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OFFENER BRIEF/005: Blockupy Frankfurt - Offener Brief an Polizei und Justiz (RAV)


Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e. V. - 15.05.2012

Blockupy Frankfurt: Offener Brief an Polizei und Justiz

- RAV fordert Einhaltung menschen- und verfassungsrechtlicher Vorgaben
- Präventivgewahrsam verstößt gegen die Europäische Menschenrechtskonvention



In einem offenen Brief hat der RAV den Polizeipräsidenten der Stadt Frankfurt/Main sowie die Präsidenten des Amts- und des Landgerichts Frankfurt/Main auf die menschen- und verfassungsrechtlichen Vorgaben bei Freiheitsentziehungen in Zusammenhang mit den bevorstehenden Protestveranstaltungen hingewiesen.

"Wir erwarten von den Verantwortlichen bei Polizei und Justiz dafür Sorge zu tragen, dass das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit respektiert wird und rechtswidrige Ingewahrsamnahmen unterbleiben", erklärt Carsten Gericke, Geschäftsführer des RAV.

In der Vergangenheit ist es bei vergleichbaren demonstrativen Großereignissen immer wieder zu einer Vielzahl rechtswidriger Freiheitsentziehungen gekommen. So wurden im Rahmen des G8-Gipfels in Heiligendamm mehr als 1100 Personen festgenommen und zu großem Teil in Käfigen eingepfercht. Das Landgericht Schwerin und das Verwaltungsgericht Rostock stellten in einer Vielzahl von Verfahren nachträglich die Rechtswidrigkeit der Freiheitsentziehungen und der Haftbedingungen fest. Auch während der Castor-Transporte 2010 und 2011 wurden über 1000 Personen die ganze Nacht bei Minustemperaturen in einem Polizeikessel gefangen gehalten.

In den allermeisten Fällen wurde effektiver Rechtsschutz vereitelt, indem Anwaltskontakte verhindert und die verfassungsrechtlich vorgeschriebene unverzügliche Richterentscheidung entweder gar nicht oder nicht rechtzeitig eingeholt wurden.

Zuletzt entschied das Landgericht Rostock (Az.: 3 T 13/10, Beschluss vom 19.4.2012, veröffentlicht unter www.polizeirecht.rav.de), dass der vorbeugende Präventivgewahrsam des mecklenburg-vorpommerischen Polizeigesetzes (§ 55 Abs. Abs. 1 Ziff. 1b SOG M-V) gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verstößt. Diese verbiete einen präventiven Gewahrsam zur Verhinderung von Straftaten. Zur Begründung stützt sich das Gericht ausdrücklich auf die (ebenfalls zum G8-Gipfel ergangene) Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in der Rechtssache Schwabe und M.G. ./. Deutschland vom 1.12.2011 (Az.: 8080/08 und 8577/08). Bezogen auf die Rechtslage in Hessen bedeutet dies, dass auch die entsprechende Regelung des hessischen Polizeigesetzes (§ 32 Abs. 1 Nr. 2 HSOG) konventionswidrig ist und keine Anwendung finden darf.


Der RAV ist ein bundesweiter Zusammenschluss von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten. Seit seiner Gründung im Jahr 1979 tritt der RAV für das Ziel ein, Bürger- und Menschenrechte gegenüber staatlichen, wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Machtansprüchen zu verteidigen und auf eine fortschrittliche Entwicklung des Rechts hinzuwirken. Besonderes Augenmerk gilt dabei dem Kampf um die freie Advokatur, denn die Freiheit von staatlicher Bevormundung stellt für die anwaltliche Tätigkeit eine notwendige Bedingung dar, um diese Aufgabe wahrnehmen zu können.

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RAV * Geschäftsstelle * Greifswalder Straße 4 * 10405 Berlin

Polizeipräsidium Frankfurt am Main
Herrn Polizeipräsidenten
Dr. Achim Thiel
Adickesallee 70
60322‍ ‍Frankfurt/Main

Vorab per Fax. 069/755-80808

Blockupy-Proteste: präventiver Polizeigewahrsam ist rechtswidrig

Sehr geehrter Herr Polizeipräsident Dr. Thiel,

der RAV ist besorgt angesichts der bisherigen Reaktionen der Versammlungsbehörde von Frankfurt/Main und der Hessischen Polizei auf die angekündigten Proteste des Blockupy-Bündnisses.

Das umfassende Verbot sämtlicher Versammlungen übersteigt nach unserer Auffassung noch das Ausmaß der Einschränkungen der Versammlungsfreiheit, die in Zusammenhang mit den Protesten gegen den G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm zu verzeichnen waren. Vor diesem Hintergrund befürchten wir, dass es - wie im Übrigen auch bei anderen vergleichbaren Großveranstaltungen (z.B. anlässlich der Castor-Transporte ins Wendland) - zu einer Vielzahl von (rechtswidrigen) Ingewahrsamnahmen kommen könnte, wenn die Menschen- und verfassungsrechtlichen Vorgaben in der Praxis nicht hinreichend Beachtung finden.

Der RAV weist daher im Vorwege ausdrücklich darauf hin, dass nach der aktuellen und bindenden Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) ein reiner Präventivgewahrsam außerhalb eines Strafverfahrens konventionswidrig und damit rechtswidrig ist.

In Art. 5 Abs. 1 der EMRK heißt es:

"Die Freiheit darf einem Menschen nur in den folgenden Fällen und nur auf dem gesetzlich vorgeschriebenen Wege entzogen werden:
[...]
c) wenn er rechtmäßig festgenommen worden ist oder in Haft gehalten wird zum Zwecke seiner Vorführung vor die zuständige Gerichtsbehörde, sofern hinreichender Verdacht dafür besteht, dass der Betreffende eine strafbare Handlung begangen hat, oder begründeter Anlass zu der Annahme besteht, dass es notwendig ist, den Betreffenden an der Begehung einer strafbaren Handlung oder an der Flucht nach Begehung einer solchen zu hindern;"

Art 5 Abs. 3 lautet:

"Jede Person, die nach Absatz 1 Buchstabe c von Festnahme oder Freiheitsentzug betroffen ist, muss unverzüglich einem Richter oder einer anderen gesetzlich zur Wahrnehmung richterlicher Aufgaben ermächtigten Person vorgeführt werden; sie hat Anspruch auf ein Urteil innerhalb angemessener Frist oder auf Entlassung während des Verfahrens."

Nach der Rechtsprechung. des EGMR bedeutet die Zusammenschau beider Vorschriften, dass eine Freiheitsentziehung zur Verhinderung einer Straftat nur dann rechtmäßig ist, wenn eine Vorführung vor den Strafrichter beabsichtigt ist.(1) Das bedeutet, dass jede Freiheitsentziehung konventionswidrig ist, die weder eine Untersuchungshaft ist noch der Sicherung der Durchführung eines Strafverfahrens dient.(2) Ein Präventivgewahrsam außerhalb eines Strafverfahrens, wie er in § 32 Abs. 1 Nr. 2 HSOG vorgesehen ist, ist daher unzulässig.

Das Einsperren von Menschen zur (vermeintlichen) Verhinderung von Gefahren stellt somit eine Freiheitsberaubung im Amt dar.

Des Weiteren muss nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Umsetzung des Richtervorbehalts bei Freiheitsentziehungen gewährleistet werden, dass der zuständige Richter jederzeit erreichbar ist und ihm eine sachangemessene Wahrnehmung seiner richterlichen Aufgaben ermöglicht wird. Tagsüber ist die Erreichbarkeit des zuständigen Richters stets zu gewährleisten, nachts, wenn hierfür ein praktischer Bedarf besteht.(3) Ist das zuständige Gericht nicht erreichbar, ist die Freiheitsentziehung unzulässig und mithin rechtswidrig.(4)

Personen, die in Gewahrsam genommen worden sind, sind unverzüglich dem zuständigen Gericht vorzuführen. Für das gerichtliche Verfahren bedeutet dies u.a., dass das Gericht, nachdem es von der Freiheitsentziehung einer Person Kenntnis erlangt hat, nicht zunächst abwarten darf, bis die Polizei eine Akte an- und vorlegt, um tätig zu werden. Im Normalfall sollte die Herbeiführung einer gerichtlichen Entscheidung über die Freiheitsentziehung innerhalb von 2 Stunden möglich sein. Auch bei Ingewahrsamnahme von größeren Gruppen darf der Zeitraum zwischen Festnahme und Vorführung maximal 5 Stunden nicht überschreiten.(5)

Schließlich haben die von Freiheitsentzug betroffenen Personen das Recht, unverzüglich eine Person ihres Vertrauens zu benachrichtigen. Dies ergibt sich schon aus § 34 Abs. 2 HSOG. Darüber hinaus hat jede von Freiheitsentzug betroffene Person das Recht, sich in jeder Lage des Verfahrens, also bereits bei der Festnahme, anwaltlichen Beistandes zu bedienen.(6)

Eine Beschränkung des Zugangs von Gefangenen zum anwaltlichen Notdienst, sowie eine Beschränkung des Zugangs von Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten zum Gericht sind daher nicht zulässig. Ebenso unzulässig ist es, Gefangenen zu verwehren, ihre Mobilfunktelefone zu benutzen, um Angehörige nach der Festnahme über den Freiheitsentzug zu informieren.

Der RAV unterstützt den anwaltlichen Notdienst, der für die Protesttage eingerichtet sein wird, in der Erwartung, dass Polizei und Justiz die Bindung an Recht und Gesetz beachten und rechtswidrige Freiheitsentziehungen ausbleiben werden.

Der RAV erlaubt sich, diesen Brief der Öffentlichkeit zur Kenntnis zu geben.

Außerdem richten wir dieses Schreiben an den Präsidenten des Landgerichts Frankfurt/M., Herrn Johannes Nikolaus Scheuer, sowie an den Präsidenten des Amtsgericht Frankfurt/M., Herrn Hermann Josef Schmidt.

Vorstand des RAV im Mai 2012

i.V. Carsten Gericke, Rechtsanwalt
- RAV-Geschäftsführer -


(1) EGMR, Urteil vom 22.02.1989, Az. 11152/84, Ciulla / Italy, Abs. 38; Urteil vom 31.07.2000, Az. 34578/97, Jecius ./. Lithuania; Urteil vom 01.12.2011, Az. 8080/08 + 8577/08, Schwabe und M.G. ./. Germany.

(2)‍ ‍Vgl. zu § 55 Abs. Abs. 1 Ziff. 1b SOG M-V ausdrücklich LG Rostock Beschluss vom 19.04.2012, Az. 3 T 13/10, veröffentlicht unter: www.polizeirecht.rav.de.

(3)‍ ‍BVerfG, Beschluss v. 13.12.2005 - 2 BvR 447/05.

(4)‍ ‍BVerfG; Beschluss v. 15.05.2002 - 2 BvR 2292/00.

(5)‍ ‍LG Lüneburg, Beschluss v. 30.05.2006, Az. 10 T 46/05.

(6)‍ ‍vgl. BVerfG, NJW 1975, 103 und BVerfG, NStZ 2000, 434 f.

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Quelle:
Pressemitteilung vom 15. Mai 2012
Republikanischer Anwältinnen- und Anwälteverein e. V.
Haus der Demokratie und Menschenrechte
Greifswalder Straße 4 | 10405 Berlin
Telefon +49 (0)30 417 235 55 | Fax +49 (0)30 417 235 57
E-Mail: kontakt@rav.de
Internet: www.rav.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Mai 2012