglichung des Schulbesuchs verabschieden und Familientrennungen durch eine großzügige Handhabe des gesetzlichen Rahmens beenden. Der Verweis auf den Bund als Rechtfertigung für ihr Nichthandeln ist inakzeptabel«.

In der gegenwärtigen Situation mit Aufnahmeprogrammen voranzugehen, die zu einer echten Entlastung vor Ort führen, bedeutet - anders als das Bundesinnenministerium behauptet - nicht weniger, sondern mehr europäische Solidarität.

Die Reaktion auf die jahrelange Krise des europäischen Asylsystems muss ein verlässlicher europäischer Solidaritätsmechanismus einer Koalition aufnahmebereiter Länder sein.

»Die aktuelle gesamteuropäische Verantwortungslosigkeit und die Außerkraftsetzung des Rechts an den Grenzen und innerhalb der EU stellen das Rechtssystem als Ganzes in Frage«, so RAV-Anwalt Dr. Lehnert. »Wir sind nicht bereit, uns an diesen Rechtsbruch zu gewöhnen«.

Den sogenannten EU-Türkei-Deal, der explizit kein Rechtsakt der europäischen Union und damit auch von keinem europäischen Gericht überprüfbar sein soll, ist ebenso wie das Hotspot-System kein taugliches Modell für ein europäisches Asylrecht. Stattdessen ist geltendes Recht durchzusetzen.

Familienzusammenführungen im Dublin-Verfahren dürfen nicht länger durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge systematisch verzögert und verunmöglicht werden. Die Praxis der Push-Backs und Zurückweisungen von Schutzsuchenden an den europäischen Außengrenzen ist sofort zu beenden. Erforderlich ist die Einhaltung der Regelungen der internationalen Seenotrettung. FRONTEX soll keine Allianz mit libyschen Milizen - es gibt keine 'Libysche Küstenwache' - eingehen, sondern sich an effektiver Seenotrettung beteiligen. Schutzsuchende aus libyschen Foltergefängnissen sind umgehend zu evakuieren.

»Die Aufnahme von Geflüchteten aus Griechenland wird diese Probleme nicht lösen. Das darf aber keine Ausrede für Nichthandeln sein«, so RAV-Anwältin Böhlo, »wir fordern daher die Aufnahme durch Bund und Länder jetzt«.


Hintergrundmaterial:
https://www.rav.de/projekte/griechische-lager-evakuieren/
https://www.ecre.org/our-work/elena/
Avocats Européens Démocrates-European Democratic Lawyers,
http://www.aeud.org/

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Quelle:
Pressemitteilung vom 16. Juni 2020
Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e. V.
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E-Mail: kontakt@rav.de
Internet: www.rav.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Juni 2020

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